Quandt, Emil - 2. Die Bedeutung des heiligen Kreuzes.

Quandt, Emil - 2. Die Bedeutung des heiligen Kreuzes.

Nachdem wir die Geschichte des heiligen Kreuzes, sowohl die biblische, als die legendarische erwogen, schreiten wir in unsern Betrachtungen über das Kreuz in der Art vorwärts, daß wir zunächst der Bedeutung desselben nachdenken.

Das heilige Kreuz ist von den Vätern der Kirche mit tiefen und gedankenvollen Worten gedeutet worden. Sie haben es die Leiter genannt, auf welcher man gen Himmel steigt; den Gnadenthron, wo der Sünder Vergebung findet; den Triumphwagen des Feldherrn über das Heer Gottes. Sie haben es als die geheime Mitte der Welt und der Weltgeschichte bezeichnet, welche das All in sich verknüpft, wie die Nabe eines Rades alle Speichen trägt und den Radkranz bewegt. Alles aber ruhet in der Mitte. Nicht minder gedankenvoll haben die Sänger der Kirche den Sinn des heiligen Kreuzes gedeutet. Da singt der Eine: „Edler Baum, Triumpheszeichen, Heil der Welt, was kann Dir gleichen? Du bist ohne Deines Gleichen, nie an Blüth', an Frucht erreicht. Arzenei der Christenseelen, die Erschlafften wirst Du stählen, und wo Menschenkräfte fehlen, Deiner Kraft wird Alles leicht!“ Da singt ein Anderer: „Baum des Glaubens, unter allen Bäumen Du der edelste; denn an Blüthen, Laub und Früchten kommt im Wald kein Baum Dir gleich; süßes Holz Du, süße Nägel, süße Last trägst Du an Dir.“ Da singt ein Dritter: „Der Schädelstätte Gipfel tragt keine Kronen stolz, nicht hohe Eichenwipfel, nicht köstlich Cedernholz; doch alle Königscedern, die einst der Hermon sah, sie neigen ihre Kronen dem Kreuz auf Golgatha. Nicht giebt es dort zu schauen der Erde Herrlichkeit, nicht grüngestreckte Auen, nicht Silberströme breit; doch alle Pracht der Erde verging mir, als ich sah das edle Angesichte am Kreuz auf Golgatha.“

Durch alle diese und ähnliche Deutungen des heiligen Kreuzes geht ein lauter Ton des Jubels, vermählt mit einem leisen Tone der Wehmuth. Denn sie heben vor allem das Licht des Kreuzes hervor, ohne doch seines Schattens ganz uneingedenk zu sein. Es ist mit dem heiligen Kreuze, wie mit dem fluchenden Weltmeer. Man bewundert das blaue Meer in seinem Wogen und Wallen und läßt sich die Seele von träumerischen Ahnungen schwellen; aber man kann auch nicht vergessen, welche Opfer das Meer kostet. Das Kreuz auf Golgatha hat auch eine dunkle Seite, aber seine lichte Seite ist bedeutender.

Das Kreuz auf Golgatha ein Monument des vollendeten Schmerzes, der vollendeten Sünde und der vollendeten Verführung - das ist seine dunkle Seite. Das Kreuz auf Golgatha ein Monument des vollendeten Gehorsams, der vollendeten Liebe und der vollendeten Erlösung -das ist seine lichte Seite.

