Quandt, Emil - 6. Die Anziehungskraft des heiligen Kreuzes.

Quandt, Emil - 6. Die Anziehungskraft des heiligen Kreuzes.

Wir haben die Vorbilder, die Abbilder und die Gegenbilder des Kreuzes von Golgatha betrachtet. Wir kehren von der Betrachtung dieser Bilder zurück zum Anschauen des heiligen Kreuzes selbst.

„Sie gehet hin zum Grabe, daß sie daselbst weine,“ so sprachen die Juden Ev. Joh. 11, 31 von der Maria als sie das Gedächtniß ihres entschlafenen Bruders an feinem Grabe heiligen wollte. Dieses Wort kennzeichnet auch unsre Stimmung. Wir gehen hin zur Marterund Todesstätte des Sohnes Gottes, der sich nicht schämet, unser Bruder zu heißen. Wir stellen uns unter sein Kreuz mit schmerzensreicher Seele, um sein Gedächtniß zu heiligen, um unverwandt auf den Geliebten zu schaun, der, mit unseren Sünden beladen, mit unserer Strafe heimgesucht, den Tod für uns erleidet. Nirgends ist unserm andächtigen Herzen wohler, nirgends ist unserm sinnenden Geiste heimathlicher, als am Stamme des Kreuzes Angesichts des Hauptes voll Blut und Wunden. Nichts lockt uns so sehr zu stiller Beschaulichkeit, zu tiefer, anbetender Abgeschiedenheit, als unser Heiland am Kreuz. „Ich bin durch viele Zeiten, wohl gar durch Ewigkeiten in meinem Sinn gereist; doch wo ich hingekommen, nichts hat mir's Herz genommen, als Golgatha: Gott sei gepreist!“

Es ist ja vieles Schöne und Herrliche in Gottes weiter Welt, und wir mögen uns dessen dankbar freuen; es schlägt manches treue, liebe Herz unter denen, die mit uns den Pilgergang In jene Welt gehn, und wir umfassen es mit Gegenliebe; aber alles Liebe und Schöne und Herrliche in der Welt verschwindet uns gegenüber unserm Gott im Fleische, unserm Heilande Jesus Christus, also daß wir Alles für Schaden achten um seinetwillen und anbetend von Ihm sprechen: „Creatur ängstet nur, du allein kannst geben Freude, Fried' und Leben!“ Der Heiland selbst aber, o er ist uns schön in jeder Gestalt, schön als Kind in der Krippe, schön als Knabe im Tempel, schön als Jüngling in der Verborgenheit Nazareths, schön als Prediger auf dem Berge, schön als Wohlthäter der Kranken, schön als Gebieter des Sturmes' und Meeres. Wir sehen in allen diesen Gestalten unsers Herrn seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit -: aber am schönsten, am herrlichsten ist Er uns, wie Er am Kreuze hängt ohne Gestalt und Schöne mit der Dornenkrone auf dem Haupte in seines rosinfarbnen Blutes Pracht; immer wieder müssen wir Ihn Anschauen in dieser seiner unvergleichlichen, milden Kreuzesmajestät, und seine durchgrabenen Hände küssend und die für uns durchbohrten Füße mit unsern Thränen netzend, singen wir, beten wir, stammeln wir: „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart; ich geb' mich hin dem freien Triebe, mit dem ich Wurm geliebet ward; ich will, anstatt an mich zu denken, in's Meer der Liebe mich versenken. Wie bist du mir so sehr gewogen, und wie verlangt dein Herz nach mir! Durch Liebe sanft und stark gezogen, neigt sich mein Alles auch zu dir. Du traute Liebe, gutes Wesen, du hast mich, ich Hab' dich erlesen.“

Wir sind es nicht allein, für die das heilige Kreuz, der Thron des Lammes, eine solche geheimnißvolle Anziehungskraft hat. Abgesehn von den ungezählten, himmlischen Heerschaaren der heiligen Engel und Erzengel, die ihre Lust sehn am Kreuze des Mittlers, und Tag und Nacht anbetend rufen: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig zu nehmen Preis, Ehre und Ruhm in alle Ewigkeiten! -“ war und ist das heilige Kreuz zu allen Zeiten, unter allen Völkern der Erde, unter allen Geschlechtern, Ständen und Lebensaltern derMagnet, zu dem's die Geister mit Wunderkräften zieht.

