Recke, Elisa von der - Das Reich Gottes.

Recke, Elisa von der - Das Reich Gottes.

Eine Betrachtung an einem schönen sternhellen Abend.

Der Tag ist untergegangen; ein Geist des Friedens hat das Leben zur Ruhe gebracht und sanft zugedeckt mit dem Schatten der kühlen, erquickenden Nacht. Eine tiefe Stille herrscht durch die ganze Natur; vollbracht sind die Werke des Tages; vollbracht wird einmal alles, was Menschen wirken und tun, bis zu neuem Beginnen sie aufruft die Stimme des Herrn. Ich trete hinaus in den stillen Raum der sternenhellen Nacht; dort oben leuchten selige Hoffnungen des Lebens herab in die Dunkelheit, die mich umgibt; aber auch durch diese Finsternis wandelt geheim und wirksam der Geist der Lebendigkeit; sein Odem weht gleichsam mich an in der Luft, die da herüber kommt aus dem Sommergebüsch, und ein Schauer des höheren Entzückens durchzittert mein irdisches Wesen, als hätte eine fremde und doch mir befreundete Natur mich berührt, um mich an mein künftiges Sein zu erinnern.

Was ist die Dunkelheit um mich?

Nicht des Todes Ebenbild ist die Nacht, sie ist eine reiche Mutter des Lichts, die stille, verhüllte Mutter des Lebens. Untergang und Aufgang; Sein und Wiedersein! Zwischen beiden ist Nacht, ist der dunkle Knoten, der beide verknüpft. Aber mein Geist strebt nach oben! Welche Gottesverkündigungen sprechen die Myriaden von Sonnen und Welten zu mir herab! Welch ein unermessliches Gebiet des Strebens und der Erkenntnis öffnet sich dort meinem Geist! Wer bin ich, dass ich solche Herrlichkeit und Größe zu erfassen vermag; dass das Unerfassliche so nahe mir tritt, und mich emporhebt zu sich?

Über die engen körperlichen Schranken streckt sich unaufhaltsam mein Geist so weit in die Unendlichkeit aus, und die Scharen der Welten, welche ihres und meines Gottes Majestät verherrlichen, ziehen glorreich an ihm vorüber, und meine ganze Seele ist begeistert von dem Gefühl, eine Mitgenossin jener Unendlichkeit zu sein.

Wer bin ich, dass solches Heil mir zu Teil ward?