Monumente des Schmerzes zu sehen auf Erden, sind ja keine weiten Gänge nöthig. Jede Wiege ist eine Prophetin des Schmerzes, jeder Leichenstein das Denkmal eines ausgelebten Lebens voll Muhe und Leid - und zwischen Wiege und Leichenstein wer kann sie zählen, die Thronen, die die Wangen des Erdenpilgers nässen? Denn Schmerz gehört zum Sold der Sünde, und des Lebens ungemischte Freude wird darum keinem Sterblichen zu Theil, weil jeder Sterbliche in Sünden empfangen, geboren und verflochten ist. Aber ist auch ein Schmerz wie dieser Schmerz, den der Sohn Gottes am Kreuze auf Golgatha erduldet? Den Er erduldet, an den der Schmerz auch nicht das geringste Anrecht hat, da er, ohne Sünde empfangen und geboren, ohne Sünde gewirkt und gelebt hat? „Ewig soll er mir vor Augen stehen, wie er als ein stilles Lamm dort so blutig und so bleich zu sehen hänget an des Kreuzes Stamm!“ Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen - in grundlose Tiefen des Seelenschmerzes weist dieses Wort; jedes irdische Wort darüber muß unendlich leer erscheinen; mein Gemüth ist viel zu blöde, daß ich würdig davon rede. In Gethsemane schon preßte die Vorahnung von der Gottverlassenheit dem Mittler Schweiß wie Blutstropfen aus, hier am Kreuze nun überkommt ihn die ungeheure Wirklichkeit dieses Wehs. Mich dürstet - weg mit aller entleerenden allegorischen Deutung dieses Wortes; „der Nägel ward er empsindend,“ diese buchstäbliche Auslegung eines alten Kirchenliedes ist die wahrste. Die Gottverlassenheit der Seele übersetzt sich an seinem heiligen Leibe in wühlende Flammenqual, und preßt ihm den Seufzer „Mich dürstet“ aus als einen Anklang an die Klage des reichen Mannes: Kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme! - Jesu Mutter stand voll Schmerzen, tiefen Gram im wunden Herzen, als der Sohn am Kreuze litt -: Marieus Sohn ist unser Heiland, dem unser Herz gehört, so stehen auch wir voll tiefsten Mitleids an seinem Kreuze, als dem Monumente seines Schmerzes, und ein Schwert geht durch unsere Seele.

Das Kreuz auf Golgatha ist aber nickt blos ein Monument des Schmerzes, sondern auch der Sünde. Es giebt der Malzeichen für die Sünde der Menschen ja viele auf Erden. Die Dornen und die Disteln auf unsern Lebenswegen erinnern einen Jeden an den Fall Adams und Evas aus der Unschuld in die Schuld. Die Zerrüttungen und Umwälzungen, die die Sündfiuth über die Erde gebracht hat, sie predigen laut von den Missethaten der abgefullnen Welt. Wir stellen uns an das Ufer des todten Meeres, keine Pflanze grünt am Boden, keine menschliche Hütte ist zu schauen, Todesstille herrscht auf dem Wasser, kein Fisch regt sich darin, kein Wasservogel schwingt die Flügel über seinen Wellen - welch' ein Monument der Sünden von Sodom und Gomorrha! Wir besuchen die Ruinen Babylons, der ersten Weltstadt der Erde, in der einst Millionen lebten in Sünden und Schanden; unter dem Schutte ihrer Paläste tummeln sich jetzt Löwen und Wölfe, Schakale und Hyänen, und wo die hängenden Lustgärten prangten, deckt graues Rohr die sumpsigen Lachen - welch' eine beredte Predigt von der Sünde, die da ist der Leute Verderben! Aber lauter, gewaltiger, erschütternder predigt von den Sünden der Menschen das Kreuz auf Golgatha; denn am Kreuze hat Israel seinen Messias, die Menschheit ihren Heiland getödtet! Dunkle Schalten lagern auf einer Familie, in der ein Glied Vater oder Mutter ermordet hat; unheimlich ist die Physiognomie eines Volkes, das seinen König auf's Schaffot gebracht - wehe, wir gehören einer Weltfamilie, dem Volk der Menschheit an, das den, der ihm mehr ist und näher steht, als Vater, Mutter oder König, das seinen Gott im Fleische, das Jesus Immanuel getödtet hat. Das Kreuz auf Golgatha, wie es da steht mit seinem Fuße auf der Schädelstätte, seine beiden Arme rechts und links ausstrekkend, seine Spitze nach oben erhebend, bezeichnet die himmelschreiende Sünde eines heilandsmörderischen Geschlechts, ist das Monument der vollendeten Sünde der Menschheit.