Das war vor mehr als 1800 Jahren, als Christus Jesus blutig und bleich am Kreuze litt und verschied. Der Herr war es gewohnt gewesen während seines ganzen Wandels im Fleisch, Menschenseelen zu erobern und zu fesseln. Schon seine Krippe hatten die Hirten Israels umstanden, und die Weisen aus dem Morgenlande beteten den Säugling als ihren König an. Zu dem Jüngling in Nazareth hatten sich oft, so erzählt eine alte Ueberlieferung, seine Landsleute begeben und gesprochen: Lasset uns zur Freundlichkeit gehn! Auf seinen Wanderungen durch sein Mannesleben voll Worten des Heils und voll Wundern der Gnade hatten ihm liebende Jünger, sorgende Jüngerinnen und bewunderndes Volk das Geleite gegeben, und wo er saß und ruhte, waren Marienseelen still beflissen auf des Einigen Genieß. Aber so gewaltig hat er niemals Menschenseelen an sich gezogen, als da er am Kreuze hing. Der bußfertige Schacher hatte vorher vielleicht kaum etwas vom Herrn gehört, hatte ihn vielleicht noch gar nicht gekannt, hatte keins seiner Wunder erfahren, in welchen der Herr den Glanz seiner göttlichen Eigenschaften offenbarte - und doch sprach er zu dem gottmenschlichen Dulder am Kreuz sein: „Herr, gedenk an mich“ und glaubte an den Herrn und ward in diesem Glauben selig. Desgleichen der römische Hauptmann ward am Kreuze überwältigt von geheimnißvoller Macht und rief: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen. Das Volk aber, das dabei war und zusah, da sie sahen, was da geschah, schlugen sie an ihre Brust und wandten um. Sie hatten in blinder Wuth den Tod des Gesalbten Gottes verlangt, doch nun, da er am Kreuze starb, überwältigte sein Tod ihre verhärteten Gemüther, daß sie mit dem Gefühl brennender Reue im Herzen heimkehren in ihre Häuser. Der Herr aber, nachdem er am Kreuze Alles vollbracht hatte, starb und ward auferweckt und aufgenommen in die Herrlichkeit des Vaters. Aber seiner heiligen zwölf Boten Zahl, erfüllt mit dem heiligen Geiste, zog hinaus nach den vier Orten der Welt und predigte das Wort vom Kreuz. Die Boten starben, aber das Wort vom Kreuze starb nicht, es ward gepredigt durch alle Jahrhunderte hindurch, nun schon fast zwei Jahrtausende lang. Und dieses Wort vom Kreuze, dies Evangelium vom Tode des Herrn, hat sich durch alle Zeiten hindurch so schöpferisch erwiesen, wie einst das „Werde“ des Allmächtigen im Anfang der Tage. Wie ein Blitz hat es die Tempel der Götzen in den Grund geschmettert, wie ein Magnet hat es die sich einander ablösenden Geschlechter der Menschen allmächtig angezogen. Am Ende des ersten Jahrhunderts nannten schon 500,000 Menschen das heilige Kreuz mit gläubiger Ehrfurcht; im 5. Jahrhundert beteten schon 15 Millionen den Gekreuzigten an; im 10. Jahrhundert umschlang das Band der Religion des Kreuzes schon 50 Millionen; im 18. Jahrhundert 200 Millionen, jetzt über 300 Millionen. Zu allen Zeiten, wo nur irgend das Waizenkorn des Wortes vom Kreuz ein wenig Boden fand, sproßte es auf und verwandelte die Einöden' in fruchtbare Gefilde Gottes, so daß nun heute in allen fünf Erdtheilen und auf den Inseln des Meeres gläubige Gemeinden den Herrn umblühen und als Lohn seiner Schmerzen anbetend am Stamme seines heiligen Kreuzes niedersitzen. Diese Anziehungskraft des Kreuzes, wie sie alle Zeiten umfaßt, so umfaßt sie auch alle Völker. So verschieden die Völker auch sonst sind in Sitten und Bräuchen, in Sprache und Art, das Kreuz und der Gekreuzigte übt auf sie alle die gleiche ergreifende und fesselnde Macht aus. Aus dem Geschlechte Israels waren jene ersten heiligen Zeugen, die in die Welt hineinriefen: Es sei ferne von uns rühmen, denn allein von dem Kreuze Christi. Aber als hundertfaches Echo ist dies Bekenntnis) zurückgeschallt aus der Mitte der Völker. Die Griechen beugten sich vor dem Gekreuzigten, und die Römer beteten ihn an; unsre deutschen Väter umklammerten das Kreuz, und die Slawen, ihre Feinde, huldigten gleicher Weise dem heiligen Zeichen. In Ost und West, in Nord und Süd, die Weißen und die Schwarzen, Culturvölker und Nomaden der Wüste, freie Nationen und geknechtete Nationen, - alle fühlen sich gezogen von der Macht des Mannes am Kreuze. Und wenn in unsern Tagen und bei uns zu Lande verlassene Tempelhallen sich füllen, sind es die Moralprediger, sind es die Verkündiger menschlicher Weisheit, an deren Munde die Schaaren hängen? O nein, die leersten Kirchen sind bei uns diejenigen Kirchen, da man von allem Möglichen predigt, nur nicht von dem Einen, was noth ist, vom Kreuze Jesu. Was die Leute lockt, was die Kirchen füllt, es ist immer das Wort vom Kreuze. Der Tag an dem die meisten Christen in die Kirche strömen, es ist der Tag der Feier des Kreuzestodes Christi, der Charfreitag; die heilige Handlung, bei der die tiefste Andacht herrscht, es ist das Sacrament des für uns in den Tod gegebenen Leibes, des für uns vergossenen Blutes Christi. Und wie's hier in der Heimath ist, so ist's auch draußen bei den Heiden auf den Feldern der Mission. Während alles Andre die Herzen der Heiden kalt läßt, wie Steine, zerschmelzen ihre Herzen vor dem Kreuze, wie der Schnee vor der Sonne. Das Wort vom Kreuz ist die Kraft, die die Heiden bekehrt. Die Bekehrung der Karen en in Hinterindien fiug damit an, daß viele Thränen über ihre Wangen hinabrollten, als sie zum ersten Mal die süße Botschaft vernahmen, daß Jesus Christus für die armen Sünder am Kreuze gestorben sei. Die Bekehrung bei den Eskimos auf Grünland sing damit an, daß Einem unter ihnen, Namens Kajarnak, die Leiden Christi zu Herzen gingen und er tieferschüttert den Missionar fragte: „Wie war das? Erzähle uns das noch einmal?“ Unter einem Indianerstamme Amerikas trat einmal ein Missionar auf, der, ob er nun nichts wußte oder nichts wissen wollte von dem Lamm, das der Welt Sünde trägt, allein das Gesetz predigte und wider Diebstahl, Hurerei, Mord u. s. w. gewaltig eiferte. Da stund ein Indianer auf und sprach: „Was willst du hier bei uns? Das wissen wir ja Alle längst. Du kannst uns nicht helfen!“ Bald darnach aber kam zu denselben Heiden ein andrer Prediger, der ihnen den gekreuzigten Christus vor die Augen malte, und der Indianer von vorhin sagte flugs: „Du bist ein Mann für uns, du predigst Kraft!“ - Vor derselben Kraft beugten sich auch die Südsee-Insulaner. Eines Tages kam ein ganz alter heidnischer Südsee-Insulaner in Missionar Pitmanns Wohnung. „Nun, alter Freund, was bringst Du?“ - Ich wünsche, mich Gott in der Taufe zu eigen zu geben. - „Wünschest Du das von ganzem Herzen?“ - Ja, von ganzem Herzen. - „Liebst Du auch Gott und Christum?“ - Ja, ich liebe ihn. Ich bin ein elendes Wesen gewesen, ein großer Krieger dieses Orts und habe manch' Einen erschlagen in den Tagen meiner Unwissenheit. Aber jetzt ist ein neuer Tag. Wir hören jetzt Dinge, die wir nimmer hörten zuvor.- Ich hörte Dich letzthin predigen über die Worte: Es sei ferne von mir rühmen, denn allein von dem Kreuze unsers Herrn Jesu Christi. Ich habe viel nachgedacht über das Kreuz Christi! - „Weißt Du, wer Christus ist?“ - Er ist der Sohn Gottes. - „Was trieb ihn, in diese Welt zu kommen?“ - Das wahre Opfer wollte er sein für die Sünde, damit wir selig würden! Der Mann ward getauft auf den Tod Christi. So steht das heilige Kreuz da als der Fels, zu dem die Tauben flüchten aus allerlei Volk unter dem Himmel.

