Quandt, Emil - 7. Die Zukunft des heiligen Kreuzes.

Quandt, Emil - 7. Die Zukunft des heiligen Kreuzes.

„Fünf Ostern,“ so betitelt sich ein Gedicht von Anastasius Grün. Es soll ein Osterlied sein vom heiligen Kreuze, aber es ist ein Spottlied gegen das heilige Kreuz. Alle Ostern, so heißt es in diesem Liede, wallt Jesus Christus ungesehn um die Morgenstunde im Auferstehungskleide auf den Höhen des Oelbergs und blickt hinab auf das jüdische Land, um zu erfahren, wie es seinem Kreuze ergehe. Er sieht in den verschiedenen Weltzeiten sehr verschiedene Schicksale seines Kreuzes. Was aber schaut sein Auge zuletzt beim fünften Ostern in der fernen Zukunft des Menschengeschlechts? Golgatha ist ein Rosenhag geworden; kein Mensch weiß mehr etwas vom Kreuze; man gräbt wohl noch ein altes Kreuz aus der Erde auf, aber auch die ältesten Greise kennen es nicht mehr; indessen man richtet es wieder empor auf Golgatha als eine räthselhafte, ehrwürdige Ruine des Alterthums, aber man pflanzt Rosen umher. „So steht das Kreuz inmitten Glanz und Fülle auf Golgatha, glorreich, bedeutungsschwer: verdeckt ist's ganz von seiner Rosen Hülle, längst sieht vor Rosen man das Kreuz nicht mehr!“

Längst sieht vor Rosen man das Kreuz nicht mehr -: Das ist die Zukunft, die die Herolde der modernen Weltanschauung, die Träger des Paniers der Rose, dem heiligen Kreuze prophezeien. Sie wähnen, das Kreuz werde sich in Zukunft Vor der Rose beugen müssen, und der Glaube an den Gekreuzigten werde von kommenden, fortgeschrittenen Geschlechtern nicht einmal mehr als eine Thorheit der Ahnen gekannt sein. Da müßte uns am Ende wohl bange werden um unsern allerheiligsten Glauben? Da müßte sich das Wort vom Kreuze wohl fürchten vor den neuen Propheten des neunzehnten Jahrhunderts? O nein, das Wort vom Kreuze braucht sich vor den Herren dieser Zeit nimmermehr zu fürchten; aber die Herren dieser Zeit haben alle Ursache, sich vor dem Worte vom Kreuze zu fürchten. Denn das Wort sie sollen lassen stehn und keinen Dank dazu haben; nicht der Phrase von der Rose, sondern dem Worte vom Kreuze gehört die Zukunft. Jesus Christus gestern und heute und derselbige in Ewigkeit. Christi Kreuz gestern und heute und dasselbige in Ewigkeit.

Wir lassen uns nicht im Geringsten beirren oder einschüchtern von dem Geschrei der Betrüger und Betrogenen in unserer Zeit, die dem heiligen Kreuze die Zukunft absprechen. Uns imponiren jene frivolen Redensarten nicht, die der Religion des Kreuzes nur noch eine Gnadenfrist schenken etwa bis zum Ablauf dieses Jahrhunderts. Wir halten das für sinnloses Toben, für sehr vergebliches Reden. Und ob die Herren noch so sehr mit einander rathschlagen wider den großen Gott und feinen Gesalbten, ihre Bande zu zerreißen und ihre Seile von sich zu werfen - wir wissen: Der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer. Wir fürchten uns nicht vor den modernen Helden der Zunge. Wir glauben trotz alledem und alledem an eine Zukunft des heiligen Kreuzes. Noch mehr, wir glauben au eine überaus siegreiche, triumphirende Zukunft des heiligen Kreuzes. Ja, wir glauben sogar an eine Ewigkeit des heiligen Kreuzes; wir glauben, daß wenn diese Welt mit all' ihrer Herrlichkeit und mit all' ihrer Eitelkeit in Staub und Schutt zerfällt, doch das Kreuz, das hochheilige Kreuz bleiben, hoch über dem Staube aufgerichtet in alle Ewigkeit bleiben wird.