Aber das Kreuz weist noch über die Menschheit hinaus, auf dunkle verführerische Mächte einer anderen Welt. Denn es geht nimmermehr mit rechten Dingen zu, es findet nimmermehr in der Natur, auch in der sündhaften Natur der Menschheit seine genügende Erklärung, wenn Creaturen, nach Gottes Ebenbild geschaffen, das heißt, auf den Sohn Gottes angelegt, den im Fleische erschienenen Sohn Gottes tödten. Der niemals Einem wehe, der Allen wohl gethan; der Worte des Lebens geredet hatte, wie sie nie gehört waren auf Erden, und Wunder der Liebe vollbracht hatte, wie sie nie zuvor ein Auge gesehn; der im Zimmermannskleide, wie im Purpurmantel eine Herrlichkeit ausgestrahlt hatte als des eingebornen Sohnes vom Vater volle Gnade und Wahrheit -: wenn Er von dem Geschrei umtönt wird: „Kreuzige, kreuzige ihn!“ wenn Er behandelt wird als ein Auswurf der Menschheit und an das Holz des Schmerzes und der Schmach auf Golgatha gebunden wird, dann ist nur zweierlei möglich, entweder die Menschen sind zu Teufeln geworden, oder der Teufel hat die Menschen bezaubert und verblendet. Das erste Wort des Gekreuzigten sagt uns, welche dieser Möglichkeiten Wirklichkeit war. „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun -,“ damit deutet der, vor dem auch die Herzen seiner Peiniger offen lagen, wie ein aufgeschlagenes Auch, selber an, daß, die ihn kreuzigten, Verführte und Betrogene waren. Wer hat sie denn verführt? Wer hat sie denn bezaubert, daß Jesus Christus von ihnen gekreuzigt ward? Das hat der Feind gethan! Der Zimmermann, der dem Zimmermannssohne von Nazarelh das Kreuz gezimmert hat, ist der Teufel! Wir kennen ja alle das alte Wort der Weissagung über die alte Schlange, aus dem verlorenen Paradiese klingt's herüber, daß sie dem Weibessamen in die Ferse stechen würde. Diese Weissagung hat sich auf Golgatha erfüllt. Die Aufrichtung des Kreuzes für den, der da kommen sollte und der gekommen war, war der Fersenstich der alten Schlange. Judas und Caiphas, Herodes und Pilatus, die Schriftgelehrten und das Volk, die Juden und die Römer, als sie Jesum am Kreuze mordeten, waren Werkzeuge des Mörders von Anfang. Das dunkelste Blatt in der Weltgeschichte, das den Immanuelsmord der Menschheit enthält, die Mächte der Finsterniß haben es geschrieben. Die Hände, die den Heiligen Gottes an den Marterbaum nagelten, wurden von demselben versucherischen und verführerischen Geiste geleitet, der 4000 Jahre früher die Hand Evas zur Frucht des verbotenen Baumes lenkte. Das Kreuz auf Golgatha ist das grauenvollste Monument der Verführung Satans.

Darum zittern am Stamm des heiligen Kreuzes die geheimsten Saiten unserer Seele wie von gewaltigen Schlägen. Darum macht der Anblick des heiligen Kreuzes so ernst, so bange, so, still. Denn es predigt uns von einem Schmerze, der so riesenhaft ist, daß Felsen ihn mitfühlen und das Firmament ihn mitempsindet. Und es predigt uns von der Sünde der Menschheit, die so abgrundstief ist, daß sich Menschenhände mit dem Blute ihres Gottes im Fleische bestecken. Und es predigt uns von einem geheimnißvollen Zusammenhange der Menschheit mit den bösen Geistern in der Luft, der so mächtig ist, daß die Menschheit von ihnen verblendet, den, der ihr Gott und Freund war und auf dessen Ankunft sie mit allen Mitteln göttlicher Heilsöconomie viertausend Jahre lang vorbereitet war, für ihren größten Feind, ja - die Lippe sträubt sich, es auszusprechen - für einen Verbrecher halten kann. Giebt es auch in der weiten, weiten Welt ein Monument des Schmerzes, der Sünde und der Verführung wie dieses, wie das Kreuz von Golgatha? Seele, geh' nach Golgatha, fetz' dich unter Jesu Kreuze und bedenke, was dich da für ein Trieb zur Buße reize; willst du unempsindlich sein, o so bist du mehr als Stein!