Das heilige Kreuz offenbart seine ziehende Macht in gleicher Weise an den verschiedenen Lebensaltern und Geschlechtern, an Greisen und Kindern, an Männern und Frauen. Man hat es oft gesagt, daß auf die Frauen die Anziehungskraft des Kreuzes am größten wäre. Es ist ja wahr, schon damals, als der Herr, verlassen von den Freunden, sich unter seinem Kreuze nach Golgatha hinschleppte, waren es die Töchter Jerusalems, die es wagten, laut um den duldenden Erlöser zu klagen. Frauen standen liebend unter seinem Kreuze, Frauen hielten Salben und Specereien für seine Bestattung bereit. Eine Frau, die Purpurkrämerin Lyda, war es, die als die erste Seele in Europa dem Gekreuzigten ihr! Herz schenkte. Und noch heute, wenn Männer stolz und vornehm sich abwenden von dem Kreuze Christi, sammeln sich die Frauen doch gern um seinen Marterthron mit Herzen, die brennen dies einzig zu hören, was Jesus, ihr Heiland, sie will belehren. Aber man kann nicht sagen, daß das Kreuz die Männer weniger anzöge. Die seelenvollen Lieder, die fromme Männer aller Zeiten zu Ehren des heiligen Kreuzes gedichtet, sind allein Zeugniß genug, wie sehr das heilige Kreuz auch die Männer fesselt. Und ist es nicht eine, weibliche Liebe zum Kreuz weit überragende Gluth der Empfindung, wenn der selige Hofacker von sich sagte: „Ich will das Kreuz Christi predigen, so lange ein Athem in mir ist. Es ist Schade für jedes Wort, das nicht von diesem großen, seligen Thema handelt; würde meine Zunge je ein anderes Evangelium predigen, als dieses, so wäre sie nichts anderes werth, als daß sie mir aus meinem Munde geschnitten würde!“ Das Kreuz zieht und fesselt die Männer, wie es die Frauen ergreift. Es beweist auch diese seine gleiche Anziehungskraft eben sowohl im Alter wie in der Jugend. Wenn der Schall der Predigt vom Kreuze 'unter den Wilden ertönt, dann erleben die Missionare es oft, daß sich Kinder und Greise zugleich in die Schule drängen, um lesen, in dem guten Wort vom Kreuze lesen zu lernen. Und auch bei uns, wenn die alte Großmutter ihr Enkelkind auf dem Schooße hat und ihm erzählt von dem lieben Heiland, der für Alt und Jung am Kreuzesstamm sein Blut vergossen, wen mag wohl das heilige Kreuz mehr anziehn, die Großmutter, die mit beredten Lippen davon erzählt, oder das Kind, das mit leuchtenden Augen und mit lauschenden Ohren zuhört?

