Rappard, Dora - Ich bin der Herr, dein Arzt.

Rappard, Dora - Ich bin der Herr, dein Arzt.

In Jesu wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. In ihm ist alles, was der Mensch in Zeit und Ewigkeit braucht. Aber es ist wunderbar und doch wieder selbstverständlich, dass man diese Fülle nicht kennen lernt, bevor man sich des entsprechenden Bedürfnisses bewusst wird.

Erst wenn der Mensch aus dem Schlaf der Gleichgültigkeit erwacht und sich als ein verlorener Sünder erkennt, sucht er nach Rettung, Vergebung und Frieden. Er findet dies alles, wenn er Jesum findet, und in seinem Herzensgrund vernimmt er das Wort:

Ich bin der Herr, dein Heiland.

Erst wenn der begnadigte Christ seines Mangels an innerer Heiligung schmerzlich gewahr wird, erfährt er, oft nach tiefer Not, dass Jesus Christus ihm gemacht ist zur Heiligung, und lernt das Wort verstehen: Ich bin der Herr, der euch heiliget.

Jede neue Entdeckung eines Mangels führt uns zu einer neuen Offenbarung von Gottes Fülle. In Schwachheit sucht und findet man im Herrn Stärke. In Einsamkeit sucht und findet man im Herrn Stärke. In Einsamkeit lernt man erst recht verstehen, was seine Nähe bedeutet.

Und so sind Tage der Krankheit uns dazu verordnet, dass wir unsern reichen Herrn nach einer neuen Seite hin kennen und die Wahrheit des Wortes erfahren lernen, das er selbst seinem Volk gesagt hat:

Ich bin der Herr, dein Arzt.

Dass es sich dabei in erster Linie in der Tat um leibliche Krankheit handelt, lehrt der Zusammenhang, in dem das Wort steht.

Oft fällt die Krankheit wie ein Gewappneter über den Menschen her und wirft ihn zu Boden. Oft schleicht sie jahrelang im Verborgenen durch den Organismus, tritt mit grösserer oder geringerer Heftigkeit auf, zehrt an der Kraft und führt ein ganzes Heer von Leiden, Entbehrungen und inneren Kämpfen mit sich. In beiden Fällen hat der Christ eine unversiegbare Quelle des Trostes und der Kraft in dem Wort des Herrn: Ich bin der Herr, dein Arzt. Krankheit ist in hohem Mass ein Mittel, das Gott gebraucht, um die Menschen zu sich zu ziehen und ihnen zu beweisen, was für ein herrlicher Helfer er ist.

Von andauernden Leiden wird in diesen Blättern hauptsächlich die Rede sein; denn dafür braucht es am meisten Licht, Trost und Rat. Aber einige Worte mögen für Fälle plötzlich eintretender Krankheit ein Botschaft des Segens sein.

Vor allem sei darauf hingewiesen, wie gut es ist, gleich im ersten Moment der Angst und des Schmerzes bewusstermassen seine Zuflucht zum Herrn, dem göttlichen Arzte, zu nehmen in einsamen oder gemeinsamen Gebet. Es ist so wichtig, dass das Herz ruhig werde, wichtig für den Kranken und für seine Umgebung. Und nirgends kann es ruhig werden als bei dem, der es geschaffen hat. Gibt man sich der Aufregung hin, so ist das Gemüt wie eine offene Stadt, allen Einflüssen zugänglich. Aber in der Stille kann der Herr reden und wirken nach seiner Gnade. Bei der Berührung seiner Hand weicht das Fieber der Aufregung.

Ob ein Arzt herzugezogen wird oder nicht, ist hier nicht die Hauptsache. Ein jeglicher sei seiner Meinung und seiner Führung in dieser Sache gewiss. Aber eines ist für das Kind Gottes notwendig, nämlich dass es sich vor allen Dingen vertrauensvoll dem himmlischen Arzt in die Kur gebe und auf seine Hilfe harre. Hilft er unmittelbar oder durch menschliche Werkzeuge, so kommt in jedem Fall die Hilfe von ihm. Diese Erkenntnis bewahrt vor dem „ängstlichen Hin- und Herschauen“ (Jes. 41, 10), das dem Glauben entgegengesetzt ist und den Frieden stört.

1. Jesus heilt.

Denen, die schon in mancher leiblichen Not die Hilfe des Herrn erfahren haben, ist es ein Bedürfnis, solches zu bezeugen, zur Ehre des Herrn und zur Aufmunterung ihrer Leidensgenossen. Wohl geschehen in unserer Zeit nicht viele auffallende Heilungen. Es ist Tatsache, dass „die Gabe, gesund zu machen“, von der das Wort Gottes spricht, in unsern Tagen zurückgetreten ist. Ob nur der Mangel an Glaube in der Gemeinde daran Schuld ist, lässt sich nicht so leicht bestimmen. Zur apostolischen Kraft auf dem Gebiet der Gesundmachung gehört ohne Zweifel ein apostolisches Leben voller und gänzlicher Hingabe an den Herrn, und ein Erfülltsein mit dem Heiligen Geist. Danach dürfen wir und ausstrecken. O, dass in unserer so ernsten Zeit die Gemeinde des Herrn neu belebt und gestärkt würde zu ihrem Zeugendienst!

Aber bei aller Armut dürfen wir es nicht übersehen, dass doch in aller Stille und Verborgenheit herrliche Heilungen aus leiblicher und geistiger Krankheit geschehen. In ungezählten Nöten haben Glaubenshände sich ausgestreckt und den Saum von Jesu Gewand, die Verheissungen seines Wortes, erfasst und haben tatsächlich seine Heilskraft erfahren. Wir möchten den kranken Mut machen, sich dem herrlichen Arzt zu nahen. Es ist gewöhnlich so, dass in dem Herzen des Kranken selbst oder derer, die fürbittend für ihn einstehen, ein innerer Kampf und Sieg der Heilung vorangeht. Es gilt, den eigenen Willen darangeben. Unser Beten soll niemals ein Anstürmen gegen Gott sein, damit er tue, was wir begehren, sondern ein Eingehen unsererseits in seine Gedanken, ein Ruhen in seinem Willen. Auf diesem Boden wächst der siegreiche Glaube hervor, der bittet und empfängt, wo es dann heisst: Das Gebet des Glaubens wird ihn aufrichten.

In jener bekannten Jakobistelle (Kap. 5. 14) sagt der Apostel: Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeine. Ein alter, erfahrener Seelsorger pflegte einen besonderen Nachdruck zu legen auf das Wörtlein: rufe. Solch ein Rufen, oder Rufenlassen, bekundet gläubiges Verlangen und ist dem Gerufenen selbst eine Ermunterung zu Gebet. — So oft hört man die Klage: „Ich bin schon so und so lang krank, und niemand hat mich besucht.“ Hat es da vielleicht an dem einfachen, schlichten Rufen gefehlt? Bist du krank, sehnst du dich nach der Hilfe für leibliche und geistliche Not, so rufe die Ältesten der Gemeinde, oder sonst priesterliche Knechte und Mägde des Herrn, dass sie an dir tun nach seinem Wort.

Die Evangelien sind voll von Beispielen wunderbarer und schneller Hilfe. Der Sohn Gottes, der damals umherging und allen wohltat und allerlei Krankheiten und Seuchen im Volke heilte, ist noch heute derselbe. Und er ist es, der zu dir spricht: Ich bin der Herr, dein Arzt.

2. Seine Gnade reicht aus für dich.

Der Herr hört uns immer, wenn wir ihn anrufen. Er erhört uns auch, aber nicht immer in der Weise, wie wir es wünschen und erwarten. Als Paulus dreimal flehentlich bat um die Entfernung des Pfahles im Fleisch (2. Kor. 12, 7-10), hat ihm der Herr diese Bitte nicht gewährt. Aber erhört hat er ihn doch. Wer bezeugen kann: Der Herr hat zu mir gesagt: „Lass Dir an meiner Gnade genügen!“ der ist fürwahr erhört worden. Er kann sich sogar rühmen seiner Schwachheit und es bekennen: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“

Meine Gnade ist dir genug. Das ist so recht das Wort für die Schwachen und Kranken, für die, die in jahrelangem Leiden stehen und keine Heilung erfahren haben. Aber ist sie wirklich genug? Ist es nicht nur ein frommes Wort, das wir nachzusprechen gelernt haben? Ist die Gnade gross genug, um jeden Verlust zu decken? Wir wollen darüber nachsinnen.

