von der Recke, Elisa - Betrachtungen über Leben und Tod, zur Besiegung der Todesfurcht.

von der Recke, Elisa - Betrachtungen über Leben und Tod, zur Besiegung der Todesfurcht.

Das Leben führt zum Tod, der Tod führt zum Leben: so heißt das Gesetz, welches durch die unendliche Wesenreihe der Schöpfung waltet. Jedes Dasein geht eine Stufenfolge von Zuständen durch, von denen der eine immer die Vorbereitungsstufe des andern ist. So verhält es sich in der sichtbaren Außenwelt, die uns umgibt, so in der unsichtbaren, die unser innerstes Wesen ausmacht, das ist: im Reiche der Sitten. - Der Mensch durchwandert mehrere Stufen des Alters; auf jeder dieser Stufen wird es in verschiedener Rücksicht anders mit ihm; ob er gleich im Grunde in seinem Bewusstsein, unter Begleitung der Erinnerung und der Hoffnung, immer derselbe bleibt. So geht es, bis er an ein Ziel gelangt, wo eine größere Verwandlung, ein Lebensabschnitt von höherer Bedeutung, ihm bevorsteht: es ist das Ziel, welches die irdische Laufbahn beschließt - der Tod. Daher ist es Pflicht, unsere Ansichten über diese letzte, wichtige Verwandlung unseres irdischen Seins zu berichtigen.

Der Tod kann nichts Furchtbares für Den haben, der ihn als den Führer in ein neues Leben betrachtet; und dies neue Leben da keine neue Erschaffung mit uns vorgeht kann nichts andres sein, als eine Fortsetzung des Lebens, welches wir diesseits des Grabes geführt haben; eine Fortsetzung, die mit erhöhten und geübteren Kräften ihre Fortschritte, und mit helleren, geschärfteren Blicken ihre Ansichten und Betrachtungen beginnt: alles dieses aber nur nach dem Maß der Gewöhnungen und Fertigkeiten, welche die Seele in dem irdischen Dasein erwarb; Gewöhnungen in der Fähigkeit, würdig zu genießen, Fähigkeiten in der Kraft, würdig zu handeln; beides nämlich, wie es das Gesetz in unserem Busen, das Gewissen, - uns vorschreibt. Welch ein mächtiger Antrieb, nach Vervollkommnung zu streben, liegt in diesem Gedanken, welche Aufforderung lässt er an uns ergehen, mehr und mehr unsere Schwächen abzulegen, die uns zur Trägheit im Guten hinabziehen, immer mehr uns loszumachen von den Fehlern, die unserer Veredelung, unserem Besserwerden Abbruch tun, und uns immer freier zu ringen von der Macht und Herrschaft des Irdischen, in so fern es in uns unedle Leidenschaften erweckt, und uns dem höheren, reineren Dasein abwendig macht!

Der Tod kann nichts Furchtbares für den haben, der dies Leben als eine Vorschule betrachtet, die ihn vorbereitet und weiht zu den Pflichten einer neuen, höheren Tätigkeit, und die ihn würdig macht zu den Genüssen einer reineren und dauerhafteren Glückseligkeit.

Aber welcher Geist der Weisheit und der Lehre waltet in dieser Vorschule unserer Vollendung? Jesus Christus, dieser göttliche Lehrer und Führer, von dem himmlischen Vater zu uns herabgesandt, dass er uns einführe zu den Tiefen der Weisheit; dass er uns aufschließe das Reich des ewigen Lebens, wo heiliger und herrschender die Gerechtigkeit ist, die vor Gott gilt; Jesus Christus, dieser erhabene Menschenfreund, dieser Erlöser von Irrtum und Wahn ist es, der in diesen Vorhallen des zukünftigen Lebens uns seinen Geist mitteilt, indem er uns seine seligmachenden Lehren verkündigt; er ist es, der uns den Willen seines und unseres himmlischen Vaters, diesen Willen, der uns schon in das Herz geschrieben ist, in helleren Offenbarungen kund macht. Doch nicht nur in seinen Lehren spricht er zu uns, auch sein Vorbild hat er uns aufgestellt, ein leuchtendes Vorbild im Leiden und im Handeln, im Leben und im Sterben.