Und das glauben wir, weil wir an die Schrift glauben. Alle Menschen sind Lügner, aber der Gott der Schrift bricht seine Eide nicht. Er hat der Religion des Kreuzes verheißen, daß sie der Sieg sein solle, der die Welt überwindet; er hat der Gemeinde des Kreuzes verheißen, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen; er hat dem Worte vom Kreuze verheißen, daß Himmel und Erde vergehen würden, aber dieses Wort nicht. Was er verheißen, hält er in Ewigkeit, er ist treu, er kann sich selbst nicht leugnen. Er hat dem heiligen Kreuze die Zukunft versprochen, er wird sein Versprechen halten.

Das Kreuz wird bis an den jüngsten Tag auf Erden gepredigt werden als das Zeichen, in dem die Sünder selig werden. Das ist gewißlich wahr. Denn es steht geschrieben (Matth. 24, 14): „Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zu einem Zeugniß über alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“ Wie nicht aufhören wird, so lange die Erde steht, Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht, so wird auch nicht aufhören, so lange die Erde steht, die Predigt des Wortes vom Kreuz. Mancher große Name, den jetzt die Welt mit Posaunenschall nennt, wird nach kurzer Weile verrauscht und verklungen sein; manches stolze Wort unserer Tage wird sehr bald 'zu einem verachteten Mährlein werden: aber der hochgelobte Name Immanuels wird nie verklingen, das theure Wort vom Kreuze wird nie verstummen. Es werden Berge weichen und Hügel fallen, aber die Predigt vom Kreuze wird nicht weichen, noch fallen. Denn wenn die Menschen je vom Tode des Sohnes Gottes schwiegen, so würden die Steine reden; aber die Menschen werden nicht schweigen. Das Blut Jesu Christi wird zu allen Zeiten durch alle Jahrtausende hindurch Zeugen finden, die es rühmen und Lippen, die es preisen. Es werden nie die Leute aussterben, die in die Welt hineinrufen, wie jene begnadigten Fischer und Zöllner in der Fülle der Zeit: Wir können es nicht lassen, daß wir nicht reden sollten von dem, was wir gesehen und gehöret haben. So lange es Vöglein geben wird, die es nicht lassen können zu singen; so lange es Blumen geben wird, die es nicht lassen können zu blühen; so lange es Quellen geben wird, die es nicht lassen können zu rieseln; so lange es Sterne geben wird, die es nicht lassen können zu leuchten: so lange wird es auch Menschen Gottes geben, die da sagen und singen: „Wir können es nicht lassen zu reden von dem Herrn, und will die Welt uns hassen, sei's drum, wir tragen's gern; wir können ja nicht schweigen von dem, was wir erkannt; es muß der Mund bezeugen, wovon das Herz entbrannt!“ Denn die Fortdauer dieser sündenvollen Welt mit all' ihren Vögeln und Blumen, Quellen und Sternen hat überhaupt keinen andern Sinn, als daß der Tod des Sohnes Gottes den kommenden Geschlechtern gepredigt werden soll. Unsre alte Erde wäre längst, wie weiland Sodom und Gomorrha, ein großes todtes Meer geworden, wenn es kein Golgatha gäbe und kein Kreuz und kein Wort vom Kreuze. Daß diese alte Welt noch existirt, verdankt sie einzig und allein dem Blute und den Wunden des Gottmenschen, und sie existirt nur zu dem einzigen Zwecke, daß recht vielen Staubgebornen die Gnade dessen verkündet werde, der sein Leben in den Tod gegeben hat zur Erlösung für Viele. Denn nicht darum fristet der große Gott der alten Welt das Leben, damit sie immer größere Fortschritte mache, immer glänzendere Erfindungen zu Wege bringe, immer behaglicher die irdische Existenz gestalte, sondern darum weil er will, daß allen Menschen geholfen werde und alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen. Sobald die Fülle der Heiden, deren Zahl nur der Allmächtige kennt, ihre Vernunft gefangen gegeben hat unter den Gehorsam des Glaubens an das Kreuz, sobald das ganze Israel rechter Art aus Heiden und Juden um das Kreuz gesammelt ist, kommt das Ende, ob auch die Staatsmänner noch so gewaltige Staatsactionen abzuwickeln hätten, ob auch die Geehrten noch so wichtige Räthsel der Wissenschaften zu lösen hätten; wenn dem letzten Lamme der kleinen und doch so großen Heerde der Tod des guten Hirten verkündigt ist, dann kommt das Ende. Die Weltgeschichte ist die Kreuzgeschichte, darum ist erst das Weltende das Ende der Predigt vom Kreuze auf Erden. Das Wort vom Kreuze wird gepredigt werden unter dieser Sonne bis zum letzten großen Sonnenuntergang -: „bis der Weltposaune Hall aus den Gräbern ruft die Todten, läuft es um der Erde Ball unverboten, unverboten.“