Meine Betrachtung kehrt zur Erde zurück. Wie klein, wie niedrig erscheint mir dieser Standpunkt, an den mein irdisches Dasein geknüpft ist! Wie entstellt durch der Menschen Schuld zeigt sie sich dem Blick, der von der Reinheit jenes ewigen Himmels zu ihr zurückkehrt. Diese Erde, die unleugbar bestimmt ist, der Vorhof eines größeren Paradieses zu sein, hat Stellen aufzuweisen, welche Schauplätze des Elends sind, das von Menschen herrührt. Das Band der Menschenliebe, welches uns alle umschlingen sollte, ist zerrissen. Ich sehe nicht mehr das einige Menschengeschlecht; ich sehe einzelne Haufen menschlicher Wesen, die sich unfreundlich sondern, die sich einander anfeinden, hassen, verfolgen. Es waltet ein Vater im Himmel, der mit einerlei Sonnenstrahlen seine Kinder segnend umfasst, und mit einerlei Schatten der Nachtruhe, wie mit Flügeln der Liebe, sie alle bedeckt. Aber dennoch vermögen solche Vereinigungsbande nicht zu vereinigen die Kinder eines Vaters, die Brüder eines Geschlechtes. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!“ spricht Christus. Dies einfache, tiefe, inhaltsreiche Wort, wie bedeutsam redet es an die Herzen der Menschen, um friedlich sie zu vereinigen zu einer Hausgenossenschaft des ewigen Vaters! In verschiedenen Formen und Wendungen wiederholt jener große Menschenfreund seine Aufforderungen zur Eintracht und seine Andeutungen zu einem allgemeinen Reiche Gottes. „Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel,“ sagt er, „der wird in das Himmelreich kommen.“ Auf welchem Weg dieser Wille geschieht, derselbe Weg führt zu Gott! Aber weil Einige meinen, dass dieser, Andere, dass jener Weg nur zu dem Vater der Liebe führe: so entzweien sich die Menschen, wegen Verschiedenheit ihrer Meinung, und reizen sich gegenseitig auf zu Hass und Verfolgung. Wohin der Blick sich wendet, da begegnen ihm Spuren der Zwietracht, Entweihungen dieser Erde, die ein Tempel Gottes sein sollte. Mich ergreift eine schmerzliche Wehmut; mein Geist strebt nach oben! aber was heißt Oben? wo ist es? Wo Gott ist! Gottes Nähe ist die Höhe, zu der empor die schmachtende Seele sich sehnet. Auch hier, auf diesem Punkt in der Schöpfung umgibt seine Allgegenwart mich! Ein tiefes heiliges Gefühl kündigt seine Nähe mir an, durchdringt und kräftigt mein zagendes Herz und fordert mich auf, seiner Nähe würdig zu sein, mein Gemüt rein zu erhalten und Gutes zu wirken, so lange mein Tag währt, bis mich zu frischer Tätigkeit aufruft ein neuer Sonnenaufgang, der jenseits des Grabes mir leuchten wird. So lange mein Tag währt, will ich trachten und streben nach dem Reiche Gottes, wo die höhere Natur des Menschen in unbefleckter Würde erscheint; wo heller und lebendiger die Tugendfertigkeiten sich in uns entfalten. Das Reich Gottes ist inwendig in uns; aber es soll liebend und tätig anderen Seelen sich mitteilen, die neben uns den Pilgergang des Lebens zu dem Ziele der höheren Vollkommenheit wandern. So lange mein Tag währt, sei es denn mein heiliger Beruf, das Reich Gottes, nach der mir verliehenen Kraft ausbreiten zu helfen in dem mir zugewiesenen kleinen Raum dieser Erde. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt, aber dennoch ist es für diese Welt; denn auch sie gehört zu dem Inbegriff, von welchem Christus sagt: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!“ „Dein Reich komme!“ lehrt der erhabene Stifter unseres Glaubens uns beten. Klarheit und Licht geht aus dem Leben und aus der Lehre jenes erhabenen Vorbildes aller menschlichen Tugend hervor: und darum besteht das Reich Gottes, welches er verkündete, nicht in einer dumpfen, frömmelnden Leichtgläubigkeit, die den Aberglauben fördert, sondern es besteht in dem hohen, klaren, lebendigen Glauben, der zu frommer Gottgefälligkeit auffordert und die Seele begeistert zu Werken der Liebe, der wohltätigen, helfenden, aufrichtenden, verzeihenden Liebe, die keine Ausschließung kennt. Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Langmut, Mäßigkeit, Geduld, Demut und Freudigkeit zu allem Guten: diese Tugendfertigkeiten sind die Zeichen der höheren Natur in dem Menschen; an ihnen erkennen wir das Reich Gottes. Welche Mühen, welche Selbstüberwindungen und Kämpfe diese Tugendfertigkeiten uns auch kosten mögen: sie begründen in uns das selige Bewusstsein, welches allein uns hinüber begleitet zu der neuen Wohnung in dem Reich des Vaters. Tugendfertigkeiten sind Tugendseligkeiten! O, wer es einmal recht tief und rein empfunden hat, mit welchem Segen das Gefühl etwas Gutes mit Anstrengung und Selbstüberwindung vollbracht zu haben, die Seele erfüllt: der lässt den Himmel nicht wieder fahren, der eingezogen ist in sein Herz. Wenn unser Tagewerk getan ist, dann bleibt hinter uns alles zurück, was irdisch, was zufällig ist. Niederlegt, am Ausgange des Lebens, der Fürst seine Krone, der Reiche seine Schätze, der Mann der Ehre seinen weltlichen Glanz; nur jenes selige Bewusstsein verlässt den einsamen Auswanderer nicht, und geht mit ihm durch die Nacht, die zwischen Sein und Wiedersein liegt.

Wage es denn, du zagende Seele, nach dem Erwerb dieses Himmels, nach diesem Bewusstsein zu streben! Sei wacker und bete: Vater im Himmel, zu uns komme Dein Reich! Es kommt aber nur, wenn wir ihm entgegen kommen. Richte dich auf mein Geist, trotz den Widerwärtigkeiten des irdischen Daseins; trotz den Leiden, die den Körper darnieder drücken; du weißt, dass auch diese dahinten bleiben! Erhebe dich, und fühle die hohe Würde, den erhabenen Beruf, ein Mitgenosse im Reiche Gottes zu sein!

O Heiliger Vater des Lichtes und des Lebens! sende zu mir Deine kräftigende Gnade herab, und erleuchte mit Deinem Geiste meine Vernunft, dass sie nicht verfehle den Weg, auf dem zu uns Dein Reich komme!

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