Die Anziehungskraft des Kreuzes reicht auch hinein in alle Stände. Das Leben auf den Höhen und in den Niederungen des Lebens hat ja manche Verschiedenheiten; der Arme hat andre Sorgen als der Reiche, und der Gebildete hat andres Verlangen, als der Ungelehrte. Doch das Kreuz Jesu Christi zieht mit gleicher magnetischer Macht Arm und Reich, Gelehrte und Einfältige. Die Gemeinde der Heiligen aller Zeiten, die aus dem Geist des Herrn gezeuget, ihm gebeuget dem Banner des Kreuzes folgt, besteht zwar zumeist aus Zöllnern und Fischern und armen Sünderinnen, aber sie zählt auch Fürsten und Gewaltige unter ihren Gliedern. Nicht blos armes Volk singt bei uns: Meinen Jesum laß ich nicht, weil er sich für mich gegeben; sondern auch die Kuppel des Residenzschlosses unsrer Könige trägt die bekenntnißvolle Inschrift: Es ist in keinem Andern Heil, ist auch kein andrer Name den Menschen gegeben worden, darinnen sie selig werden, als der Name Jesu Christi. Das Kreuz Jesu Christi, Jesus Christus am Kreuz zieht alle Stände an, alle Geschlechter und Alter, alle Völker, alle Zeiten, und es sind goldene, wahre Worte, die einst Napoleon am glanzlosen Abende seines glänzenden Lebens auf St. Helena von dem Heilande der Welt sprach: „Man bewundert die Eroberungen Alexanders. Doch Christus ist ein Eroberer, der zu ihrem Besten an sich zieht, mit sich vereinigt und incorporirt, nicht etwa eine Nation, nein das Menschengeschlecht. Welches Wunder! Noch heute würden Millionen Menschen für ihn sterben!“ -