Aber das heilige Kreuz wird auch bis zum jüngsten Tag ein Zeichen sein, dem widersprochen wird. Denn eine Verheißung, daß je eine Zeit kommen werde, wo Alle glauben und Alle im Glauben ihre Knie beugen vor dem Gekreuzigten, ist nicht gegeben. Niemals werden vom Kreuze Zauberkräfte ausgehn, die alle Welt zum Glauben zwingen, sie mag wollen oder nicht; die Hoffnung, daß in, wenn auch noch so ferner Zukunft das Kreuz einmal auf Alle unwiderstehlich wirken und jeden einzelnen Sünder dem Herrn erbeuten werde, ist ein phantastischer Traum, der keine Verheißung hat. Man begegnet diesem Traume öfters bei solchen Christen, die ein großes Gewicht auf die Lehre vom sogenannten tausendjährigen Reich legen. Dieselben malen sich die Zukunft also aus, daß tausend Jahre lang auf dieser alten Erde alle Feinde des Kreuzes vernichtet und die Religion des Kreuzes von allen Lebendigen geliebt und anerkannt sein werde. Aber schon im 17. Artikel der augsburgischen Confession ist über diese Phantasterei der Stab gebrochen. „Hier werden, so bekennt die evangelische Kirche in jenem Artikel, verworfen etliche jüdische Lehren, die sich auch jetzund eräugen, daß vor der Auferstehung der Todten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen würden.“ Wie das tausendjährige Regieren Christi mit den Seelen der um seines Zeugnisses willen Enthaupteten, davon Offenbarung 20, aber sonst die ganze Bibel nicht redet, zu verstehen sei, wird uns hienieden immer verborgen bleiben, da es dem Herrn nicht gefallen hat, selbst die Auslegung zu geben; aber so viel steht fest, daß jede grübelnde Auslegung falsch ist, die gegen andre klare Bibelstellen streitet und verstößt. „Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählet; der Weg ist breit, der zur Verdammniß führt, und ihrer sind Viele, die darauf wandeln, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und Wenige sind ihrer, die ihn finden; nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen“ - diese Schriftworte sind sehr klar und da sie uneingeschränkt lauten, so behalten sie für alle Zukunft ihre schwerwiegende Bedeutung. Der Glaube an das Kreuz wird niemals Jedermanns Ding sein. Es wird immer Juden geben, denen der Gekreuzigte ein Aergerniß, Griechen, denen er eine Thorheit ist; immer Weltlichgesinnte, die es gelüsten wird wider das Kreuz und die meinen werden, sie müßten viel zuwider thun dem Namen Jesu von Nazareth. Das heilige Kreuz wird sich niemals des Beifalls der Majorität erfreuen, die große Menge wird wohl von Zeit zu Zeit sich immer zu einem flüchtigen „Hosianna dem Sohne Davids“ begeistern lassen, aber sehr bald darnach immer den Schreiern folgen, die da rufen: „Weg mit Jesu, gieb uns Barrabam los.“ Ja, der Widerspruch gegen das heilige Kreuz wird sogar in der Zukunft noch stärker werden, als er in der Vergangenheit gewesen und in der Gegenwart ist. Alles, was bis jetzt an Haß und Wuth gegen das Kreuz von Seiten der ungläubigen Welt offenbar geworden ist, sind erst Schneebälle, die Lawinen werden nachkommen. Je näher das Ende kommt, desto mehr falsche Propheten werden sich erheben und Viele verführen; sie werden große Zeichen und Wunder thun, daß verführet werden in den Irrthum, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten. Gräuliche Zeiten werden es sein, und es wird mit den bösen und verführerischen Menschen je länger, je ärger werden, bis das Gericht des letzten Tages die Feinde zerschlagen wird, wie man Töpfe zerwirft. Indessen viel Feinde viel Ehre; wenn das heilige Kreuz auch in der Zukunft von der Welt befeindet, ja immer stärker befeindet werden wird, so kann das ja nur möglich sein, insofern das heilige Kreuz auch in der Zukunft als eine Macht, ja als eine immer stärkere Macht vorhanden ist.