„Gnade ist die Äusserung der sich uns mitteilenden Liebe Gottes, wonach er sich zu uns Armen, Geringen, Schuldigen, Sündenbefleckten und Strafbaren frei herabneigt, um uns wohlzutun und uns zu segnen,“ so heisst es in einem biblischen Wörterbuch. „Das Herz Gottes ist ein Meer, in dem eine Welle der Barmherzigkeit die andere ablöst“, das ist das Zeugnis des Gottesmannes J. U. Bengel, ein Zeugnis, dem sich Tausende von kleinen Gotteskindern anschliessen könnten. Wir finden im Alten Testament oftmals das Wort Gnade in der Mehrzahl, gleichsam um die wunderbare Fülle anzudeuten. Was kann es denn Grösseres geben als Gnade, als die uns mitgeteilte Liebe Gottes? Was ist im Vergleich damit das grösste irdische Gut? Was ist Gesundheit und Glück und Ansehen, wenn im Herzen Schuld und Todesfurcht herrscht? Wer nur einigermassen die Liebe Gottes erkannt und gekostet hat, möchte lieber mit ihm in Armut, Schwachheit und Not wandeln, als ohne ihn im Glanz irdischer Wonne. Wer ihn und seine Gnade kennt, der spricht mit dem Psalmisten: „Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du noch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ Der also sang, hatte es auch erfahren, was es heisst: Meine Gnade reicht aus für dich, keine andere Gabe, weder eine äussere noch eine innere reicht aus, um das Bedürfnis des Menschen zu stillen: aber die Gnade reicht aus.

„Hat dich der Herr denn von deinem Leiden befreit?“ so wurde ein schwer geprüfter Jüngling gefragt, den sein Seelsorger nach geraumer Trennungszeit wieder besuchte und voll Frieden und Freude fand. „Nein“, war die Antwort; „er hat Grösseres getan. Er ist selbst zu mir gekommen, und er trägt mich und meine Last“.

3. Durch seine Wunden sind wir geheilt.

Innerliche Gesundheit, gründliche Heilung, Reinigung von dem Aussatz der Sünde, Lösung von den Ketten des Bösen, das ist des grossen Arztes hauptsächlichstes Ziel mit uns. Das ist sein Zweck auch mit der äusseren Krankheit. Er will die Seele heilen. Schon manch ein Leidender, dessen äussere Verhältnisse unverändert blieben, durfte es erleben: Ich habe den Herrn gesehen (mit dem Blick des Glaubens) und meine Seele ist genesen. Schon manches Krankenlager ist durch die spürbare Nähe des himmlischen Arztes zu einer Stätte des Segens geworden. „Das stille Zimmer unserer Schwester ist der liebste Raum im ganzen Hause,“ so lasen wir einst in einem Brief. „Wenn sie nicht zu starke Schmerzen hat, so kommen alle gern zu ihr. Da findet man immer Trost und Ermutigung und warme Teilnahme für allerlei Leiden und Trübsale der Gesunden. Und wenn sie grosse Schmerzen hat, empfängt man einen tiefen Eindruck von der starken Gotteshilfe, die ihr dabei widerfährt.“

Es kommt eben alles darauf an, im Leben der Kranken wie der Gesunden, das eigene Ich in den Tod gegeben werde, und das Leben Jesu sich entfalte. Das ist nichts Selbstverständliches, sondern ein Werk des Heiligen Geistes. Gerade für Kranke besteht die Gefahr, sich selbst als Mittelpunkt des Interesses zu fühlen und sich mit den eigenen Empfindungen und Zuständen zu beschäftigen. Umso köstlicher ist es, wenn durch die Zucht der Gnade das Gegenteil zutage tritt, wie in dem oben angeführten Fall.

Ich bin der Herr, dein Arzt, spricht unser Gott zu seinem Israel, zum Volk, das er erlöst und sich zum Eigentum erwählt hat.

Und wir antworten:

Komm, du hochbewährter Arzt,
Der du selbst zu Arznei wardst,
Dring in unsers Herzen Schrein
Selbst mit deinem Leben ein.

Ja, nimm uns ganz in deine gütige, weise, heilbringende Behandlung, du Arzt Leibes und der Seele. Wir wollen deinen Verordnungen folgen in pünktlichem Gehorsam, wollen nicht irre werden, auch wenn wir einmal deine Methoden nicht verstehen.

Du kannst unsern Leib heilen, wiederherstellen und erquicken, wenn es dein gnädiger Wille ist.

Du kannst aber auch der Seele Kraft geben, das Leiden zu tragen und dich im Feuer der Trübsal zu verherrlichen.

Um eines Bitten wir vor allem: Mache uns innerlich ganz gesund. Heilige uns durch und durch, dass unser Geist ganz, samt der Seele und dem Leib, behalten werde unsträflich auf den Tag deiner Zukunft! Mach uns selig, o Jesu!

Quelle: Rappard-Gobat, Dora - Durch Leiden zur Herrlichkeit

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