So ist denn die Anziehungskraft des gekreuzigten Christus eine offenkundige, weltgeschichtliche Thatsache. Wie haben wir diese Thatsache uns zu erklären und zu begreifen? Nun zunächst als Erfüllung uralter feierlicher Verheißungen beider Testamente. Im alten Testamente war es durch den Mund des Propheten Jesaias zuvor gesagt von dem leidenden Gerechten „Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, so wird er Samen haben und in die Länge leben, und des Herrn Vornehmen wird durch seine Hand fortgehn. Darum daß seine Seele gearbeitet hat, wird er seine Lust sehen und die Fülle haben. Und durch sein Erkenntniß wird er, mein Knecht, Viele gerecht machen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm große Menge zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben; darum daß er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Uebelthätern gleich gerechnet ist und Er Vieler Sünde getragen hat und für die Uebelthäter gebeten.“ Und gleicher Weise steht's geschrieben als eine neutestamentliche Verheißung aus des Heilands eignem Munde: „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehn!“ und das sagte der Herr, wie der heilige Geist uns ausdrücklich erläuternd hinzusetzt, zu deuten, welches Todes er sterben werde! Wenn daher in allen Zeiten unter allen Völkern dem gekreuzigten Jesus Kinder geboren werden, wie der Thau aus der Morgenröthe; wenn sich vor seinem Kreuze die Starken in den Staub legen und die Schwachen Kraft nehmen aus feinem Blut und Wunden; wenn die Stimmen derer, die dem Lamme Gottes unschuldig in Liedern der feiernden Anbetung die Ehre geben, über die Erde ertönen wie großes Wasserrauschen; so spricht der Christ: Es muß also geschehen, auf daß die Schrift erfüllet werde; das heilige Kreuz ist der Magnet der Seelen, weil der Herr es also gewollt und verheißen hat.

Aber die göttliche Verheißung, die dem Leiden und Sterben des Herrn Jesu am Kreuze gegeben ist, kann doch nur als äußere Ursache der Anziehung, die dasselbe auf die Menschenseelen ausübt, in Betracht kommen. Der tiefste Grund der Anziehung liegt in dem, was am Kreuze geschieht, selbst. Es ist die abgrundstiefe Liebe, von der wir singen: „Ich kann's mit meinen Sinnen nicht erreichen, womit doch dein Erbarmung zu vergleichen;“ es ist die unausdenkbar große erbarmende Liebe Jesu Christi, die am Kreuze zur Offenbarung kommt, es ist diese Liebe, welche dem heiligen Kreuze seine unermeßliche ziehende Kraft verleiht. Denn was überhaupt einen Menschen, was die Menschheit zieht und fesselt, es ist die Liebe. Was uns Vater und Mutter theuer macht, daß wir sie noch über ihren Gräbern segnen, es ist die Liebe, die sie uns schenkten; was uns Gott im Himmel groß und anbetungswürdig macht, ist seine Liebe; seine Allmacht würde uns kalt lassen, seine Herrlichkeit und Gerechtigkeit würde uns erschrecken, seine Liebe lockt und zieht uns, daß wir bekennen: Wie groß ist des Allmächtgen Güte? Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt, der mit verhärtetem Gemüthe den Dank erstickt, der ihm gebührt! Nun, wir haben das Kreuz erkannt als das Monument der vollendeten gottmenschlichen Liebe; die größte Liebe, mit der uns Gott. Mit der uns Menschen lieben können eine Liebe, deren Länge, Breite, Tiefe und Höhe uns schwindeln machen, eine Liebe, wie Gottes Engel sie nur träumen, Menschenherzen nicht fassen können, sie leuchtet aus den brechenden Augen Christi am Kreuz, sie spricht aus den bleichen Lippen Christi am Kreuz, sie strömt aus den heiligen fünf Wunden Christi am Kreuz. Wenn mein Gott sich seinen Sohn vom Herzen reißt um meinetwillen, wenn Gottes Sohn Mensch wird um meinetwillen, wenn der Mensch Christus Jesus stirbt um meinetwillen, am Holze des Fluches stirbt um meinetwillen - wollt' ich unempfindlich sein, o, ich wäre mehr als Stein! Nicht das Holz des Kreuzes, sondern die Liebe am Kreuz ist der Magnet der Seelen. Der Herr ist der Welteroberer mit dem Schwert der Liebe; und wenn die Welt sich vor dem heiligen Kreuze neigt, so neigt sie sich, weil das Kreuz das Wahrzeichen des Gipfelpunktes seiner Liebe ist.

