Quandt, Emil - Joel - 2. Der Gerichtstag Israels.

Quandt, Emil - Joel - 2. Der Gerichtstag Israels.

Kapitel 2,1-14.

Eine schwer auf dem Lande ruhende Plage der Gegenwart hatte Joel im ersten Kapitel geschildert, und zur Abwendung desselben das Volk aufgefordert, im Verein mit der unvernünftigen Kreatur zu dem Allmächtigen und Barmherzigen zu schreien. Eine noch größere Plage der Zukunft schaut er im Geiste über das unbußfertige Volk kommen, eine Plage, bei der sich jede Heuschrecke der Gegenwart zu einem kriegerischen Reiter gestaltet; diese Plage der Zukunft, wie er sie, von Gott erleuchtet, im Geist zuvor geschaut, schildert der Prophet in der ersten Hälfte des zweiten Kapitels, nicht um sein geängstigtes Volk noch mehr zu ängstigen, sondern um jedes noch etwa zögernde Herz zu beschleunigter Buße zu reizen.

V. 1. Blast mit der Posaune zu Zion, ruft auf meinem heiligen Berge; erzittert alle Einwohner im Lande; denn der Tag des Herrn kommt und ist nahe.

Dieser Vers bildet das Thema für die prophetische Predigt dieses Abschnitts. Tut Buße, damit der Tag der Plage vorübergehe - das war der Grundgedanke des vorigen Abschnitts. Tut Buße, damit nicht noch ein Tag schrecklicherer Plage, der Tag des göttlichen Gerichts, über euch komme - das ist der Grundgedanke dieses Verses und des ganzen zweiten Abschnittes. Dass der Tag des Gerichts, von dem der Prophet in diesem Abschnitt redet, nicht der gegenwärtige Tag der Plage ist, von dem das erste Kapitel handelt, ist ausdrücklich bezeugt durch den Ausdruck: Der Tag des Herrn kommt und ist nahe. Dieser zukünftige Gerichtstag über Israel nun, den der Prophet im Geiste schaut, umfasst alle Gerichte der Zukunft, die der Herr über das halsstarrige Volk kommen lässt, in eins; man kann daher diese Weissagung Joels vom Gericht ebenso wohl vom Tage des letzten Gerichts, dem jüngsten Tag, deuten, als von den ernsten reichs- und weltgeschichtlichen Vorspielen des jüngsten Tages, wie sie in der Vergewaltigung des Volks Israel durch grimmige heidnische Feinde, in der Wegführung des Volks in die Gefangenschaft, in der Zerstörung Jerusalems usw. erschienen. Die Gesichte und Weissagungen der Propheten von Gottes Strafgerichten über das Volk Gottes erfüllen sich ihrem Wesen nach ganz immer erst am jüngsten Tage und zwar dann an den Abgefallenen und Verlorenen des Volks; die vorlaufenden Erfüllungen derselben stehen in Abhängigkeit von dem unbußfertigen oder bußfertigen Verhalten des Volks. Aufrichtige Buße verschiebt und verringert die Gerichte, wie sie endlich auch vor den Schrecken des Endgerichts bewahrt. Der praktische Zweck der Gerichtsweissagungen der Propheten ist darum immer der, bußfertige Gesinnung, die das Gericht aufhält und abwendet, zu erwecken; Joel spricht diesen Zweck sehr deutlich an der Spitze seiner Gerichtsweissagung aus. Denn er hebt an: Blast die Posaune zu Zion! Die Posaunen waren im alten Bunde ungefähr das, was bei uns die Glocken sind; hier sollten sie geblasen werden, um einen allgemeinen Buß-, Bet- und Festtag anzukündigen. Von Zion, dem Tempelberge, aus sollte das geschehen, um alle bußfertigen Sünder ins Gotteshaus einzuladen. Mit den Signalen der Posaune sollten sich die lauten Stimmen der Priester vereinen, sie sollen vom heiligen Berge aus alles Volk zusammenrufen zur Demütigung unter die gewaltige Hand Gottes. Das Volk selbst aber soll zitternd dem Heiligtum nahen; es ist das Zittern verstoßener, vor Gottes heiliger Majestät gebeugter Menschenseelen gemeint, ein Zittern, dem der Trost göttlicher Gnade entgegenkommt, wie dürrem Erdreich erquickender Regen. Am Schluss des Abschnittes V. 12-14 kommt Joel auf die Buße ausführlicher zu sprechen, zwischen inne aber von V. 2 an bis V. 11 schildert er das Gericht mit seinen Schrecken, das der Unbußfertigen harrt.

