Rambach, August Jacob - Am 1. Sonntag des Advents

Rambach, August Jacob - Am 1. Sonntag des Advents

Eingang.

Still und geräuschlos beginnt mit diesem Tage abermals der jährliche Kreislauf unsrer kirchlichen Uebungen; und die Feyer, die uns beute hier im Hause des Herrn vereinigt, unterscheidet sich in ihrer äußeren Gestaltung durch nichts von unsern gewöhnlichen Zusammenkünften. Dennoch hat sie unläugbar ihre eigenthümliche Bedeutung, eben so, wohl als die, welche den Anfang des bürgerlichen Jahres bezeichnet. Sie richtet, gleich dieser, unsre Blicke in die Vergangenheit und in die Zukunft. Sie erweckt uns zu ernsten Prüfungen und zu heiligen Vorsätzen und Gelübde. Sie fordert uns zum frohen Danke für die bisher genossenen Wohlthaten und zu brünstigem Gebet um den fernerhin zu erlangenden Segen auf. Der Mittelpunkt aller Befrachtungen aber, zu welchen sie uns hinführt, ist nichts anderes als die Sache selbst, mit der wir es hier allein und immer zu thun haben, die Anbetung Gottes und des Erlösers, und wenn jemals die Veranlassung nahe liegt, sie besonders hervorzuheben, so ist es heute. Bekanntlich tritt auch bey den wichtigsten Vorzögen, in deren Besitze wir uns befinden, gar leicht der Fall ein, daß sie eben durch die Länge und Sicherheit des Besitzes uns zur Gewohnheit werden, so daß das Gefühl ihres Werthes sich allmählig aus unsrer Seele verliert; und daraus entspringt denn unvermeidlich eins von Beyden: entweder wir vernachlässigen den Gebrauch, den wir von ihnen machen könnten und sollten, oder wir benutzen sie auf eine bloß mechanische Weise, ohne wahre lebendige Theilnahme des Herzens. Daß dieser Fall auch bey den Anstalten und Uebungen, die uns als Gliedern der Kirche dargeboten sind, nicht selten vorkomme, bedarf wohl keines Beweises. Wie viele Hunderte unter denen, welchen dieses Gotteshaus zum Gebrauche übergeben ist, mögen in dem zurückgelegten Kirchenjahre kaum einmal oder überall nicht seine Schwelle betreten haben! Und wie Manche, die es dann und wann, vielleicht öfter besuchten, erschienen leider nicht sowohl ans innerm Antrieb ihres Herzens und mit frommer Sehnsucht nach dem Ort, da Gottes Ehre wohnet, als vielmehr bloß der eingeführten Sitte oder besonderen zufällig entstandenen Veranlassungen zufolge! Nichts kann daher gewiß natürlicher, nichts zweckmäßiger seyn, als gerade heute an dem ersten Tage des begonnenen Zeitraums, auf den eigenthümlichen Werth der frommen Uebungen, zu welchen wir von neuem zusammen treten, aufmerksam zu machen, und namentlich auf den überwiegenden Vorzug hinzu, weisen, den sie als öffentliche und gemeinschaftliche vor jeder anderen Art der Beschäftigung mit Gott und seinem Worte behaupten.

Text:

Evang. Matth. 21, 1 -10.

Vortrag - Die großen Vorzüge des öffentlichen Gottesdienstes.

I. Er ist der feyerlichste.

1. Durch die Oeffentlichkeit an sich.

Wie das Volk im Evangelium sich freywillig mit seinen Huldigungen dem Erlöser nahete, so findet auch bey den Anbetungen, welche wir in unsern Tempeln ihm weihen, durchaus kein Zwang statt; und weder kirchliche, noch bürgerliche Gesetze nöthigen den Einzelnen, sich hier an bestimmten Tagen oder in bestimmten Stunden zu den Uebungen der Andacht einzufinden. Aber so viel ist klar, und der Begriff einer Kirche, einer Gesellschaft von Bekennern Eines Glaubens, bringt es nothwendig mit sich: Wo Menschen durch das Band gleicher Ueberzeugungen und Hoffnungen, gleicher Vorrechte und Verpflichtungen mit einander verbunden sind, da muß auch diese geistige Verbindung durch ein äußeres, sichtbares Band theils ausgesprochen, theils unterhalten werden, d. h. es müssen Zeiten und Orte seyn, wo die Einzelnen zum gemeinschaftlichen Bekenntniß des von Allen angenommenen Glaubens zusammen treten. Und hierin eben liegt unverkennbar das Feyerliche des kirchlichen Gottesdienstes, welches ihm immer und auch dann bleibt, wenn die Zahl der daran Teilnehmenden nicht gerade auffallend groß ist. Inniger als sonst irgendwo fühlen wir uns, indem wir in den Kreis der Anbetenden eintreten, dem Bunde verwandt, den Jesus, der im Namen des Herrn Gekommne, der Heiland und König des menschlichen Geschlechtes, als ein Reich Gottes auf Erden, als eine Pflanzschule für den Himmel errichtete. Die Würde, durch welche seine Gemeine über alle Verbindungen, die es je in der Welt gab oder noch gibt, unendlich hervorragt, vermöge ihres göttlichen Ursprunges, ihrer erhabenen Vorrechte, ihrer heiligen Gesetze, ihrer großen, in die Ewigkeit reichenden Bestimmung, diese Würde tritt uns hier anschaulich und in lebendiger Klarheit vor Augen; und je größer im Aeußeren die Verschiedenheit Derer ist, in deren Mitte wir uns befinden, je mehr wir Reiche und Arme, Hohe und Niedrige. Gebildete und Ungebildete unter einander gemischt sehen, desto mehr ergreift uns der große erhebende Gedanke, den das Wort den Apostels ausdrückt: Hier ist kein Jude, noch Grieche, hier ist kein Knecht, noch Freyer, hier ist kein Mann, noch Weib; ihr seyd allzumal Einer, seyd alle Gottes Kinder in Christo Jesu! Gal. 3, 26.28. Eph. 4, 4 ff.

2. Durch die Heiligkeit des Ortes.

Nicht zwar in dem Sinne nennen wir unsre Kirchen heilig, in welchem Israel einst den Tempel auf Zion so zu nennen gewohnt war; wir wissen, was Jesus der Samariterin (Joh. 4, 21 ff.) und Paulus den Atheniensern (Ap. Gesch. 17, 24) sagte, und was Jahrhunderte zuvor schon der Herr selbst zur Widerlegung jenes kindischen Wahnes durch den Propheten seinem Volke zugerufen hatte. Jes. 66, 1. Aber wenn heilig mit Recht genannt werden kann, was von jedem gemeinen Gebrauche geschieden, was dem höchsten, ehrwürdigsten Zwecke ausschließlich gewidmet ist: dürfen, müssen wir denn nicht auch so unsre Kirchen nennen? Geweihet wird allerdings auch das Kämmerlein, in dem ihr betet, die Flur, auf der ihr dem Herrn ein Dankopfer darbringet, doch nur für die Augenblicke, die eure Andacht dauret; die Weihe dagegen, die dem Bethause zukommt, ist eine bleibende, eben weil es seiner eigenthümlichen Bestimmung nach ein Bethaus ist. Die Stimmen, welche man hier hört, sind nur Stimmen des Dankens; die Predigt, welche hier erschallet, ist nur eine Predigt von den Wundern Gottes. Ps. 26, 7. Wohin ihr eure Blicke richtet: Alles erinnert an ihn und an Den, der in seinen Namen auf die Erde herabkam; Alles ist Hinweisung auf etwas, das über der Erde, das unsichtbar und ewig ist; Alles Aufruf zu den Gedanken und Gefühlen, in welchen des Menschen erhabenste Würde, sein Zusammenhang mir einem unvergänglichen, himmlischen Gottesreiche sich kund gibt. Daher die größre Feyerlichkeit der Gottesdienste, zu welchen wir in unsern Kirchen zusammen kommen; daher jener höhere Aufschwung des Geistes, zu welchem schon der Eintritt in den Tempel uns erhebt, und bey dem Jacobs Wort das unsre wird: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts andres denn Gotteshaus, hier ist die Pforte des Himmels! l. Mos. 28.17.

II. Er ist der rührendste.

1. Durch die gemeinsame Uebung der Andacht.

Nicht, als ob nicht auch die Einsamkeit der Erhebung unsers Gemüthes zu Gott förderlich seyn sollte: aber wie wir in frohen Stunden uns gern an Andre anschließen, um durch die Gemeinschaft mit ihnen unsre Empfindungen zu erhöhen und zu beleben, so ist es ein gleiches Bedürfniß, das in den Stunden frommer Unterhaltung uns Nahrung für unsre Andacht in dem Kreise der anbetenden Gemeine suchen läßt; und wahrlich, wir suchen sie nicht umsonst. Oder fühlest du dich nicht von einer tieferen Ehrfurcht vor dem Allerhabenen ergriffen, wenn du neben dir eine Schaar von Betern, und unter ihnen die Hochgestelltesten und Angesehensten, erblickest, die ihre Knie demuthsvoll vor seiner Majestät beugen? Gewinnt nicht dein Glaube ein höheres, freudigeres Leben, wenn du siehst, wie Andere, und unter ihnen der Bedrängten, der Elenden so manche, ihre Zuflucht zu dem Gott der Gnade nehmen, und Stärkung und Labsal in den süßen Tröstungen seines Wortes finden? Steigt nicht wärmer dein Dank, feuriger dein Lob zum Himmel empor, wenn du mit Hunderten, mit Tausenden, wie aus Einem Munde, es dem Herrn darbringst? Röm. 16, 6. Und hast du je ein Vorgefühl des Himmels schon hienieden empfunden und geschmeckt die Kräfte der zukünftigen Welt, wo wir würdiger als im Staube den Ewigen und seinen Sohn preisen werden in der Gemeine der Erstgebornen, mit den Geistern der vollendeten Gerechten, mit der Menge vieler tausend Engel (Hebr. 12,22 ff.): war es nicht hier an heiliger Stätte, in den Versammlungen der Gläubigen, und dort am Altar des Mittlers in den Reihen derer, die, erquickt durch den Genuß seines Mahles, ihm Hosianna und Hallelujah sangen?

2. Durch die sinnlichen Beförderungsmittel der Erbauung.

Wir sind Sinnenwesen, so lange wir der Erde angehören; sollte irgend jemand sich zu stark dünken, um Hülfen dieser Art zu bedürfen? Gibt es keine Vorschrift des Christenthums, die uns den Gebrauch derselben zur Pflicht macht, so ist gleichwohl auch kein Verbot da, wodurch er untersagt wäre; und wenn manches Bedeutungslose und Unwürdige, was der Aberglaube finsterer Jahrhunderte eingeführt hatte, mit Recht im Fortgange der Zeit abgeschafft ist, so mögte man doch fragen, ob nicht Einiges aus der christlichen Vorzeit stammende mit Nutzen hätte beibehalten werden können. Doch das Wichtigste ist uns geblieben. Wir haben als wesentlichen Bestandtheil unsrer Gottesdienste den heiligen Gesang mit seinen ergreifenden Tonweisen, und als Träger desselben jenes in Wahrheit bewunderungswürdige Klangwerk, dessen seelenvolle Töne alle Empfindungen des menschlichen Herzens eben so sprechend schildern als kräftig erregen, bald zur tiefsten Wehmuth stimmen, bald zum freudigsten Entzücken aufrufen, bald erschüttern, bald rühren und erheben, die Orgel. Wem, der nur die geringste Empfänglichkeit für Eindrücke der Art hat, dürfte erst gesagt werden, wir viel zur Erregung derselben eben das Aeußere, auf die Sinne Wirkende bey unserm Gottesdienste beyträgt? Wer verdankte nicht die stärksten und wohlthätigsten Rührungen, die er jemals in seinem Leben empfand, den Stunden, da tausendstimmig der Gesang der anbetenden Gemeine in diesen weiten Räumen erscholl zum Lobe Gottes und des Erlösers? Und wo wäre die Hausandacht, das stille Gebet, das ganz dieselben Wirkungen hervorzubringen vermögt?

III. Er ist der fruchtbarste.

1. Durch die reicheren Hülfen, die er der Erkenntnis und dem Glauben gewährt.

Fern sey es, die Predigt als das wesentlichste Stück des Gottesdienstes unbedingt oben an stellen, oder behaupten zu wollen, daß nicht auch ohne sie die christliche Erkenntniß auf andere Weise gefördert werden könne. Aber so gewiß jene bey unsern Andachtsübungen nicht fehlen kann und darf, so gewiß ist es auch, daß sie ein Mittel der Belehrung darbietet, wofür schwerlich ein genügender Ersatz zu finden seyn mögte. Kräftiger wirkt das gesprochene und gehörte Wort als das geschriebene und gelesene; und am kräftigsten wirkt es ohnstreitig, wenn es von heiliger Stätte herab gesprochen, wenn es im Auftrage Dessen verkündigt wird, der da kam im Namen des Herrn, an dem Tage, der seinem Dienste vorzugsweise gewidmet ist. in der Stunde, in welcher das Geräusch irdischer Zerstreuungen und weltlicher Arbeiten schweigt, in der Mitte der zum Hören versammelten und durch Gebet und Gesang zur Andacht gestimmten Gemeine. Zeuget selbst, ihr, die ihr seit Jahren dem öffentlichen Vortrage der göttlichen Wahrheit regelmäßig und achtsam beywohntet, ob es nicht mit merklichem Gewinn für eure Erkenntniß geschehen sey, ob nicht manche Lehre des Christenthums dadurch eine größere Klarheit für euch gewonnen, manches Bibelwort sich tiefer eurem Herzen eingeprägt, manches früher gefaßte Vorurtheil, mancher sonst gehegte Zweifel seine Gewalt über euch verloren habe. Zeuget insonderheit ihr, deren Glaube unter den Prüfungen des Lebens schwerere Kämpfe zu bestehen hatte, ob nicht die Kraft zum Kampfe und zum Siege, deren ihr euch erfreuetet, großentheils eine Frucht der Stunden war, die ihr hier im Hause des Herrn verlebtet, ob nicht auch an euch sich bestätigte und noch bestätigt, was David sagt:

Wohl den, den du erwählest und zu dir lässest, daß er wohne in deinen Vorhöfen! Der hat reichen Trost von deinem Hause, deinem heiligen Tempel. Ps. 65, 2.

2. Durch die stärkeren Erweckungen, die er der Frömmigkeit darbietet.

Fromm vor Gott zu wandeln, ist des Menschen und des Christen höchster Beruf; und alle äußere Gottesverehrung hat nur in so fern einen Werth, als sie uns Antrieb und Kraft dazu verleihet. Aber wer mag läugnen, daß der öffentliche Gottesdienst in dieser Hinsicht bey weitem am meisten wirkt, daß Ermahnungen und Warnungen, die von heiliger Stätte an uns ergehen, kräftiger eindringen als Lehren, die wir uns selbst vorhalten, daß Gelübde der Besserung und Tugend, im Angesichte Gottes und der Gemeine und am Altare des Erlösers dargebracht, tiefere Eindrücke zurücklassen als Entschließungen, die wir für uns in der Stille erneuern? Wer mag insonderheit den wohlthätigen Einfluß verkennen, den es auf die Belebung menschenfreundlicher und liebevoller Gesinnungen gegen den Nächsten hat, wenn wir öfter hier erscheinen, wo Alle Eins sind in Christo Jesu, und einmüthiglich mit Einem Munde ihn und den Vater loben? Darum denn, auch deshalb lasset uns den Vorzug dankbar erkennen, dessen wir als Glieder seiner Kirche uns zu erfreuen haben, und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie etliche pflegen. Hebr. 10, 26. Aber nicht bloß durch öftre Gegenwart lasset uns zeugen von der Hochachtung, die wir für sie empfinden, sondern auch durch einen Wandel, der ihrem heiligen Zwecke entspricht. Bewahren laßt uns das Wort, welches hier gepredigt wird, in einem reinen guten Herzen, und hingehen und thun, wie uns Jesus, unser Herr und Meister, befohlen hat; denn nicht, wer ein vergeßlicher Hörer, sondern wer ein Thäter des Wortes ist, derselbige wird selig seyn in seiner That. Jac. 1, 25.

So segne, Herr, dein Wort, daß es in's Herz uns dringe. Und durch des Geistes Kraft stets reiche Früchte bringe, Daß unser Glaube Dir bis in den Tod getreu. Die Liebe unverfälscht und fest die Hoffnung sey.

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