Ist es aber die große gottmenschliche Liebe, die in dem Kreuz und durch das Kreuz uns zieht, dann ist es kein Wunder mehr, daß sich zu dem, der am Kreuz erblaßte, dankbar die Menge der Millionen bewegt, dann ist vielmehr das ein Wunder, daß das Wort vom Kreuze immer noch so Vielen ein Aergerniß und eine Thorheit ist, daß die Predigt von dem Blute Jesu Christi immer noch an so Vielen verloren ist, daß unter allem Volke sich immer noch so Viele des Kreuzes Christi schämen. Wie ist ihm denn? Will der an's Kreuz Erhöhte nicht alle zu sich ziehn? Sind seine durchbohrten Hände nicht ausgebreitet für das ganze Menschengeschlecht? Woran liegt es, daß die Anziehungskraft des Kreuzes Christi doch ihre Schranken und Grenzen zu haben scheint?

Daß das Kreuz des Herrn nicht die ganze Welt zu seinen Füßen legt, liegt nicht am Herrn und seinem Kreuze, sondern theils an denen, die das Wort vom Kreuze predigen, theils an denen, die das Wort vom Kreuze hören.

Man erzählt vom Magnete, daß durch Arsenik seine Anziehungskraft gelöscht werde. So löschen die Anziehungskraft des Kreuzes diejenigen, die das Kreuz predigen nicht mit einfältigen Worten, die der heilige Geist lehrt, sondern mit klugen Worten menschlicher Weisheit, von denen St. Paulus sagt, daß dadurch das Kreuz Christi zu Nichte werde. Wenn in vergangenen Zeiten geklagt werden mußte, daß von vielen Predigern das Kreuz Christi gar nicht gepredigt wurde, sondern rationalistische Tugendlehre, so muß in unserer Zeit geklagt werden, daß von vielen Predigern, die das Kreuz Christi predigen, dasselbe bestreut wird mit dem Arsenik der Redensarten eigner Weisheit und Speculation. Ein Rationalist will Niemand mehr sein, der Name ist übellautend geworden; so predigt man denn das Kreuz Christi, aber nicht gemäß biblischer und kirchlicher Lehre, sondern nach den Fündlein des eignen Verstandes. Und wo das geschieht, da zieht das Kreuz nicht. Nur das schlichte Kreuz der Bibel, an dem der Christus der Bibel, der Sohn Gottes und Mariens, sein Leben opfert zur Erlösung für Viele, nur dies Kreuz kann Seelen auf die Dauer fesseln und in der Gemeinschaft Christi erhalten. Aber das neumodische Kreuz, an dem ein Erlöser hängt, nicht wie er geoffenbart ist, sondern wie man ihn sich erdenkt, ein Erlöser, dessen Leben erst mit seiner irdischen Geburt beginnt oder dessen göttliche Eigenschaften sehr zweifelhaft sind, solches Kreuz hat weder Saft noch Kraft, weder Heil noch Tugend. Die Anziehungskraft des heiligen Kreuzes wird vielfach verkümmert und beschränkt durch die Worte derer, die das Kreuz predigen.

Nicht minder durch ihre Werke. Nichts benimmt dem Kreuze Christi so sehr seine magnetische Eigenschaft, als wenn der Verkündiger des Kreuzes anders lebt, als er lehret, und während er mit den Lippen ein Herold des Kreuzes ist, in der That und mit dem Wandel ein Verleugner desselben ist. Die Hände der Heuchler sind vergiftete Hände, darum wenn sie das Kreuz tragen, dann zieht es nicht. Wollt ihr Posaunen der Gnade sein, so räumt euch der Gnade erst selber ein. Dem, der selber glaubt, glauben auch Andere leicht; liebst du das Herz, das sterbend für dich brach, so lieben dir viel andre Herzen nach. Aber wenn Einer selbst nicht achtet, was er anpreist und selbst den Weg nicht geht, den er weist, so macht er selbst sein Amt und seinen Beruf zu nichte und wird nicht nur selbst verwerflich, sondern predigt auch Andern vergeblich. Ein Prediger, der das Kreuz predigt, ohne unter dem Kreuze zu leben, ist wie ein Säemann, der das gute Weizenkorn sät und sofort selbst zertritt, daß es weder aufgehn, noch Frucht bringen kann. Wehe demselbigen Menschen! Nicht nur sein eignes Blut, auch das Blut seiner Brüder wird der Richter der gerechten Rache von seiner Hand fordern!

Viel mehr aber noch als an denen, die das Wort vom Kreuze predigen, liegt es an denen, die das Wort vom Kreuze hören, wenn der erhöhete Heiland nicht Alle, sondern immer nur ein kleines Häuflein in sein Sterben und in sein Leben zieht. Der Magnet zieht die Eisentheilchen an, ohne daß sie widerstreben können, sie müssen ihm folgen. Aber Menschenherzen sind nicht metallener Art. Wenn ein Mensch sich von der gekreuzigten Liebe nicht laden und locken lassen will, so kann ihn selbst die ewige Allmacht nicht dazu zwingen; denn der Mensch ist frei, daß er auch der vollendeten Liebe widerstehen und in die Hölle fahren kann, wenn er will. Wie der Heiland, ehe er an's Kreuz erhöht ward, trotz aller seiner Liebe, mit der. er um die Menschenseelen warb, weinend zu Jerusalem sprechen mußte: Jerusalem! Jerusalem! Wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel und ihr habt nicht gewollt! -, so muß er auch seit seiner Erhöhung an's Kreuz es erleben, daß von den Vielen, die da berufen werden, immer nur die Minderzahl ihm in die Arme läuft, weil die Vielen nicht kommen wollen. Die Vielen folgen einem andern Zuge. Denn nicht blos der gekreuzigte Christus zieht und zieht an, sondern auch sein Widersacher, der Teufel zieht und zieht an; jener knüpft bei uns Sündern an; an den gebliebenen Rest der Gottebenbildlichkeit, nämlich an die Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungssehnsucht; dieser knüpft bei uns an an das Fleisch und seine Begierden in uns. Der gottselige Johann Gerhard sagt davon: „Auf der einen Seite zieht Christus die Erlösten, auf der andern Seite trachtet der Teufel, sie rückwärts zu ziehn. Jener zieht nach oben, dieser nach unten; jener zum ewigen Leben, dieser zum ewigen Tode; jener zu unvergänglicher Freude, dieser zu unaufhörlicher Pein; jener zur unverwelklichen Krone, dieser zur immerwährenden Schande. An uns ist es, Christo zu folgen, der aufwärts zieht, und zu widerstehn dem Teufel, der niederwärts zieht.“

Wohl uns, wenn wir zu denen gehören, die dem Teufel widerstehn und Christo folgen. Wohl uns, wenn wir dem angehören, der uns je und je geliebet hat und uns zu sich gezogen hat aus lauter Güte. Denn derselbe wird uns auch einst über Staub und Zeit hinaus in die Hütten des ewigen Friedens ziehn. Er selbst, der einst für uns an's Kreuz sich erhöhen ließ, ist nun längst erhöhet in den Himmel, wo er thronet zu Gottes Rechten und statt der Niedrigkeit ihn Herrlichkeit umgiebt. Er will aber, daß, wo Er ist, auch die bei ihm seien, die der Vater ihm gegeben hat; lasset auch ein Haupt sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?

Darum die sich hier von seinem Kreuze haben ziehn lassen, sie zieht er einst auch nach sich in seine Herrlichkeit. Das ist gewißlich wahr: Sterben wir mit, so werden wir mit leben; dulden wir, so werden wir mit herrschen! „Das Kreuz, sagt ein gesalbter englischer Prediger, ist das Holz, auf welchem wir uns aus dem Wagen des Irdischen in den Himmel retten; es ist das große Bundesschiff, das alle Stürme überdauert und glorreich in den himmlischen Hafen einzieht. Es ist der Wagen mit goldenen Säulen und silbernem Getäfel, bekleidet mit dem Purpur der Versöhnung unsers Herrn Jesu Christi.“ Aber wer stände denn schon mit beiden Füßen in diesem Himmelswagen des Kreuzes? Wer hätte sich denn schon ganz und völlig mit Leib, Seele und Geist dem mächtigen Zuge des heiligen Kreuzes hingegeben? Klebt uns allen nicht noch viel vom alten, widerstrebenden Adam an? Lasset uns anhalten an dem Gebete: Liebe, zieh' uns in Dein Sterben! Laß mit Dir gekreuzigt sein, was Dein Reich nicht kann ererben: führ' in's Paradies uns ein! Amen.

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