Aber, gepriesen sei der große Gott im Himmel! das Kreuz auf Golgatha hat nicht blos diese tragische und düstere Bedeutung, daß es uns nur den Höhepunkt des Schmerzes und der Sünde und der satanischen Verführung zeigte, sondern es hat auch eine überaus herrliche und glorreiche Bedeutung: es ist das weltgeschichtliche Monument des vollkommenen Gehorsams, der vollkommenen Liebe und der vollkommenen Erlösung.

Denn der am Kreuze hängt und es mit seinem Blute salbt, ist nicht blos ein heiliger Dulder, sondern auch ein heiliger Thäter; und das Kreuz bezeichnet nicht nur die letzte Sprosse auf der Leiter seiner Schmach und seines Schmerzes, sondern auch den letzten Schritt seiner Lebenswanderung in allen Geboten und Satzungen Gottes untadelig. Er war gekommen, das Gesetz und die Propheten zu erfüllen, und trat für diese Erfüllung mit seinem ganzen Leben ein. Schon als Kind mußte er allewege sein in dem, was seines Vaters war, und fand Gnade bei Gott und den Menschen; auf den heiligen Wandel in seinen Jünglingsjahren drückte Gott das himmlische Siegel des Wortes aus den Wolken: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“; in seinem öffentlichen Leben kannte er keine andere Speise als die, den Willen seines Vaters zu thun und die Werke zu vollbringen, die der Vater ihm zeigte, und bewies sich in allen Stücken als einen solchen, an dem selbst das Auge des höllischen Tadlers keinen Flecken zu entdecken im Stande war. Dieser sein vollkommener Gehorsam ward durch Leiden bewährt. Denn da er versucht ward allenthalben, wich er doch nicht einen Schritt von der Gott wohlgefälligen Bahn. Nicht als ob er in stoischer Gleichgültigkeit kalten Blutes und Muthes Alles über sich hätte ergehen lassen. O nein, seinem wahrhaft menschlich fühlenden Herzen war bange vor der Taufe unnennbaren Wehs, mit welcher er sich sollte taufen lassen, und er hat in Gethsemane im Staube gerungen und gebetet: „Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber,“ aber er hat unter dem Ringen und Veten sich nie nehmen lassen das Wort des Gehorsams: „Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe“ und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Nicht die Nägel, die sein heiliges Fleisch durchbohrten, hielten ihn am Kreuze; er hatte Andern geholfen, er hätte sich auch selber helfen können, sondern der Gehorsam band ihn an das Holz des Fluchs. Wie er am Kreuze hängt, wie er am Kreuz nicht ohne Klagen, aber ohne Murren, seinen Geist in des Vaters Hände befehlend, stirbt, hat er ein ganzes, reiches Menschenleben von der Empfängniß und Geburt bis zum Aushauchen der Seele hin, durch alle Stadien der EntWickelung hindurch, durch Liebe, Last und Leid ausgelebt unter dieser Sonne in völligem, vollendetem Gehorsam gegen seinen Gott und Vater. So ist das Kreuz auf Golgatha das Monument des größten, heiligsten, makellosesten Gehorsams.