Wenn man aber auf einem Schiffe durch die schäumenden und sich bäumenden Wogen fährt und vorher weiß, daß das Schiff trotz Sturm und Fluth nicht untergehen wird und kann, dann kann man dem wilden Spiele der drohenden Wellen mit großer Seelenruhe zusehn. So brauchen wir auch nicht bange zu sein im Blick auf die empörten Wogen der Wuth und des Hasses, die in der Zukunft heftig und immer heftiger gegen den Felsen des Kreuzes anbranden werden. Denn wir sind getrost und wissen, wird nur das Wort vom Kreuz in aller Zukunft gepredigt, so wird und muß ihm auch an Etlichen allewege gelingen, dazu es gesandt ist. Denn gleich wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin kommt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und wachsend, daß sie giebt Samen zu säen und Brod zu essen: also wird das Wort vom Kreuze Jesu Christi zu allen Zeiten auch sein, es wird nicht leer bleiben, sondern thun das Gott gefällt, nämlich Alle, die aus der Wahrheit sind, unter das Kreuz Immanuels sammeln, daß sie nicht verloren gehn, sondern das ewige Leben haben. Das heilige Kreuz wird bis an den jüngsten Tag ein Zeichen sein, das die Erlösungssehnsucht armer Sünder stillt und sie selig macht in Jesu Christo.

So lange es Kranke giebt auf Erden, wird Nachfrage sein nach Aerzten und Medicamenten. So lange es Sünder giebt auf Erden, wird die alte Frage nicht aus sterben: „Ist denn keine Salbe in Gilead oder ist kein Arzt nicht da?“ Und so lange der gekreuzigte Christus als der rechte Arzt und sein Blut und seine Wunden als die rechte Salbe gepredigt werden wird, so lange werden auch arme Sünder dem großen Arzt zu Füßen fallen und von ihm sich heilen lassen. Bis an das Ende der Tage werden sich zu allen Zeiten und unter allen Geschlechtern die Vorgänge von Golgatha wiederholen. Immer wird es Menschen geben, die dem Haupte voll Blut und Wunden in's Angesicht schauend sprechen, wie jener römische Hauptmann: „Wahrlich, du bist Gottes Sohn!“ Immer wird es Menschen geben, die, vom Tode des Gerechten erschüttert, an ihre Brust schlagen und umkehren, wie das Volk von Jerusalem. Immer werden sich Seelen finden, die wie der fromme, gute Mann Joseph von Arimathia, dem gekreuzigten Heilande eine Ruhestätte bereiten im verborgensten Heiligthum ihres Lebens. Immer werden sich Seelen finden, die, gleich den lieben Frauen Galiläas, dem Herrn köstliche Specereien bereiten und in der Stille auf das große Ostern warten. Völker und Fürsten gehen über die Erde wie Meteore, die in diesem Augenblick leuchten und im andern verschwunden sind; aber die Gemeine der Heiligen, die dem Gekreuzigten Lieder singt als ihrem Gotte, verschwindet nie mehr auf Erden, sondern wird alle Zeiten überdauern, bis sie am jüngsten Tage, wo die Völler heulen und zittern alle Geschlechter der Menschen, fröhlich ihre Häupter erhebt, darum weil ihre Erlösung naht. Verschließt man ihr die Dome und Kathedralen, wird sie in Katakomben singen: „Herr Jesu Christ, dein theures Blut, ist unsrer Seelen höchstes Gut;“ treibt man sie von den Bergen, wird sie in Felsklüften und Thälern jauchzen: „So lange Jesus bleibt der Herr, wird's alle Tage herrlicher.“ Wird sie heute zu Spott und Schanden, erhält sie morgen neue Kraft, daß sie auffährt mit Flügeln, wie die Adler; hängen ihre Harfen heute an den Weiden, morgen steht sie wieder da und kommet zu Hauf, Psalter und Harfe wacht auf, und sie lasset die Musicam hören. Die Kreuzgemeinde ist wie jener Apostel, von dem die Rede ging: Dieser Jünger stirbt nicht. Der Herr will, daß sie bleibe, bis er komme, wer will's ihm wehren? „So lange Christus Christus ist, wird seine Kirche dauern, nicht Menschenwitz, noch Macht und List zerstören ihre Mauern. Der starke Gottessohn hoch auf des Vaters Thron, der bleibt ihr Schutz und Hort, vor seinem Geist und Wort fliehn alle Höllenmächte.“

Einst aber wird der Tag erscheinen, wo das Kreuz Alle, auch die Widerstrebenden in den Staub werfen wird, und wo sich in dem Namen Jesu beugen werden alle derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen werden, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters, das ist der große jüngste Tag; an demselben werden Alle die Knie beugen vor dem Lamme, das erwürget ist, die Gläubigen und die Seligen willig und mit Luft, die Ungläubigen und die höllischen Geister widerwillig und gezwungen. Am jüngsten Tage wird das heilige Kreuz das Zeichen sein, das Alle anerkennen müssen als das Zeichen des Menschensohnes, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden.

Wann der jüngste Tag hereinbrechen wird, wissen wir nicht; . Zeit und Stunde hat sich der Vater im Himmel vorbehalten, und alle Vorausberechnungen sind immer zu Schanden geworden. Dagegen, in welcher Art derselbe über uns kommen wird, darüber haben sowohl der Herr, als seine Apostel mancherlei Belehrung gegeben. Diese Belehrungen aber tragen ein bildliches Kleid und sind daher verschiedener Deutung fähig. Unter den Ereignissen des jüngsten Tages betont der Herr selber das Erscheinen seines Zeichens am Himmel. „Es werden Sonne und Mond den Schein verlieren, spricht er Ev. Matth. 24, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und alsdann wirb erscheinen das Zeichen des Menschensohnes im Himmel. Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden, und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ Was ist das nun für ein Zeichen des Menschensohnes, mit dem der Herr Christus am Tage des Weltgerichts erscheinen und die ungläubige Welt erschrecken wird? Diese Frage wird bis zur Erfüllung hin immer nur vermuthungsweise beantwortet werden können. Die Vermuthungen derer aber, die in dem Zeichen des Menschensohnes das heilige Kreuz sehen, haben die größere Wahrscheinlichkeit für sich. Die Kirchenväter Chrysostomus und Christus und andre Lehrer des gottseligen Alterthums haben das Zeichen des Menschensohnes vom Zeichen des Kreuzes erklärt. Und ein heimgegangener Gottesgelehrte unsrer Zeit lallt davon: „Ein ungeheures Kreuz, ganz aus Strahlen gebildet, wird sich von der Erde in den Himmel weit hinaus über Sonne und Sterne erheben, und da, wo die beiden Balken des Kreuzes einander durchschneiden, da wird der Herr Jesus erscheinen, daß er als Erlöser und als Richter die Erde vom Kreuz herab anblicke.“ Wenn aber auch das Zeichen in den Wolken nicht die Form des Kreuzes haben sollte, das Kreuz selbst, ob vor die Augen gemalt oder nicht, wird am jüngsten Tage von Allen anerkannt werden, denn sie werden Alle sehn, in den sie gestochen haben und Alle durch Kniebeugung ehrerbietig bekennen die göttliche Majestät des Lammes, das erwürget ist am Stamme des Kreuzes.

Nachdem aber am jüngsten Tage die große Scheidung vollbracht sein wird zwischen den Seligen und den Verlornen; nachdem Alles, was sich von den durchgrabenen Händen Immanuels nicht hat locken lassen, abgethan sein wird in das ewige Gefängniß; nachdem Alle, die zur Kreuzesfahne schwuren, auf der neuen Erde unter dem neuen Himmel geeinigt sein werden als die Eine Heerde unter dem Einen Hirten: wird die triumphirende Gemeinde, von deren Augen alle Thränen abgewischt sind, das ewige Hochzeitsmahl des Lammes feiern, und auch das heilige Kreuz wird dann ein triumphirendes Kreuz sein und in alle Ewigkeit vom Halleluja der Seligen umtönt werden. Dem heiligen Johannes war die große Gnade gegeben, ein wenig durch die Perlenthore hinein zu schauen in die Stadt mit den goldenen Gassen, in das himmlische Jerusalem, das einst auf die Erde herabfahren wird, zubereitet wie eine geschmückte Braut ihrem Manne. Und was sah er da zuerst? Er sagt: Ich sahe, und siehe ein Lamm, das stand auf dem Berge Zion und mit ihm hundert und vierundvierzig Taufend, die hatten seinen Namen und den Namen seines, Vaters geschrieben an ihren Stirnen Das Lamm ist immer der Herr Christus in der Gestalt wie er unsre Sünde getragen und gesühnt bat, der Herr Christus in seiner Kreuzesschöne. Der gekreuzigte Christus ist es, dem die Blicke aller vollendeten Geister und Engel des Himmels in Ewigkeit folgen, dessen Herrlichkeit sie nicht aufhören werden zu bewundern und zu preisen. Wie große Fürsten und Helden bei Jahresfeiern sich wohl in dasselbe Gewand hüllen, in dem sie weiland ihre Siege erfochten: so erscheint Christus Jesus im himmlischen Leben als das Lamm, als welches er einst die Seinen aus den Händen des bösen Feindes errettet hat, das ist als der Gekreuzigte, als welcher er die ewige Erlösung erfand. Seine Nagelmaale sind seine Rubinen, seine Seitenwunde ist sein königliches Juwel, sein Kreuz sein ewiges Banner. Darum auch das ewige Lied, das vor ihm gesungen wird, ein österliches Triumphlied von seinem Kreuze und seiner Passion ist; es ist das Lied: „Das Lamm, das erwürget ist, das ist Christus, der gekreuzigt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichthum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.“ Es wird aber das heilige Kreuz im himmlischen Jerusalem von den vollendeten Gerechten nicht nur in ewigen Liedern gefeiert, sondern auch in ewigen Abbildern geschaut werden. Was der Baum des Lebens im irdischen Paradiese war, was das Kreuz Jesu Christi auf der sündenvollen Erde war, das wird auf der neuen paradiesischen Erde unter dem neuen Himmel das Holz des Lebens in alle Ewigkeit sein. Der Geist ruft den Gemeinen zu: Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Holze des Lebens, das im Paradiese Gottes ist; und derselbe Geist zeigt dem Seher der Offenbarung dieses Holz des' Lebens, wie es mitten auf der Straße des neuen Jerusalem und auf beiden Seiten des krystallenen Stromes steht, zwölferlei Früchte tragend Monat für Monat, und mit Blättern geschmückt, die da dienen zur Gesundheit der Völker. Dieses Lebensholz der jenseitigen Welt ist für die Ewigkeit der Ewigkeiten das blühende fruchtreiche Monument der Erinnerung an Golgatha und an den Stamm des heiligen Kreuzes.

Das wird das letzte, das wird das ewige Ostern sein, wenn vor dem Lamme die Auserwählten ohne Unterbrechung feiern und von seinem Holze die Früchte des Lebens essen. Dann wird man weder Halbmond noch Rose kennen, nicht einmal mehr als eine Thorheit der Ahnen; aber in alle Ewigkeit wird man singen und sagen von dem Kreuz, dem heiligen Kreuz.

Ich sah einmal Schwalben über einem Strome flattern, und als ich näher zusah, schien es mir, als ob die armen Vöglein allerlei Versuche machten, dem Wasser auf den Grund zu kommen. Aber es gelang ihnen nicht. Sie vermochten nur leise und obenhin die Wellen mit ihren Flügeln zu berühren, in die Tiefe tauchten sie nicht ein.

Wie die Schwalben über dem tiefen Strome, so schwebt menschliche Betrachtung und Rede über den wunderbaren Geheimnissen des heiligen Kreuzes. Auch das gottinnigste Denken, auch das andächtigste Versenken bleibt an der Oberfläche der heiligen Tiefen der Welterlösung haften; die Tiefen selbst sind über alles Denken groß, .über alles Sinnen erhaben. Man kann den Bau des Erdballs durchspähen, man kann die fernsten Zonen entschleiern, man kann Sonnensysteme durchforschen und Kometenbahnen berechnen: aber das' Mysterium von Golgatha hat etwas so Gewaltiges, Unendliches, Unberechenbares, Unbegrenztes, daß auch der vom Geiste Gottes durchglühteste Menschengeist immer nur seine Fittige mit etlichen Tropfen benetzen, aber nicht den Abgrund des gottmenschlichen Gnadenwunders erschöpfen kann.

Wir haben der Geschichte, der Bedeutung, den Vorbildern, den Abbildern, den Gegenbildern, der Anziehungskraft und der Zukunft des heiligen Kreuzes mit frommem Sinnen nachgedacht. So haben wir siebenmal mit den Flügeln unsrer Seele das heilige Kreuz berührt. Gott wolle Gnade geben, daß unsre Herzen Frische gewonnen haben durch die paar Tropfen des Erkenntnisses des Wortes vom Kreuze, und wolle uns alle einst durch seine grundlose Barmherzigkeit hinüberführen in die selige, ewige Welt - wo wir nach Leib, Seele und Geist von den Wassern des Heils zu unvergänglicher Erfrischung umfluthet und umrauscht, werden. Unser Wissen ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk; wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Wir sehen, jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Amen.

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