Der Aberglaube des Heidentums und des entarteten Judentums, beide hatten die tiefste Finsternis des Wahnes und der Unwissenheit in göttlichen Dingen über die Welt hin verbreitet. In dem Gebiet der Sitten herrschte die schnödeste, ungebundenste Selbstsucht, die an nichts Höheres glaubt, an keine andre Glückseligkeit, als die sie mit den Sinnen zu erreichen und zu erfassen vermag. Der Glaube, der in der Liebe tätig ist, war von der Erde verschwunden. Die unwürdigsten Vorstellungen von einem höchsten Wesen beförderten das Unrecht und das Verbrechen. Man beging die Missetat; und Blutversöhnungen durch Opfer - der vermeintlich zürnenden Gottheit dargebracht - mussten die Stelle der Buße und der Lebensbesserung vertreten. So lastete auf der armen Menschheit Verderben und Elend. Einzelne tugendhafte Männer drangen mit ihrer Weisheit, mit ihren Rettungsversuchen nicht durch; ein verkehrtes, verderbtes Priestertum nahm die Täuschung, welche den Pflegern desselben Vorteile gewährte, in Schutz, und jene edlen Männer wurden - obwohl nicht ganz fruchtlose Opfer ihres würdigen Strebens, indem solches wenigstens Aufregungen eines höheren Bedürfnisses zur Folge hatte: sie waren, wie Johannes, die Vorläufer eines Heilandes der Welt. Da endlich, als nun die Zeit der Vorbereitung erfüllt war, erschien Christus! Ausgerüstet mit der Kraft Gottes, mit einer unendlichen Liebe zu dem menschlichen Geschlecht, trat er auf, und predigte und übte das Recht, welches vor Gott gilt, die tiefere Gerechtigkeit, die den innersten Menschen ergreift und umfasst, Er predigte und übte den Glauben, der durch die Liebe tätig ist. „Liebe Gott über alles, und deinen Nebenmenschen, wie dich selbst;“ so lehrt, so gebietet uns sein heiliges Wort; das ist die Liebe, die dem Freunde treu ist, dem Feinde vergibt, und ihm wohltut, wo sie es vermag; immer bereit zur Versöhnung. „Ehe du deine Gabe auf dem Altare opferst,“ spricht unser Heiland, - „gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder!“ Diese heilige Lehre wiederholt er in den Worten: „Vergebt, so wird euch vergeben; mit dem Maß, wie ihr messet, wird euch wieder gemessen werden.“

Immer dringt unser göttlicher Meister auf allgemeine Menschenliebe, auf unbedingtes Wohlwollen, auf Versöhnlichkeit, auf Milde und Nachsicht in der Beurteilung unserer Nebenmenschen. „Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet!“ ruft er denen zu, die mit schneidendem Urteil, mutwilligem Spott, auch wohl gar mit heimlichen, verleumderischen Andeutungen oder offenbaren Angriffen, den guten Ruf ihrer Nebenmenschen verlegen.

Keine Sittenlehre eines früheren Weisen schwingt sich empor bis zu der Erhabenheit des Gebotes, das selbst gegen Feinde Wohlwollen einschärft und Liebe: denn wer aufhört unser Freund zu sein, hört darum nicht auf, unser Bruder zu sein Christo. „Liebt,“ spricht der göttliche Lehrer „liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen!“. Eine schwere Aufgabe; aber - wie löst Der sie, der sie gab! - Hier leuchtet am hellsten sein Beispiel uns vor! Mitten unter Todesqualen, die seine Verfolger über ihn brachten, betet er: „Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!“

Unser Heiland macht ausdrücklich die Menschenliebe zur Bedingung der Liebe zu Gott. „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, - spricht er, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“ Und Denen, die Gott lieben, muss Alles zum Besten dienen: so redet zu uns ein heiliges Wort, welches im Namen unseres Heilandes und in seinem Geiste zu uns spricht.

Ja, schon hienieden, in allen Widerwärtigkeiten, Verkettungen und Verworrenheiten der irdischen Verhältnisse, die mit mehr oder minder rauen Berührungen uns anfechten, findet die fromme Seele in der Liebe zu Gott eine sanfte Ruhestätte des Friedens; denn die Liebe zu Gott und das Vertrauen zu ihm sind Eins; und in so fern müssen uns alle Dinge zum Besten dienen.

Die Liebe zu Gott, zu diesem ihrem himmlischen Vater, kann nicht anders glauben, als dass Alles, was der kurzsichtige, beschränkte Mensch die Schicksale und Zufälligkeiten des wandelbaren Lebens nennt, auf Gottes Geheiß, durch eine höhere, väterliche Veranstaltung, ihm begegne. Auch Unerfreuliches, selbst die bittersten Leiden, wird die Liebe zu Gott mit Ergebung in den Willen des himmlischen Vaters annehmen, in der festen Überzeugung, dass die schmerzvollsten Stunden körperlicher Leiden und geistiger Anfechtungen mit zu den Mitteln gehören, welche bestimmt sind, uns abzulenken von allem irdischen, vergänglichen Wesen, und empor zu heben das Gemüt zu den himmlischen, unvergänglichen Gütern, über welche die Zufälligkeiten und Störungen des Erdenlebens nichts vermögen. Und so beten wir dann mit unserem heiligen Lehrer und hocherhabenen Vorbild, wenn Tage der Trübsale über uns kommen: „Vater! ist es möglich, so nimm diesen Kelch von mir, aber nicht mein Wille, der Deinige geschehe!“ Eine solche Ergebung, ein solches Leben in Gott sollen wir in dieser Welt, in dieser Vorschule unserer Vollendung erwerben; und nur so gelangen wir zu einer heitern und erhebenden Ansicht des Jenseits, zu der innigeren Seelenruhe, zu dem Frieden Gottes, der höher ist, denn alle Vernunft.

Die Vernunft, dieses heilige Geschenk des himmlischen Vaters, erkennt schon ihrer Natur nach, was gut und recht ist; die ganze Schöpfung, die vor ihr sich aufschließt, ist ihr eine Verkünderin Gottes, und in den flüchtigen Erscheinungen der sie umgebenden, sichtbaren Welt schöpfe die forschende Vernunft die beseligende Überzeugung, dass der Schöpfer nichts untergehen lässt, was er in das Dasein gerufen. Die Materie wechselt die Form, die Gestalt geht über zu einer neuen Gestaltung; aber sie verschwindet nicht aus dem Dasein. Bei dieser Wahrnehmung, die der Vernunft selbst bei dem welkenden Grashalme begegnet, regt sich in ihr die Ahnung der fortschreitenden Dauer jedes geistigen Daseins: und dies um so mehr, da das Irdische nur die Grundlage des Geistigen ist. Dieser beseligenden Hoffnung kommt der volle, lebendige Glaube entgegen, den die erleuchtenden Lehren unsers Herrn und Meisters uns darbieten. Immer und überall in seinen Worten und Taten werden wir Beziehungen gewahr, welche hindeuten auf ein ewiges Reich Gottes, zu dem wir berufen sind, und welches schon hienieden beginnt.

Der Tod kann nichts Furchtbares für Den haben, der hier in dieser Vorschule der Vollendung, mit heiligem Ernste, mit redlichem Willen sich bemüht, den Forderungen und Lehren unseres Heilandes zu genügen, und seinem Vorbild nachzustreben. Aber nicht dünkelhaft, selbstgefällig darf uns das redlichste Streben, selbst das Gelingen nicht machen, dessen wir uns zuweilen in den würdigsten, segenvollsten Momenten des Lebens bewusst sind. „Wenn ihr Alles getan habt,“ sagt Christus, „so sprecht: - wir sind unnütze Knechte.“ So lehrt unser Meister; aber so handelte er auch. Demjenigen, der ihn guter Meister nannte, antwortete er: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott!“

Demut ist eine der christlichen Haupttugenden; sie ist der Schmuck jedes Gelingens unseres besseren Willens, die Krone jedes Verdienstes. Die Demut gebiert die Sanftmut gegen den Nebenmenschen, indem sie uns aufmerksam erhält auf den Balken in unserem Auge, wenn wir den Splitter im Auge des Nächsten erblicken, Welch ein aufmunterndes Beispiel gibt uns Christus in der Tugend der Sanftmut! wie mild und schonend nimmt er sich der Irrenden, der Zöllner und Sünder an! wie freundlich belohnt er den Glauben der Samariterin durch die Hilfe, die sie begehrt!

Der Tod kann nichts Furchtbares für Den haben, der treulich den Fußstapfen unsers göttlichen Meisters nachfolgt, und sein würdiger Schüler ist in dieser Vorschule, die uns fähig machen soll, für die Seligkeiten und für die Forderungen eines höheren Daseins, dem wir mit jedem Schritt uns nähern. Selbst die Andeutungen unserer irdischen Auflösung, die Krankheiten, gewinnen eine minder furchtbare Gestalt, wenn wir sie als letzte Bedingung des sinnlichen Daseins betrachten, als die Abendwolke des scheidenden Erdentages, die zugleich die Morgenwolke des Lichtaufganges einer helleren Sonnenwelt ist.

So kann denn der Tod nichts Furchtbares für Den haben, der ihn als einen Beförderer zu den Stufen eines vollendeteren Lebens betrachtet. Und wie schnell geht der letzte Augenblick vorüber! Das Annähern, des Todes ist zugleich sein Verschwinden; der Tod ist das Ende unserer Pilgrimschaft, der letzte Schritt zu der neuen Heimat.

Aber Freunde, geliebte Menschen stehen um unser Lager und weinen! die Abschiedsstunde beklemmt ihre Brust! Doch in diese dunkle Stunde fällt ein Strahl der Herrlichkeit jenes Lebens hinein, dem auch sie, unsere Geliebten, zueilen. Hier ist ein zeitliches Trennen, dem ein ewiges Beisammensein mit verklärten, befreundeten Seelen sich anschließt. Christus, der auch hier unser Lehrer und Vorbild ist, blickte in der letzten Stunde seines segenvollen Lebens auf seine Lieben, und rief ihnen Worte des Trostes und der Liebe zu; dann richtete er sein Gemüt zu seinem himmlischen Vater empor und betete: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“

Ja, du Heiliger Gottes, dein großes Leben und dein erhabenes Sterben verbürgt mir ein unsterblich Leben! Und wenn ich mit deinem Beispiel im Herzen den engen Raum meiner Wallfahrt im Staub überblicke, so sehe ich eine beschränkte Zeit, aus der die Ewigkeit hervorgeht. Wie wichtig ist diese Zeit, wie würdig der heiligsten Pflege! Ich bin, und werde sein!

Sein werd' ich, weil ich bin! - Triumphgesang erschalle!
Erschalle tief in die Unendlichkeit hinein!
Dass aus der Tiefe laut dein Jubel wiederhalle:
Triumph! ich bin, und darum werd' ich sein!

Unsterblichkeit! auf hehern Schwingen
Erflieget der Geist dein lichteres Reich!
Und hinter ihm, wo die Gestalten ringen,
Verrauschet der Sturm am dürren Gesträuch.

Ihr, vom Naturgesetz gehalten,
Ihr Sonnen, durchstrahlt den ewigen Raum;
Mein Geist fliegt auf von den Naturgewalten,
Und leuchtender strahlt sein glänzender Traum.

Es ist von ihm hinweg gesunken
Der irdische Druck; - das Göttliche nur,
Den linden Strahl, den reinen Ätherfunken
Entwinket ein Gott dem Schoß der Natur!

Urania.

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