Und so zeigt uns das Kreuz in dem, der ohne Gestalt und Schöne an seinem Stamme hängt, den Schönsten unter den Menschenkindern, Lasset den ganzen Heldenzug der Großen und Gewaltigen dieser Erde an euren Augen vorübergehn, die Könige mit ihren goldenen Kronen und die Dichter mit ihren goldenen Leiern, die Helden mit dem Schwert von Stahl, die Weisen mit dem Schwert des Geistes; ihr werdet viele edle Gestalten, viele bewundernswürdige Genien finden, aber vergebens werdet ihr unter ihnen das Jdeal der Menschheit, einen Menschen ohne Fehl und Tadel finden, und werdet getäuscht rufen wie Samuel, als er Isais große Söhne gesehn und unter ihnen nicht gefunden hatte, der Gott gesiele: Sind das die Knaben alle? „Sag an, sind das die Knaben alle? Sag an, wo ist der Menschensohn, dem alle Welt zu Füßen falle, der Erbe für den leeren Thron?“ Das Kreuz auf Golgatha zeigt uns diesen Erben, zeigt uns den König der Menschheit. Er hat Alles vollbracht, was Gottes Wille von ihm forderte; er hat es auch nicht an Einem fehlen lassen. Er ist nach seiner Menschheit der Mensch ohne Gleichen, der Eine Reine, Tadellose unter einem Geschlechte von Sündern; er hat gelebt ohne Sünde, er hat gelitten ohne Sünde, und wenn Niemand vor seinem Tode heilig zu sprechen ist, wohlan, er ist auch gestorben ohne Sünde; sein Tod am Kreuze ist das Siegel seines Lebens; sein Kreuz ist das Monument seines vollendeten Gehorsams.

Preist ihr die Denkmäler irdischer Macht und Glorie, die Schlösser und Paläste, die Throne und die Diademe? Ich will das heilige Kreuz preisen, das Monument eines Menschenlebens, wie es nie ein zweites gegeben hat, ohne Schuld und ohne Makel. Bewundert ihr die hohen Gebilde menschlicher Kunst und Wissenschaft, die Bilder Raphaels, die Tragödien Shakespeares, den Kosmos Humbolds? Jch will das heilige Kreuz bewundern, den Schlußstein eines Lebens von so krystallheller Klarheit, daß das reichste Farbengebilde dagegen schwarz und dunkel ist, eines Lebens von so ergreifender Wahrheit, daß die erhabenste Dichtung dagegen fchaal und leer ist, eines Lebens von so gottgefälliger Harmonie, daß es den ganzen Kosmos, das Leben aller Welt, millionenmal aufwiegt. „Blutge Leiden meines ein'gen Freundes, o was hat mein Herz an euch! Wenn es euch betrachtet, o wie weint es! Wie zerflossen wird's, wie weich! Möcht' mir das Gefühl doch nie verschwinden, noch mein Geist sich je wo anders finden, als auf der geliebten Höh: Golgatha, Gethsemane!“

Aber nicht die Gemeinde der Heiligen allein schaut mit Huldigungen der tiefsten Seele auf das heilige Kreuz als auf das Monument des vollkommenen Gehorsams -: auch der große Gott und seine Engel lassen mit Wohlgefallen ihre Blicke auf diesem Monumente ruhn. Wozu Gott einst den Ball dieser Erde gemacht, daß auf ihm nach feinem Ebenbild geschaffne Creaturen dies Ebenbild in ihrem creatürlichen Leben ungehemmt und allseitig entwickelten, auswirkten und ausstrahlten - vergebens hatte Gott es gesucht auf Erden, der erste Adam schon hatte den Zweck seines Lebens verfehlt, war abgefallen von Gott und hatte alle seine Kinder in seinen Fall verwickelt, sie waren alle ungehorsam geworden, da war keiner, der gerecht war, auch nicht einer. Aber der andre Adam, Jesus Christ am Kreuze, offenbart die Menschheit, wie sie sein soll, die Menschheit nach Gottes Herzen. Am Kreuz auf Golgatha sah der große Gott den Zweck seiner Schöpfung mit Wohlgefallen erreicht, denn er sah einen Menschen, der ihm Gehorsam geleistet bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Ein solches Menschenleben hatten auch die heiligen Engel noch niemals auf Erden gefchaut; auch ihnen zeigte das Kreuz den Menschen, wie er sein soll, und damit die Nlüthe und die Krone der Schöpfung.

