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Recke, Elisa von der - Abendgebet.

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Zu Dir, mein Gott und mein Vater - so lehrte Christus, Dein Heiliger, Dich uns nennen! - so lehrte Christus, unser göttliches Vorbild, uns zu Dir, o Ewiger! mit kindlichem Vertrauen uns nahen! zu Dir, der Du meine Tage gezählt und mir nach Deiner ewigen Weisheit zugemessen hast die Zeit meines irdischen Lebens; zu Dir erhebt sich mein Geist in Demut und mit freudiger Zuversicht, in dieser, der Selbstprüfung geweihten Abendstunde.

Ich nahe mich Dir, Schöpfer aller Wesen, wie ein schwaches Kind dem liebenden nachsichtsvollen Vater sich naht, von dem es alles zu empfangen, und dem es nichts darzubringen hat, als ein Herz voll Dank und voll Liebe; doch dieses dankbare Herz weiß es, dass Du, o Vater, mit Langmut den Irrtum und die Schwächen dem fehlenden Kinde verzeihst, wenn es nur nicht mit beschönigender und verderblicher Selbsttäuschung in seinem Wahn verharrt! wenn es nur redlich strebt, jede Stunde, die des wohltätigen Vaters Weisheit ihm zuwendet, auch zur inneren Veredlung seines Gemüts zu gebrauchen.

Ja, Du liebender Vater, Du Beseliger aller Geschaffenen! besonders derer, die Dich innig und lebendig erkennen; Du hast es mir nicht an kräftigen Anmahnungen fehlen lassen, meine Veredlung, meine Seligkeit zu erringen; jedem sinkenden Tage hast Du eine Erinnerung mitgegeben, mich zu belehren, dass nichts eilender und vergänglicher als die Zeit, und nichts unvergänglicher ist, als die Folgen ihrer Anwendung.

Ein Tag ist wieder hin und diesen Teil des Lebens,
Wie hab ich ihn vollbracht, verstrich er mir vergebens?

Diese furchtbare, aber heilsame Frage, kann sich der Mensch nicht oft genug wiederholen, um immer auf seiner Hut zu sein gegen den Verlust und die Entweihung der Zeit.

Sind es auch nicht grobe Verirrungen, die das Andenken einer Stunde beflecken; so haben wir uns doch ernsthaft zu prüfen, ob wir nicht aus Trägheit des Geistes manchen Aufruf der Stunden überhört, manche Veranlassung zum Guten übersehen haben, welche der Gang der Zeit herbeiführte.

Vor uns dahin unaufhaltsam eilet die Zeit! unersetzlich ist ihr Verlust, wenn wir stille stehen; der Stillstand im Weiterstreben zur Vollendung, ist ein Rückschritt, eine Entfernung von dem uns vorgesteckten Ziele. Jede Stunde, deren Aufforderung wir nicht erfüllen, ist eine beraubte Stunde! wir können ihr, wenn sie dahin ist, unsere Schuld nicht mehr abtragen. Wenn der Leichnam eines geliebten Wesens vor uns dahingetragen wird, dann fragen wir uns mit dem bangen Gefühl der Wehmut: haben wir alles geleistet, was wir schuldig waren der geliebten Seele, die von uns hinwegging? Dieselbe Bewandtnis hat es auch mit dem von uns geschiedenen Tage.

Mancher Tag der Anfechtung und Betrübnis hat mich vielleicht unzufrieden gemacht; manche Gelegenheit habe ich wohl verabsäumt, die Zufriedenheit Anderer zu befördern; mancher Lieblingsneigung habe ich wohl mehr, als Recht ist, nachgegeben, oder gar den Sieg über mich eingeräumt; manchesmal hat mich noch die Ungeduld mit den Schwächen meiner Mitmenschen überrascht. Ja, ich fühle es, dass ich nicht auf der Stufe der Vollendung stehe, die mit ungetrübter Freudigkeit mich in das Innere meines Lebens blicken lässt. Mancher Kampf mit mir selbst steht mir noch bevor; aber ohne Kampf ist kein Sieg, ohne mühevolles Streben keine Vollendung. Auch ein höheres Leben, der Schauplatz eines vollkommneren Daseins, wird seine Kämpfe, aber auch seine herrlichen, freudevollen Siege haben! O süße, selige Stunden der errungenen Siege, die dort unserer harren! von denen hier schon, wenn ein Kampf unserem Streben gelang, ein leises Vorgefühl uns beseligt.

Geist der Wahrheit und der Heiligung! erleuchte mich in dieser stillen Dir geweihten Abendstunde, über den Zustand meines inneren Lebens, auf dass ich immer lebendiger erkennen möge den Wert der Zeit, dass ich mit befestigteren Entschlüssen meinen morgenden Tag beginne, und dann mit erneuten Kräften mein Tagewerk vollbringe, mir selbst, und wo möglich auch denen zum Heil, die Du meiner Führung anvertrautest. So lege sich denn mein Körper zur Ruhe. O möchte auch selbst in sanften Träumen noch der Gedanke an Dich, Du Vater meines Lebens, meinen Geist beseligen! Amen! Amen!

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