von der Recke, Elisa - Betrachtung am Geburtstage.

von der Recke, Elisa - Betrachtung am Geburtstage.

Durch Dein allmächtig „Werde“
Erblickt' ich diesen Tag,
In dem, für diese Erde,
Mein ganzes Schicksal lag.
Das Heil, das ich genossen,
Den Schmerz, der mich durchdrang,
Hast Du, Herr! ausgegossen
Auf meinen Lebensgang.

Mit dem heutigen Tage betrete ich eine neue Stufe, die mich der letzten Höhe meines irdischen Daseins näher bringt. Ernst und dringend tritt vor meine Seele die Frage: welche Stufe Deiner inneren Vollendung hast Du erstiegen? Hat Dein geistiges Weiterkommen gleichen Schritt gehalten mit dem Fortschritt Deiner Tage? Ach! diese Frage beklemmt mein Gemüt! An äußeren und inneren Anregungen, mutig fortzuschreiten auf dem Weg zum Heil, hat es mir die ewige Barmherzigkeit nicht fehlen lassen. Trübe und heitere Tage waren Sendungen Gottes an mein Herz, um dasselbe hier freundlich und sanft, dort ernst und scharf aufmerksam zu machen auf die Vaterhuld, aus welcher mir diese, wie jene zuflossen. Seit der Stunde meiner Geburt hat diese Vaterhuld über meinem Leben gewaltet. Selbst die rauen Frühlingstage meiner Kindheit müssten mir dazu dienen, die Kräfte des Geistes und Gemütes in mir zu wecken, und in der Folgezeit zu kräftigen und zu stärken. Früh führte der Herr und Lenker meiner Lebenstage edle Freunde mir zu, die meine Vorstellungen von Recht und Unrecht durch Lehre und Beispiel berichtigten oder erhoben. Einladende Vorbilder der Tugend begegneten mir, um mich zur Nacheiferung zu begeistern; ich sah in ihrem heiligen Frieden die stille Seele ruhen, die unbelohnt und selbst verkannt, beharrlich den sinnlichen Neigungen widerstand, und die schwersten Pflichten ausübte. Dann aber traten Erscheinungen des Unrechtes mir in den Weg: da sah ich nun, wie dieses, selbst unter den süßen Liebkosungen des sogenannten Glückes, der Glückseligkeit ermangelte, welche das Anteil einer edlen Handlungsweise und würdiger Bestrebungen ist. Ich sah die dünkelhafte Selbstsucht im Wahn ihrer Sicherheit dem Falle zueilen; ich sah ihren Fall, und hörte ihre Wehklagen. Dann aber sah ich auch die Unschuld, die bescheidene Tugend im Schleier der Demut neben dem Geräusch der Hoffart still ihren Weg gehen. So erschienen warnend und mahnend in meinem Lebenskreise Beispiele des Unrechts und Vorbilder der Tugend.

Wie habe ich in dieser Schule der Erfahrung bestanden? was habe ich aus ihr mit hinüber genommen in mein handelndes, wirkendes Leben? „Wer da steht, sehe zu, dass er nicht falle“ - dieser inhaltsvolle Ausspruch unseres Heilandes, wie ein dringend weist er uns hin zur Selbstbeobachtung, Selbstüberwindung, Selbstbeherrschung. In diesen drei Worten liegt die heiligste Aufgabe unseres ganzen Lebens; an die Lösung dieser Aufgabe ist unser zeitliches und ewiges Heil unverbrüchlich geknüpft. Jenes erste ist die Vorfrucht des Letzteren. Wie habe ich mit dieser Aufgabe gewaltet? Welch Zeugnis trägt mir die Erinnerung der Vergangenheit nach? und habe ich in dieser erkannt und benutzt die zurechtweisende Lehrerin meines sittlichen Wandels? Am Eingang des heute zurückgelegten Zeitabschnittes legte ich dies Gelübde mir auf:

Auf den Vergangenheiten
Soll oft mein Blick noch ruhn;
Sie mögen mich begleiten,
und lehren Recht zu tun;
Dass ich zu Deinem Preise,
Dir, Gott! und mir getreu,
Dem, mir verlieh'nen, Kreise
Ein gutes Schicksal sei.

Wie besteht heute mein Leben vor diesem Gelübde? Wie besteht es vor den Lehren und Vorschriften, die uns der göttliche Heiland des Menschengeschlechtes als ein heiliges Vermächtnis, als den Schlüssel zum Himmelreich zurück gelassen hat? „Liebe Gott über alles, und liebe deinen Nebenmenschen wie dich selbst.“ Dies Gebot des allgemeinen Wohlwollens, der unbedingtesten Menschenliebe, wie hat es sich in meinem Wirkungskreis offenbart? habe ich dasselbe lebendig anerkannt in seinem ganzen Umfang, der von unserem Wohlwollen auch diejenigen nicht ausschließt, die uns übel wollen, oder auch unsere offenbaren Feinde sind? Dieses schwerste aller Gebote, in so fern es liebende Gesinnungen für unsere Widersacher von uns fordert, ist, weil es der so leicht aufgeregten Leidenschaft widerstrebt, am meisten der Gefahr ausgesetzt, auch von dem besten Menschen, dem es an gutem Willen nicht fehlt, übertreten zu werden. Wie leicht entfährt uns ein unfreundlicher Blick auf das Wohlsein desjenigen, der uns irgend einmal wehe getan hat! wie schnell steigt in unserem Herzen der heimliche Wunsch auf: möchte das Heil einem Würdigeren zu Teil geworden sein! beide, jener Blick, und dieser kaum heimlich von uns gehörte Wunsch, sind Übertretungen jenes Gesetzes der unbedingtesten Menschenliebe. Christus kannte wohl die Schwere dieses Gebotes: darum knüpfte dieser Heilige, an die Erfüllung desselben, unsere Versöhnung mit Gott; darum lehrte er uns beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ In Beziehung auf eben dieses Gebot, sagt der göttliche Lehrer der Menschen, der schon hier auf unserer Erde den Anfang des Himmelreiches uns anweist: „Selig, sagt er, sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Wie redlich auch mein Wille war, diese Kindschaft vor Gott unbefleckt zu bewahren: so stehe ich doch nicht ohne Beschämung vor dem Richterspruch jenes Gesetzes der Liebe, welches unser ganzes Verhältnis zwischen Gott und den Menschen enthält; ich blicke auf den Kreis, der zunächst mich umgibt und mir heilige Verpflichtungen vorhält. Ach! wie viel Mangelhaftes finde ich noch an der unmittelbaren Wirksamkeit, die von mir ausging, und an dem Beispiel, welches ich gab. Wohl nicht immer begleitete die volle Heiterkeit der Geduld jene, wie dieses! Wohl nicht immer ergriff ich freudig genug die Gelegenheit, Freude um mich her zu verbreiten, wenn körperliche Leiden mich drückten! Wohl nicht immer habe ich dankbar genug mich der günstigen Verhältnisse gefreut, die mich in den Fall setzten, Gutes zu wirken! und selbst die gelungenste Tat meiner Kraft, und die ruhigste Stille, mit der ich etwa mein Leiden ertrug, waren beide ganz rein vor Gott von aller eitlen Selbstgefälligkeit? War mein Tun und Lassen immer begleitet von der heiligen Demut, die aus dem Munde unsres Heilandes spricht: „und wenn ihr alles getan habt; so sprecht: wir sind unnütze Knechte!“

Herr! Herr und mein Gott! mit tiefbewegter Seele blicke ich zu Dir, o Du Herzenskündiger! wer ist rein vor Dir! wer kann wissen, wie oft er fehlt! Verzeihe mir die verborgenen Fehle. Erfülle mich mit der Kraft Deines Geistes, dass ich mehr und mehr mich loswinde von den Mängeln und Fehlern, die mich noch immer empfinden lassen, wie viel mir fehlt an der Gerechtigkeit, die vor Dir gilt. Nie weiche von mir die heilige Demut, diese sichere Führerin auf dem Weg zur inneren Vollendung. Du Herr hast meine Tage bestimmt, ich weiß es nicht, wie fern oder nahe mir der Letzte ist; aber jeder Zeitabschnitt soll mich erinnern:

Die Jahre dieser Pilgerzeit
Sind uns zum Heil gegeben;
Wir sollen hier mit Emsigkeit
Nach höchster Tugend streben;
uns jeder Gabe Gottes freun,
Ihm unser ganzes Leben weihn,
Wie er, die Menschen lieben.

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