Doch der am Kreuze ist nicht blos wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren, sondern auch wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren; und nicht nur seine heilige Menschheit, sondern auch seine heilige Gottheit verleiht dem Kreuze Bedeutung. Jst das Kreuz, wenn wir den Gekreuzigten nach feiner Menschheit anschauen, das Denkmal des vollendeten menschlichen Gehorsams, so ist es, wenn wir den Gekreuzigten in seiner Gottheit anschauen, das Monument der vollendeten göttlichen Liebe, der gegenüber wir anbetend ausrufen: O Liebe, Liebe, du bist stark, du streckest den in's Grab und Sarg, vor dem die Felsen springen.

Der mittlerischen Liebe des Sohnes Gottes dankte es die Welt, daß sie nicht in demselben Augenblick in Trümmer sank, als Eva von der lustigen Frucht nahm, als die Menschheit der Sünde versiel. Der Sohn griff dem Vater in die Arme und sprach: Vergieb! Aber keine Vergebung ohne Opfer und Sühne. Darum riß sich der Mittler vom Herzen Gottes und das Wort ward Fleisch. Sein ganzes Leben im Fleisch war ein Leben in der Liebe; Liebe gab ihm die Worte des Lebens ein, daß er predigte gewaltiglich und nicht, wie die Schriftgelehrten, daß er predigend suchte, was verloren war; Liebe trieb ihn zu den Wundern des Heils, daß er Lahme gehend machte. Blinde sehend, Taube hörend und armen Sündern den Tod vom Herzen nahm. Aber weder die predigende, noch die wunderthätige Liebe konnte die große Sühne bewirken, daß eine fündige Welt ihrem Gotte angenehm würde, das konnte nur die sterbende Liebe. Zum ganzen Opfer gehörte nicht blos Leben im Fleisch, sondern Leiden und Sterben im Fleisch; dies Leiden und Sterben ward ihm bereitet von dem Geschlecht, für das er Mensch geworden, es erreichte seine schaurige Höhe am Pfahl der Schmach. Der Sohn Gottes ließ sich auch an diesen Pfahl heften; und wie er sich nicht geschämt hatte, die Menschen seine Brüder zu heißen, so schämte er sich nicht, von den Menschen ein Gehängter genannt zu werden. Die Liebe drang ihn also. Wie er geliebet hatte die Sünder, so liebte er sie bis in den Tod, bis in den Tod am Kreuz. Er hatte nicht blos Liebe gepredigt, er hatte nicht blos Liebe gelebt, auch sein Sterben war lauter Liebe. Denn Gott ist die Liebe, und Christus ist Gott im Fleische, also die Liebe im Fleische, und als er sich kreuzigen ließ für uns, ließ sich die ewige Liebe für uns kreuzigen. So ist das Kreuz auf Golgatha das Monument der vollendeten göttlichen Liebe.

Es giebt auch sonst Denkmale der Liebe Gottes gegen uns in reicher Zahl. Wenn er seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte, so sind Sonnenschein und Regen kündlich große Zeugnisse der göttlichen Liebe. Jede Baumesfrucht, jedes Erntefeld, jedes Mittagsmahl sind Beweise seiner Liebe. Aber das heilige Kreuz ist der höchste Beweis der Liebe Gottes zu den Menschen. Größere Liebe ist im Himmel und auf Erden nicht denkbar, als die, daß Gott, geoffenbaret im Fleisch, für die Sünder stirbt, daß der Herr, der Gerechte, die Schuld bezahlt für seine Knechte. Die gekreuzigte Liebe ist die Liebe ohne Gleichen.

Und doch es giebt noch eine köstlichere Bedeutung des Kreuzes. Ginge die lichte Seite des Kreuzes darin auf, daß es das Monument des vollendeten menschlichen Gehorsams,, wie der vollendeten göttlichen Liebe ist, so wäre es immerhin das größte Wunder der Welt, aber es wäre nicht das Heil der Welt. Aber das Kreuz von Golgatha bringt der Welt auch das Heil. Der, in dem Gott und die Menschheit in Einem vereinet und in dem, wie er am Kreuze hängt, alle vollkommene Fülle erscheinet, die vollkommene Fülle göttlicher Liebe, wie die vollkommene Fülle menschlichen Gehorsams, hat durch diese Liebe und durch diesen Gehorsam die ewige Erlösung erfunden für alle, die an ihn glauben. Das heilige Kreuz ist das Monument der vollendeten Erlösung.