V. 2. Ein finstrer Tag, ein dunkler Tag, ein wolkiger Tag, ein nebeliger Tag, gleichwie sich die Morgenröte ausbreitet über die Berge, nämlich ein groß und mächtig Volk, desgleichen vorhin nicht gewesen ist und hinfort nicht sein wird zu ewigen Zeiten für und für.

Das erleuchtete Auge des Propheten sieht den Gerichtstag des Herrn in seinem ganzen Ernst, in dem vollen Umfang seiner Schrecken, in seiner weltgeschichtlichen Vollendung. Aber was er sieht, stellt sich seiner inneren Anschauung unter dem nur ins Große und Gewaltige gewachsenen Bilde der Heuschreckenverheerung dar, welches ja damals in seiner und seiner Zeitgenossen Seelen lebte, weil sie es täglich vor Augen hatten. Er hatte Kap. 1,6 die verheerenden Heuschrecken der Gegenwart als ein mächtiges Volk ohne Zahl gezeichnet; für das zukünftige Gericht ist diese Zeichnung ein Vorbild, aber sie reicht nicht aus; aus dem mächtigen Volk ohne Zahl wird nun „ein großes und mächtiges Volk, dem - so lautet die wörtliche Übertragung - nichts gleich war von Ewigkeit und dem darnach nichts gleich fein wird auf Geschlecht und Geschlecht“. Es sind Heuschrecken, die dem Propheten vorschweben, aber was er von ihnen sieht und aussagt, ist, um hier einen zwar modernen, aber bezeichnenden Ausdruck zu gebrauchen, so kolossal, dass es auf gewöhnliche Heuschrecken nicht mehr passt, sondern nur auf gewaltige Kriegsheere irdischer oder überirdischer Art, die der Herr der Welt zur Strafe über sein abgefallenes Volk sendet. In Folge heraufziehender Heuschreckenschwärme wird die Luft wie neblig, und die Sonne so verfinstert, dass man nicht zehn Schritt weit sehen kann, ähnlich wie bei einem großen Schneegestöber; an diese bekannte Erfahrung der Gegenwart lehnt sich die Beschreibung des finstern Tages an - wörtlich: ein Tag des Dunkels und der Finsternis, ein Tag des Gewölks und der Schwärze -; aber die starken und gehäuften Ausdrücke in dieser Beschreibung zeigen, dass ein viel schwärzerer Tag gemeint ist, als ein durch Heuschreckenschwärme verfinsterter Tag, nämlich der Tag des Zornes Gottes, da sich der Himmel verdunkelt und Finsternis die Berge deckt, wie sich die Morgenröte sonst auszubreiten pflegt, zum Zeichen, dass Gott als Richter und Rächer herannaht. Zephanja in seiner berühmten Gerichtsweissagung 1,15 ff. lehnt sich in seiner Beschreibung des jüngsten Tages sichtlich an Joel an; auch er nennt den Tag einen Tag der Finsternis und des Dunkels, der Wolken und der Nebel. Auch der heilige Prophet des neuen Bundes, St. Johannes, nimmt in seiner Beschreibung des ersten Wehes der Endzeit (Offenb. St. Joh. 9) Joels Anschauungen des letzten Tages wieder auf; ja sein apokalyptisches Bild ist geradezu eine Auslegung und Anwendung von Joel 2,1-14. Aus dem Brunnen des Abgrundes sieht Johannes Rauch aufsteigen wie Rauch eines großen Ofens, die Sonne und die Luft wird von dem Rauche verfinstert; aus dem Rauche aber gehen hervor Heuschrecken; sie schädigen nicht das Gras und die Bäume der Erde, sind also keine wirklichen Heuschrecken, sondern ungeheure von Gott gesandte außerordentliche Verderbensmächte für diejenigen Menschen nämlich, die, wie St. Johannes hinzusetzt, nicht das Siegel Gottes auf ihren Stirnen haben, d. h. nicht als Gottesangehörige sich ausweisen; denn diese bleiben bewahrt in der schweren Gerichtszeit und ihren Stürmen. Ach, dass was Joel verkündete, Zephanja wiederholte und St. Johannes ausführte, auch uns zu Herzen ginge, dass wir mit Thomas von Celano, dem Dichter des Liedes vom jüngsten Tage, beteten:

V. 3. Vor ihm her geht ein verzehrend Feuer und nach ihm eine brennende Flamme. Das Land ist vor ihm wie ein Lustgarten, aber nach ihm wie eine wüste Einöde, und Niemand wird ihm entgehen.

Der Prophet hatte 1,19 die Dürre der Gegenwart unter dem Bilde eines vom Himmel gegossenen Feuers geschildert. Unter demselben, aber viel vergrößertem Bilde schaut er an und schildert er die göttliche Zornesglut beim zukünftigen Gerichte. Die Erinnerung an die Zerstörung von Sodom und Gomorrha schimmert durch, bei der buchstäblich eintraf: Mit Feuer wird gesalzen, was milde Zucht verschmäht. Dieselbe Erinnerung klingt auch durch die zweite Hälfte des Verses. Auch das Land von Sodom und Gomorrha war nach 1 Mose 13, 10, ehe der Herr Sodom und Gomorrha verdarb, ein Lustgarten, ein Garten des Herrn, ein Eden gewesen, aber um der Sünden der Einwohner willen verwandelt es das göttliche Zornfeuer in eine Einöde, und das Paradies der Wahl Lots fiel in die Schreckenstiefen des toten Meeres. Wie damals Niemand dem Zorne Gottes entging, so wird auch der Gottesgeißel des großen feindlichen Volks Niemand entgehen nämlich Niemand von den Unbußfertigen; seine Freunde rettet Gott allezeit auch durch die schwersten Gerichte hindurch, wie er das damals an Lot bewiesen.

Auf diese kurze, kernige Schilderung des Gerichtstages folgt nun eine weitere Ausführung dieser Schilderung, bei welcher ebenfalls die Heuschreckenschwärme der Gegenwart zur bildlichen Unterlage dienen für die strafenden Kriegsschaaren der Zukunft.

V. 4. Sie sind gestaltet wie Rosse, und rennen wie die Reiter. Was Joel nun in ergreifender Weise ausführt, geht buchstäblich auf die furchtbare Erscheinung der Heuschreckenzüge der Gegenwart, dem Sinne nach aber auf die Gottesgeißeln der Zukunft. In Vers 4 redet Joel von der Gestalt und von der Geschwindigkeit der Heuschrecken. Sie haben in ihrer Gestalt, besonders am Kopfe, Ähnlichkeit mit Pferden; „Heupferde“ nennt deshalb auch bei uns der Volksmund die kleine, unschädliche Art von Heuschrecken, die wir bei uns haben. Wegen ihrer Geschwindigkeit vergleicht Joel den Heuschreckenzug mit einem stürmenden Reiterheer.

V. 5. Sie sprengen daher oben auf den Bergen, wie die Wagen rasseln, und wie eine Flamme lodert im Stroh, wie ein mächtiges Volk, das zum Streit gerüstet ist.

Die Billionen von Heuschrecken, die zusammen das Land verwüsten, verursachen durch Reibung ihrer Flügel mit den Hinterbeinen ein ganz entsetzliches Getöse; der Prophet kann es daher hier mit dem Getöse rasselnder Streitwagen vergleichen. Augen- und Ohrenzeugen neuerer Zeit haben dasselbe mit dem Sausen des Windes, mit dem Brausen des wogenden Meeres, mit dem Geräusch eines Wasserfalls oder eines Mühlrads verglichen. St. Johannes 9,9 in der Offenbarung nimmt Joels Vergleich wieder auf, indem er von den Heuschrecken die auch ihm nur ein Bild sind für Gerichtsmächte der Zukunft sagt: Das Rasseln ihrer Flügel ist wie das Rasseln an den Wagen vieler Rosse, die in den Krieg laufen. Das Fressen und Beißen der Heuschrecken bewirkt wieder ein anderes Geräusch, ein Knistern, wie das Knistern des Feuers in dürrem Reisig; Joel vergleicht es daher mit dem Lodern der Flamme im Stroh.

V. 6. Die Völker werden sich vor ihm entsetzen; Aller Angesichter sind so bleich wie die Töpfe.

Dieser Vers dient zum Hauptbeweise, dass der Prophet im 2. Kapitel nicht etwa auch von dem Tage der gegenwärtigen Plage, sondern vielmehr von dem Tage des zukünftigen Gerichtes spricht. Was er hier von dem Erzittern der Völker sagt, kann nicht in einer bloßen Landplage begründet sein. Es müssen ungeheure göttliche Strafgerichte sein, wenn nicht bloß Israel, wenn auch die Völker sich entsetzen und erbleichen. Solche Strafgerichte entluden sich über Israel, als die heidnischen Eroberer, die Assyrier und die Babylonier, hereinbrachen; da wütete das Kriegesfeuer nicht nur unter Israel; sondern zugleich unter allen Völkern ringsum, und es ging weit über das auserwählte Volk hinaus ein Erzittern auch durch die Völker der Heiden. Die Töpfe erscheinen öfters in prophetischen Gesichten; aber hier sowohl, wie an der ähnlichen Stelle Nahum 2,11, sind sie erst durch die Übersetzung hineingetragen; wörtlich heißt es: Alle Angesichter ziehen den Glanz ein, d. h. sie erblassen. Doch übersetzen Andre diese schwierige Stelle: Alle Angesichter sammeln Glut (wie ein Topf im Feuer) vor plötzlichem Schrecken.

V. 7. Sie werden laufen wie die Riesen und die Mauern ersteigen wie die Krieger; ein Jeglicher wird stracks vor sich daher ziehen und sich nicht säumen.

Auch die Darstellung dieses und der folgenden Verse passt nicht mehr ganz auf die Heuschrecken, sondern greift über das durch die Gegenwart gegebene Bild hinaus auf die Wirklichkeit der zukünftigen feindlichen Heerscharen. War vorher die Stärke und Rüstung derselben angedeutet, so wird jetzt die Stärke und Ordnung derselben beschrieben. Wie die Helden (so heißt es wörtlich statt: wie die Riesen) rücken sie an; ihnen vorauf ziehen tapfere Herzöge, denen die Andern folgen. Keiner wird. aus der Reihe treten (so heißt es wörtlich statt: Keiner wird sich säumen) - dieses Bild kriegerischer Ordnung ist allerdings von den Heuschrecken hergenommen; man vergleiche Sprüche 30,17, welcher Vers nach dem Grundtext lautet: „Die Heuschrecken haben keinen König; dennoch ziehen sie geordnet alle aus.“ Auch der Kirchenvater Hieronymus bezeugt, dass zu seiner Zeit Züge von Wanderheuschrecken wahrgenommen seien, die nach dem von Gott in sie gelegten Triebe, in solcher Ordnung die Luft zwischen Himmel und Erde durchzogen hatten, „dass sie wie die Steinchen in einem Mosaikboden, ihre Stelle einhielten und nicht um einen Nagel breit aus ihrer Reihe wichen“. Dennoch zeigen die Worte: „Sie werden die Mauern ersteigen“, dass nicht von einem gewöhnlichen Heuschreckenheere die Rede ist, sondern von gewaltigen Zügen feindlicher Eroberer, die in militärischer Ordnung die festen Mauern der Städte Israels erstürmen, wie Assyrer, Babylonier und Römer es getan haben.

V. 8. Keiner wird den andern irren, sondern ein jeglicher wird in seiner Ordnung daher fahren; und werden durch die Waffen brechen, und nicht verwundet werden.

Alle Mittel der Abwehr wider die mächtig andringenden Verderbensmächte sind eitel. Das Volk hatte das soeben erfahren den Heuschrecken gegenüber; man hatte sicherlich in Israel nichts unversucht gelassen, um sich der Plage zu erwehren, dennoch dauert sie fort. Noch heutzutage erfährt man im Morgenlande oft genug, wie alle menschlichen Mittel umsonst sind, und die Heuschrecken nicht vertreiben. So schrieb aus Jaffa ein dort ansässiger Arzt im April 1863: „Es zeigte sich in der Mitte dieses Monats am Horizont während zweier Tage eine hin und wiederschwebende Wolke, welche die Sonne verdunkelte. Am dritten Tage senkte sich dieselbe nieder und bedeckte die Felder. Es waren Heuschrecken, sie fingen ihren Marsch an gleich Ameisenschwärmen in langen Zügen und geschlossenen Reihen, welches die zahlreichen Araber mit all' ihrer Anstrengung nicht verhindern konnten. Der Zug ging von Garten zu Garten, von welchen über hundert zerstört wurden. Vergebens verteidigte der Arzt den seinigen mit seinem Dutzend arabischer Diener; sie krochen durch die Fugen des geschlossenen Tors und über die Mauern gleich sturmlaufenden Soldaten, und der acht Joch große Garten war in 24 Stunden zerstört. Auch die Obstbäume blieben nicht verschont. Auf den Maisfeldern hatten sie auch die Blätter zum Teil verzehrt und ließen einen giftartigen Speichel zurück. Das Hornvieh, welches nachher die Überbleibsel fraß, starb davon, und so verloren drei Dörfer 70 Stück von ihren Herden. Längs eines kleinen Flusses hatte sich ein solcher Heuschreckenzug gelagert, und als die Lasttiere, Pferde, Kamele usw. dahin zur Tränke geführt wurden, entsetzten sie sich und flohen vor den nie gesehenen schwarzen Fremdlingen. Die Menschen wurden zwar von ihnen nicht angefallen, doch drangen sie in die Wohnungen, und bei Tisch konnte man sich ihrer nicht erwehren: sie sprangen in Suppenteller und Weingläser, und beim Auskleiden fand man deren immer einige in den Kleidern versteckt. Die Regierung hat zwar dem Volke den Befehl erteilt, dass jeder Mann täglich bei Geldstrafe fünf Okken1) lebendig oder erschlagen abzuliefern hat, allein bloß eine allmächtige Hand kann das Land von derselben Plage wieder befreien.“ Dieselbe Fruchtlosigkeit menschlicher Abwehrungsmittel wird den göttlichen Strafwerkzeugen in den Gerichten der Zukunft gegenüber zu Tage treten da wird nicht einmal Waffengewalt, da werden nicht Rosse, nicht Reisige helfen. Die Erfüllung hat diese Weissagung oft wahr gemacht; kein noch so mächtiger, verzweifelter Widerstand mit den Waffen in der Hand hat das von Gott abgefallene Israel gegen den Andrang der heidnischen Feinde errettet, wenn Gott sie zürnend in deren Hand gab. Und ebenso wird sichs erfüllen bei den Endgerichten, deren die Welt noch harrt; kein Abtrünniger kann der gewaltigen Hand Gottes entgehen, sie muss ihn ergreifen und zermalmen.

V. 9. Sie werden in der Stadt umher reiten, auf der Mauer laufen, und in die Häuser steigen, und wie ein Dieb durch die Fenster hineinkommen.

Das Zukunftsbild erfüllt mit Grauen; man sieht Heuschrecken einbrechen und doch sind es keine Heuschrecken. Nicht Land, nicht Stadt, nicht Gasse, nicht Haus, nicht Tag, nicht Nacht sind vor den geheimnisvollen Feinden sicher; sie streiten gegen Israel nicht nur wie Krieger in offenem Angriff, sondern sie berücken es auch wie Diebe. Es ist etwas Geisterhaftes an diesen Feinden. Der Feind aller Feinde, der böse Feind, steckt dahinter, von dem wir singen: Groß' Macht und viel' List sein' grausam' Rüstung ist, auf Erd'n ist nicht seins Gleichen.

V. 10. Vor ihm erzittert das Land, und bebet der Himmel; Sonne und Mond werden finster, und die Sterne verhalten ihren Schein.

Auch hier geht die sinnbildliche Darstellung weit über die Wirklichkeit einer Heuschreckenplage hinaus. Himmel und Erde werden beim Gericht über Israel mit in Teilnahme gezogen. In schrecklicher Finsternis tut sich der Zorn des Allmächtigen kund. Bei dem Gericht des jüngsten Tages wird sich das ganz erfüllen; denn ehe das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheint und er kommt in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit, werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen; auf Erden wird den Leuten bange sein, und das Meer und die Wasserwogen werden brausen.

V. 11. Denn der Herr wird seinen Donner (wörtlich: seine Stimme) vor seinem Heer lassen hergehen; denn sein Heer ist sehr groß, und mächtig, welches (wörtlich: mächtig ist, welcher) seinen Befehl wird ausrichten; denn der Tag des Herrn ist groß und sehr erschrecklich; wer kann ihn leiden!

Dieser Vers spricht es nun mit großer Klarheit aus, dass nicht ein gewöhnlicher Heuschreckenzug, sondern ein sehr großes und mächtiges Heer des Herrn, vor dem er selber herrufen wird als ein gewaltiger Kriegsheld, in der zu Israels Häupten drohenden Gerichtszukunft die Strafe vollziehen wird. Auch bei Jesaias 13 erscheint so der Herr an der Spitze eines großen Kriegsheeres einherziehend, die Erde zu verwüsten. Mächtig ist, welcher wird seinen Befehl ausrichten - es ist das der „Engel des Abgrundes“, wie ihn St. Johannes Offb. 9 in der Ausmalung dieses Joelschen Zukunftsbildes nennt, der Verderber, welchem Gott am Ende der Tage diejenigen übergibt, die sich beharrlich gegen ihr Heil verstockt haben. Leiden, ertragen kann diesen Tag des Gerichtes des Herrn nur der, der nicht in seiner eignen Jämmerlichkeit und Blöße, sondern in Christi Blut und Gerechtigkeit gehüllt dasteht; alle Andern müssen rufen: „Ihr Berge, fallt über uns, und ihr Hügel, deckt uns!“ Mein Gott, ich bitt' durch Christi Blut, mach's nur mit meinem Ende gut!

Bis hierher reicht die Mitteilung Joels über das Schreckgesicht vom Tage des Gerichts, das der Herr ihn hatte schauen lassen. Es folgt nun als im letzten Teile dieses Abschnittes die Aufforderung zu gründlicher, herzlicher Buße und die Ankündigung der göttlichen Verschonung im Falle bußfertiger Bekehrung.

V. 12. So spricht nun der Herr: Bekehrt euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen.

Was der Prophet schon im ersten Verse dieses Kapitels angedeutet hatte, führt er hier nun weiter aus. Um zur Buße zu reizen, hatte er das drohende Gericht geschildert. Die Schrift predigt niemals die Hölle aus Lust an düsteren Schilderungen, sondern weil sie will, dass keiner in die Hölle hineinfalle, vielmehr ein Jeglicher sich bekehre und in den Himmel komme. Und wahrlich, die Schilderung der Schrecken des Gerichts ist eins der kräftigsten Mittel zur Erweckung der Buße. Der heidnische König von Bulgarien, Bogoris, ersuchte den gelehrten Methodius, der ein beredter Prediger von Christo und zugleich ein trefflicher Maler war, er solle ihm doch einmal ein recht erschreckliches Bild malen, so erschrecklich, dass jeder, der es nur anschaut, davor erzittern müsse. Methodius malte ihm das jüngste Gericht und brachte ihm das Bild. Als Bogoris das Bild sah und von Methodius hörte, was es bedeute, ward er, der bisher ein trotziger, grausamer Krieger gewesen, dermaßen erschreckt, dass er selber zu zittern anfing, die Taufe verlangte und vom Heidentum sich zum christlichen Glauben bekehrte. Diese Geschichte kann uns zur Erläuterung des Zusammenhangs unsers Verses mit den vorangehenden Versen dienen. Joel hat auch ein erschreckliches Bild des Gerichts seinem Volk vor die Augen gemalt - nun verlangt es ihn, dem Eindrucke, den das Bild machen soll, Worte zu geben. Darum hebt er an: So spricht der Herr: Bekehrt euch. Das hebräische Wort für Bekehrung bedeutet zunächst eine räumliche Veränderung, da der Wanderer von einem alten Wege mit seinen Zielen umwendet und einen neuen Weg mit neuen Zielen einschlägt. Wir sind alle von Natur Wanderer auf den Wegen der Sünde, deren Ende ist der ewige Tod. Die Erkenntnis dieses fürchterlichen Endes unsrer Sündenwege soll uns nun dazu verhelfen, dass wir inne halten in diesen Wegen und aus der Gemeinschaft der Sünde in die Gemeinschaft der Gnade fliehen, von der Sündenbahn auf die Glaubensbahn treten, deren Ziel und Ende ist das ewige Leben. Wenn aber dem Menschen die Schuppen von den Augen fallen und er die Entdeckung macht, dass er auf Wegen ist, die in die Verdammnis führen, und wenn er dann nach dem andern Wege sich umsieht, der zum Leben führt: dann beschäftigt ihn solche Erkenntnis und solches Streben dergestalt, dass er darüber alles Andre, auch Essen und Trinken, vergisst - das Fasten ist ein sehr natürlicher Begleiter der Bekehrung. Auch die Tränen und Klagen kommen dann ganz von selber, die Klagen: O wehe, wie hab' ich die Tage verbracht! - die Tränen Petri und Magdalenens. Nur dass keiner wähne, sich selbst bekehren zu können. „Bekehre Du mich, Herr, so werde ich bekehrt“, betet ein andrer der Propheten. Gott muss beides geben, das Wollen und das Vollbringen; er gibt es aber Allen, die ihn darum anflehen; denn er ist gnädig und barmherzig und will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Auch ist Ihm Nichts zu schlecht; wir sind Ihm alle recht; was Keiner mehr mag leiden, was alle Menschen meiden, das darf noch zu Ihm kommen, wird von Ihm angenommen.

V. 13. Zerreißt eure Herzen, und nicht eure Kleider; und bekehrt euch zu dem Herrn, eurem Gott: denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte, und reuet ihn bald der Strafe.

Auf wirkliche Bekehrung hat es Joel abgesehen, nicht auf heuchlerische Scheinbekehrung. Im Morgenlande gibt es eine mannigfaltige, ausdrucksvolle, sinnbildliche Äußerung der Gefühle, die uns ruhigeren Abendländern fremd ist. Das Zerreißen des Kleides (des Oberkleides nämlich, nie des Unterkleides) war unter den Israeliten ein stehendes Zeichen der Trauer - bei Abners Tode z. V. ward es von David dem ganzen Volke anbefohlen -, auch im neuen Testamente kommt es vor; Matth. 26,65 zerreißt der Hohepriester seine Kleider als wie trauernd über eine Gotteslästerung aus dem Munde des Menschensohnes; Apostelg. 14,14 zerreißen Paulus und Barnabas ihre Kleider aus Trauer über die Abgötterei des Volkes von Lystra. Die ernsteste, tiefste Trauer ist die Bußtrauer; sie vornehmlich versinnbildet sich im Zerreißen des Kleides. Joel nun will nicht etwa seinem Volk verwehren, dass es seiner Buße den landesüblichen lebhaften Ausdruck im Kleiderzerreißen gebe; er will nur vor demjenigen Kleiderzerreißen warnen, dem das tiefinnerliche Schuldgefühl, wofür es der Ausdruck sein soll, ganz fehlt. Viele in Israel machten wohl die äußerliche Form mit, aber der Inhalt fehlte ihnen; wie etwa heutzutage und bei uns Manche die Hände falten und doch nicht beten, die Knie beugen und sich doch nicht demütigen. Solch heuchlerisches Wesen ist dem großen Gott ein Gräuel. Gott verwirft nicht die fromme Form, aber er verwirft die Form ohne Inhalt. Darum mahnt Joel: Zerreißt eure Herzen, und nicht eure Kleider! Es ist ja das bildlich geredet; der Sinn ist klar: Tut wahre Buße; brecht die Härtigkeit eures Herzens, tut ab die Decke der Sünde, die euer Herz von Gott trennt. In unsrer Zeit, die reich ist an oberflächlichen Bekehrungen, soll ein christlicher Leser wohl etwas inne halten bei diesem Worte Joels von der herzzerreißenden Bekehrung. Mut zur Bekehrung muss uns das Wesen unsers Gottes machen. Schon Mose hatte (2 Mose 34,6) den Herrn angerufen: Herr, Herr Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Diese Anrede Mosis klingt hier bei Joel durch, wenn er sagt: Denn Gott ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte. Ei, Mose und die Propheten kennen auch einen Gott der Liebe und des Erbarmens, so gut als das neue Testament; das neue Testament aber verkündet auch so gut, als das alte, dass Gottes Liebe eine heilige Liebe ist, die Alles, nur nicht das Gottlose leiden kann. Wenn Joel zum Schluss dieses Verses sagt, es reue Gott bald der Strafe, so darf man das nicht missverstehen. Es steht ausdrücklich und wiederholt geschrieben: „Der Beständige in Israel lügt nicht und gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen sollte. Er ist nicht ein Mensch, dass er lüge; er ist der Herr und wandelt sich nicht.“ Von einer Reue nach Menschenart kann also bei Gott dem Herrn nimmermehr die Rede sein. Das göttliche Gereuen ist als Ausfluss der Lebendigkeit und Persönlichkeit Gottes zu fassen und läuft darauf hinaus, dass Gott bei verändertem Sinn der Menschen auch sein Verfahren gegen sie ändert. Ein erleuchteter Schriftforscher sagt davon: „Das Geheimnis ist das, dass Gott dem in der Zeit fortgehenden Lauf des einzelnen Menschen und ganzer Geschlechter nachgeht, und je nachdem sie wollen oder nicht wollen, mit ihnen handelt, ja dass Er durch die Gebete derer, die Ihn anrufen, und durch das Maß des Glaubens in seinen Kindern sich bestimmen lässt und wartet, bis er ihnen könne gnädig sein. Gott handelt menschlich mit uns Menschenkindern, und das ist seine ewige Herablassung, die ihn selbst zum Menschwerden bewogen hat, und der Grund, warum wir überhaupt mit ihm in ein Verhältnis treten, beten, glauben, mit ihm umgehen, und in ihm gerettet und selig werden können.“ Es reut Gott der verhängten oder angedrohten Strafe, die er dem Gottlosen diktiert, das heißt, er hebt die Strafe auf, er nimmt die Drohung zurück, wenn der Gottlose sich von dem Frevel seiner Hände zu ihm bekehrt; denn Strafe und Drohung haben dann ihren Zweck erreicht. Freuen wir uns, dass wir einen Gott haben, welcher Mitleid hat mit seinen blutenden Kindern und sie nur straft und bedräut, damit sie selig werden.

V. 14. Wer weiß, es mag ihn wiederum gereuen, und einen Segen hinter sich lassen, zu opfern Speisopfer und Trankopfer dem Herrn, eurem Gott.

Ähnlich ist die Rede des Königs von Ninive bei Jonas 3: Wer weiß, Gott möchte sich kehren und ihn reuen und sich wenden von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben. Jedes in Buße zerbrechende Herz, ob unter Heiden, ob unter Juden, ergibt sich dem Herrn auf Gnade und Ungnade und hat die Ahnung, dass, ob uns unser Herz verdammt, Gottes Herz größer ist, als das unsrige. Joel hofft, dass durch die Appellation an das Erbarmerherz Gottes sowohl der Gerichtstag der Zukunft verschoben, als auch der Tag der gegenwärtigen Plage aufgehoben werden würde, also dass der gegenwärtige Fluch, der auf dem Volk und Lande lastet, sich in Segen wende und wieder Speise und Trank in Fülle erscheine, davon dem Herrn dankbar geopfert werden könne, wie in früheren glücklichen Zeiten.

Drittehalb tausend Jahre sind verronnen, seitdem Joel geweissagt hat von dem Gerichtstage des Herrn über Israel. In mancherlei vorlaufenden Erfüllungen hat sich die Wahrheit seiner Worte erwiesen; in schrecklichen Gerichten hat das unbußfertige Israel Gottes Zorn über sich kommen sehen, doch ist gerettet worden Jeder, der bußfertig Gottes Namen anrief. Die Enderfüllung der Weissagung Joels steht noch bevor. Der jüngste Tag wird im allerhöchsten Sinne der große und erschreckliche Tag Gottes sein.

Tag Gottes, Tag der Ewigkeit,
Du predigst uns den Wert der Zeit
Laut mit des Donners Stimme.
Reizt, Menschen, nicht durch eure Schuld
Den Gott der Langmut und Geduld,
Dass er nicht schnell ergrimme.
Denn schrecklich wird der Sünder Pein
Und groß der Frommen Wonne sein.

Amen.

1)
Ein Okka (oder kiyye) war ein Gewichtsmaß, welches im Osmanischen Reich verwendet wurde. In Städten und Ortschaften wurde ein Okka unterschiedlich gehandhabt, meistens waren es jedoch 1282 Gramm.
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