Seit Adams Fall war die Menschheit der Sünde, dem Tode, dem Teufel verfallen. Es war der Fluch der bösen That, daß sie fortzeugend Böses gebären mußte. So wurde aus dem auf den ewigen Gott angelegten Menschenleben ein tägliches Sündigen, ein tägliches Sterben, ein täglicher Satansdienst. Eine Rettung, eine Wiedcrbringung war von Seiten der Menschen unmöglich. Kann doch ein Bruder Niemand erlösen, noch Gott Jemand versöhnen; denn es lostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, daß er's, muß lassen ansteht, ewiglich. Sollte der Menschheit geholfen werden, so mußte Gott selbst in's Mittel treten; so mußte der, der sich als Schöpfer geoffenbart hatte, sich auch als Erlöser offenbaren. Aber die Menschheit ließ sich auch von Seiten Gottes nicht erlösen, so lange nicht ein Mensch gefunden war, der selbst ohne Sünde die Strafe für die Sünden der Sünder auf sich nahm - denn sowohl die Ehre Gottes, als die Ehre der Menschen erforderte es, daß die göttliche Liebe weder gegeben noch genommen wurde auf Kosten der ewigen Gerechtigkeit, nach der jede Sünde Strafe, zeitliche und ewige, nach sich ziehte Gott hätte ja nun einen neuen Menschen schaffen können, wie er einst Adam schuf kraft seiner Allmacht, ohne Sünde, und ihn hineinsetzen in den Kreis der Menschheit, und wenn dieser neue, fündlos geschaffene Mensch, fündlos sich entwickelt hatte und gehorsam gewesen wäre bis zum Tode, so hätte ja wohl Gott auf ihn die Strafe legen können, auf daß wir Frieden hätten. Und dennoch hätten wir dadurch keinen Frieden gehabt. Denn ein Mensch kann wohl für einen andern eintreten, aber nimmermehr kann ein sündloser Mensch söhnen, was alle andern, was Millionen auf Millionen gefrevelt haben. Sollte die Sühne des einen, reinen Menschen allen sündigen Menschen zu Gute kommen, so mußte dieser eine reine Mensch mehr sein als Mensch, mehr sein als eine Creatur, mußte Gott selber sein, nur so konnte seine menschliche Sühne eine allumfassende, unendliche, ewige Kraft haben; nur so konnte, was Er, der Eine, erworben, Allen zugerechnet werden. Nun wohl, diese über alles Denken gehende Vereinigung von Gott und Mensch ist in der Wunderverfon Jesu Christi vollzogen. Jesus Christus, der Menschensohn ohne Schuld und) Sünde, nahm die Strafen der Sünder auf sich und starb am Kreuze den Missethätertod, den wir verdient hatten; und Jesus Christus, der eingeborne Sohn Gottes, hat Macht, diese seine Sühne allen zu Gute kommen zu lassen, die an ihn glauben. So ist das Kreuz das Monument der vollendeten Erlösung und trägt die Inschrift: Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.

Wohl predigt uns von dieser unserer Versöhnung und Erlösung die ganze Schrift. Die Bibel ist voll von allgemeinen Erklärungen über die Sünden vergebende Barmherzigkeit Gottes. Schon das alte Testament verkündet: Ob eure Sünde gleich blutroth ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden. Und durch das ganze neue Testament zieht sich als Grundgedanke: So wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns unsere Sünden vergiebt, und reiniget uns von aller Untugend. Doch alle diese allgemeinen Wahrheiten von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes gegen die Sünder schwebten in der Luft ohne das heilige Kreuz auf Golgatha. Erst dies Kreuz und allein dies Kreuz löst alle bangen Fragen des Wunden Gewissens, alle beängstigenden Zweifel des zerschlagenen Herzens. Am Kreuze sehen wir die vollständige Bezahlung unserer Schulden von Seiten unsers Stellvertreters. Gott kann sie nicht zweimal fordern. Am Kreuze sehen wir, daß allen Forderungen des Gesetzes Genüge geschehen, so brauchen wir nichts mehr abzuthun, um die Seligkeit zu verdienen. Am Kreuze sehen wir Allmacht, Gerechtigkeit und Liebe in einem dreifaltigen Bunde: die Allmacht, die den Sünder retten kann, die Gerechtigkeit, die die Sünde strafen muß und straft, die Liebe, die die Strafe selber trägt, um den Schuldigen zu retten. So können wir jauchzend und anbetend Angesichts des heiligen Kreuzes als des Monumentes unserer vollendeten Erlösung singen: „Mein Siegeskranz ist längst geflochten und nichts mehr für mich abzuthun; seitdem der Held für mich gefochten, darf ich in Friedenszelten ruhn. Mich schreckt kein Zorn, kein Fluch der Sünden, kein Tod mehr, keine sinstre? Macht; Er hat in seinem Ueberwinden durch Alles mich hindurch gebracht.“

Die Bedeutung des heiligen Kreuzes als des Monumentes der Erlösung erstreckt sich aber noch über die Menschenwelt hinaus in das gesummte Schöpfungsgebiet hinein. Wo ein Glied leidet, da leiden alle Glieder mit; und wo ein Glied wird herrlich gehalten, da sind alle Glieder herrlich. Der Mensch ist ein Glied, nach der Schrift das vornehmste Glied in der Kette der Creaturen Gottes. Sein Fall brachte den Fluch über die Erde und Disharmonie in die ganze Haushaltung der Schöpfung. Aber dafür ist auch seine Erlösung die Welterlösung, die Herstellung der gestörten Harmonie im Universum. Durch Christum Jesum ist Alles versöhnet, es sei auf Erden oder im Himmel, damit daß er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz durch sich selbst. Noch ist unsre Erkenntniß hiervon Stückwerk und wir sehen durch einen Spiegel und in einem dunklen Wort.' Aber wenn die Hüllen werden gefallen sein und das Licht der Ewigkeit uns umglänzen wird, werden wir die ganze volle Bedeutung des heiligen Kreuzes für das Universum klar erkennen und es mit allen Heiligen ! im Licht begreifen als das Monument der ewigen Erlösung des Kosmos, des Weltalls.

Es sei ferne von uus rühmen, denn allein von dem Kreuze unsers Herrn Jesu Christi. Die Menschheit, verführt vom bösen Feinde, hat durch ihre Sünde dem Heilande das Kreuz als Holz der Marter und Schmerzen aufgerichtet; aber der Heiland hat den Schmerz des Kreuzes erduldet in Gehorsam gegen den Vater und aus Liebe zu den Brüdern und durch feinen menschlichen Gehorsam und durch seine göttliche Liebe für das verführte, sündenvolle, ihn marternde Geschlecht am Kreuze das ewige Heil erworben und mit Einem, seinem Opfer am Kreuze in Ewigkeit vollendet, die da geheiliget werden. Die alte Schlange stach durch die Kreuzigung dem Messias iu die Ferse, er aber zertrat ihr als Gekreuzigter den Kopf. Die Menschheit vergriff sich durch die Kreuzigung dermaßen an ihrem Gott, daß sie den Fleischgewordnen tödtete; Er aber schlug durch seinen Tod ihren Tod zu Tode und gab ihr sterbend das Leben. Da er wohl hätte mögen im Himmel für sich allein Freude haben, erduldete er das Kreuz und seine Schmerzen, auf daß wir^, erlöst vom Schmerze den Eingang gewännen in die ewige Freude. Darum fei ferne von uns rühmen, denn allein von dem Kreuze unsers Herrn Jesn Christi.

Immer wieder, immer wieder sink' ich vor dem Kreuze nieder, schaue Ihm in's Angesicht, dem für mich das Herze bricht. Immer wieder, immer wieder sink' ich vor dem Kreuze nieder, schaue Ihm in's Angesicht, bis mir selbst das Herze bricht! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/q/quandt/kreuz/2.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain