Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die sechste Bitte.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die sechste Bitte.

Und führe uns nicht in Versuchung.

An keine der Vaterunserbitten ist so viel Kunst der Auslegung gewendet worden, als an die sechste Bitte. Und in der That, es bietet auch keine andre Bitte für das Verständniß so viel Schwierigkeit, als gerade die sechste Bitte. Die Worte freilich klingen einfach genug. Aber der Sinn der Worte bedarf, um richtig erfaßt und gefaßt zu werden, tieferen Nachdenkens, Wir geben uns diesem Nachdenken hin in der Ordnung, daß wir zuerst aus dem Ganzen der Schrift heraus zu erkennen suchen, was mit dem Wort „Versuchung“ gemeint ist, und sodann, wie die drei Worte: „Führe uns nicht“ zu verstehen sind.

Versuchungen treten nach der Schrift an den Menschen heran von innen wie von außen. Von innen, aus dem Menschen selbst kommen Versuchungen; ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eignen Lust gereizt und gelockt wird, sagt Jacobus. Von außen kommen die Versuchungen entweder von andern Menschen, wie Pharisäer und Sadducäer und die eignen Jünger den Heiland wer weiß wie oft versuchten; oder vom Teufel, der Christum versuchte und vor dessen Versuchung die Gläubigen in der Schrift auf das Nachdrücklichste gewarnt werden; oder von Gott, von dem in beiden Testamenten an vielen Stellen gesagt wird, daß er die Menschen versuche. Was bedeutet denn nun dies Wort versuchen, welches in der Bibel so unterschiedslos dem großen Gott, dem Teufel und den Menschen zugeschrieben wird? Es bedeutet, den Glauben eines Menschen auf die Probe stellen. Wenn das Fleisch den Jägersmann Esau im Anblick des rothen Linsengerichts versuchte, so stellt es seinen Glauben auf die Probe. Wenn Petrus den Heiland versuchte, da er ihm wehren wollte zu leiden und sprach: Herr, das widerfahre dir nur nicht! so stellte er seinen Glauben auf die Probe. Wenn der Fürst der Finsterniß Christum in der Wüste und in Gethsemane versuchte, er stellte seinen Glauben auf die Probe. Wenn Gott den Patriarchen Abraham versuchte, da er zu ihm sprach: „Gehe hin auf den Berg Morija und opfere daselbst deinen Sohn Isaak,“ so stellte Gott Abrahams Glauben auf die Probe. Versuchen heißt im Sprachgebrauch der Schrift: Den Glauben auf die Probe stellen.

Nun kann aber unser Glaube auf die Probe gestellt werden aus ganz entgegengesetzten Absichten. Der uns versucht, hat entweder den Wunsch, daß unser Glaube die Probe bestehen möge, oder er hat den Wunsch, daß unser Glaube die Probe nicht bestehen möge, sondern daß wir entfallen von des süßen Glaubens Trost. Gott als der ewig Gute kann uns nur in der guten Absicht versuchen; der Teufel als der seit seinem Fall in Ewigkeit Böse kann uns nur in der bösen Absicht versuchen; wir selbst und andre Menschen versuchen uns in guter oder böser Absicht, je nachdem wir Gott dienen oder dem Bösen, je nachdem wir uns Gott oder dem Bösen zu Werkzeugen hingeben. So zerfallen also die Versuchungen, die im Leben an uns herantreten, in zwei große Klassen; die einen das sind die guten Versuchungen unseres Gottes, da er uns versucht, daß er uns kröne; die andern, das sind die bösen Versuchungen des Satans, da er uns versucht, daß er uns fälle und vernichte.

Die guten Versuchungen, die unser Gott über uns verhängt, führen auch noch den besonderen Namen der Prüfungen. Es ist das ein bildlicher Ausdruck, hergenommen von der Arbeit der Schmelzer, die das Metall in das Feuer werfen mit dem Wunsche, daß es die Feuerprobe bestehen und sich als ein edles Metall bewähren möge. Wenn der Herr den Glauben auf die Probe stellt, so wirft er den Menschen als edles Metall in den Schmelzofen und freuet sich sammt seinen heiligen Engeln, wenn die Christenseele sich im Feuer als echt bewährt und von den Schlacken gereinigt, goldig funkelnd hervorgeht. Gottes gute Versuchungen sind wie das Feuer eines Goldschmieds; er sitzet und schmelzet und reinigt das Silber. Diese göttlichen Versuchungen oder Prüfungen kommen an uns in allerlei Formen; denn unser Amt, unsre Familie, unsre Freundschaften, selbst unsre Gebete, Andachten und Gottesdienste, alle Begegnisse und Lagen des Lebens sind sammt und sonders göttliche Versuchungen, in denen Gott dem Glauben Gelegenheit giebt, immer mehr die Schlacken des alten Adams abzuthun und sich zu bewähren und zu beweisen in Gehorsam, Geduld, Mildigkeit, Treue; das ganze Leben ist „eine Prüfung kurzer Tage“.

Vornehmlich aber prüft der Herr die Christenseele im Feuer der Trübsal, und diese führt daher in der Schriftsprache in ausgezeichnetem Sinne den Namen der Prüfung. „Unter Leiden prägt der Meister in die Seelen, in die Geister sein allgeltend Bildniß ein; wie er dieses Leibes Töpfer, will er auch des künft'gen Schöpfer auf dem Weg der Leiden sein.“ Ohne diese Feuerprobe der Leiden durchgemacht zu haben, kommt kein Gläubiger in die Stadt mit den goldenen Gassen; die dort die ewigen Hütten bezogen haben, sind alle gekommen aus großer Trübsal.

Nicht diese göttlichen, guten Versuchungen soll sich der Christ verbitten; nicht gegen sie ist die Bitte gerichtet: Führe uns nicht in Versuchung! Denn wir bedürfen alle, wie Vater Luther einmal gesagt hat, solches Fegens und Kreuzes täglich wohl von des alten groben Adams wegen. Die bei Weitem meisten Leute gewinnt der Herr durch die Leidensschule. Wenceslaus, ein König von Böhmen, als er in einer Schlacht von seinen Feinden gefangen, sehr hart gehalten und von ihnen gefragt ward: „Merkst du nun, was für ein Unterschied ist zwischen einem König und einem Gefangenen?“ antwortete: „Ich merke es wohl! Als ich ein König war, dachte ich an das Irdische, jetzt denke ich an Gott und an das Himmlische!“ Und die bei Weitem meisten von den für den Glauben gewonnenen Leuten erhält sich her Herr durch die Leidensschule. Wo kämen Davids Psalmen her, wenn er nicht auch versuchet war? Für einen Gläubigen wäre es die größte Anfechtung, wenn er keine Anfechtung hätte. Darum nimmermehr sind diese guten Versuchungen Gottes, die, auch wenn sie noch so bitter und schwer sind, zu unsrer Seligkeit dienen, vom Heiland gemeint, da er beten lehrt: Führe uns nicht in Versuchung! Gottes Prüfungen darf sich der Christ nicht verbitten.

Aber er soll sie sich allerdings auch nicht ausbitten, er soll nicht sprechen: Führe mich in Versuchung! So hat kein evangelischer Jünger des Herrn gethan, solches Gebet wäre eine bodenlose Vermessenheit; der berühmte Seufzer der römischen heiligen Therese: „Herr, laß mich leiden oder sterben!“ liegt schon außerhalb des gesunden Christenthums. Man mag sich, um die richtige Stellung des Gemüthes gegenüber den Prüfungen Gottes immer klar zu haben, wohl das Verslein einer evangelischen Heiligen, einer frommen entschlafenen evangelischen Christin merken: „Ich will, Herr meiner Seelen, kein Kreuz hier selber wählen; ich bleibe in der Mitten: nicht bitten - nicht verbitten!“

Den guten Versuchungen Gottes aber steht gegenüber das Versuchen in böser Absicht, das satanische Versuchen. Das ist das Versuchen zum Bösen, zur Sünde, da die Absicht herrscht, den, Glauben so auf die Probe zu stellen, daß er gefällt und zu nichte gemacht werde. Dies böse Versuchen heißt in der Schrift niemals „prüfen“, sondern so recht eigentlich „versuchen“. Der Meister in dieser Art des Versuchens ist der böse Feind, jener große gefallene Engelfürst, der ein Abgrund aller Bosheit ist und ein Mörder von Anfang, der unermüdlich und unverdrossen die Länder Jahr aus Jahr ein durchzieht, die Menschen um den Heilsglauben zu betrügen, wie geschrieben steht: Euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge. Man hat gesagt, für das moderne Bewußtsein existire kein Teufel, ein gebildeter Mensch des neunzehnten Jahrhunderts sei über satanische Anfechtungen erhaben. Aber das moderne Bewußtsein liebt es nur nicht, gewisse Dinge nahebei zu besehn, und dazu thut ihm der Teufel aus guten Gründen die Liebe, es so wenig wie möglich zu belästigen. Denn wozu sollte er die Ungläubigen noch erst versuchen; wer seinen Glauben schon verloren hat, den braucht nicht erst der Satan noch um seinen Glauben zu bringen. So viele dem Jesusglauben unserer Väter entfremdet sind, so viele liegen schon im Argen, sind der Macht des Feindes schon verfallen und werden daher nicht weiter auf Erden von ihm behelligt; kein Wunder also, daß auf weite Kreise das Goethesche Wort paßt: „Den Teufel merkt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.“' Aber wer durch Gottes Gnade zum Glauben durchgedrungen ist und Vergebung der Sünden hat für sein vergangenes Leben, der merkt gar viel von den versucherischen Umtrieben des alten, bösen Feindes und singt den Vers des alten Lutherliedes nicht als Phrase, sondern als ernste, tiefe Wahrheit mit: „Der alte, böse Feind, mit Ernst er's jetzt meint; groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, auf Erd' ist nicht sein's Gleichen.“ Denn gerade gegen die Gläubigen richtet der Bösewicht seine feurigen Pfeile; auf sie wendet er fort und fort sein scharfes Auge, ihre empfindlichen Seiten zu erspähen, an denen er ihnen beikommen kann, und läßt sich keine Mühe verdrießen, ihre Schwächen und Fleischesneigungen zu ihrem Schaden und zu seinem Vortheil auszunützen. Und dabei hilft ihm eben das Fleisch im Menschen selbst; der alte Adam in den Gläubigen ist der Verräther innerhalb der Festung der Seele; es schlummert wie im düstern Waldesdunkel in Menschenbrust verborgne Missethat. Dabei hilft ihm auch namentlich die Welt, der große Haufe derer, die in seinem Joche ziehn, die falschen Tröster und ruchlosen Leute, die die unschuldigen Herzen verführen.

Die bösen Versuchungen sind aber nicht alle einerlei Art, sondern sie sind entweder lustvoll oder leidvoll, und es ist schwer zu entscheiden, welche von ihnen die gefährlichsten sind. Bei den lustvollen Versuchungen benutzt der Satan die Bundesgenossenschaft des Fleisches. Seine allererste Versuchung auf Erden war eine solche. Die Schlange sprach zum Weibe: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allerlei Bäumen im Garten? Und das Weib schauete den verbotenen Baum an, und er war ihr lieblich anzusehn und ein lustiger Baum - und sie aß und Adam aß auch - und die Unschuld war verloren und das Paradies war verloren - und die Sünde und die Noth und der Tod waren gewonnen - durch eine einzige lustvolle Versuchung des Satans. Obgleich hier nur ein Apfel lag und dort der Todestod, überwand der Apfel - so gefährlich sind die lustvollen Versuchungen des Satans. Die Geschichte der Gläubigen aller Zeiten liefert dazu die traurigsten Belege. Der königliche Sänger David, der Mann nach dem Herzen Gottes, erlag der lustvollen Versuchung des Satans beim Anblick der schönen Bathseba. Einer der Zwölfe, die des speciellen Umgangs des Sohnes Gottes gewürdigt waren, Judas Ischarioth, erlag der lustvollen Versuchung des Satans im Anblick der dreißig glänzenden Silberlinge. Demas, ein treuer Apostelschüler, ließ sich die Augen verblenden von der Freude dieser Welt und litt am Glauben Schiffbruch. Und wie mancher gottinnige Mensch, der demüthig und glaubensvoll wandelte, so lange seine Wege durch die Niederungen des Lebens gingen, ist in Hochmuth und leeres Formenchristenthum, oft in viel Schlimmeres noch gefallen, sobald es dem Satan gelang, ihn auf die stolzen Höhen irdischen Lebens zu bringen. Gute Tage stehlen das Herz, und lauter Honig verdirbt den Magen - daher die traurige Erscheinung, daß der Fürst der Finsterniß große Beute macht unter den Frommen, wenn er in erheuchelter Theilnahme ihrem Fleische schmeichelt.

Aber nicht minder setzt er die kleine Heerde in Schrecken durch seine leidvollen Versuchungen. Dieselben sind theils leiblicher, theils geistiger Art; bei den leiblichen Versuchungen weher Art benutzt der Teufel die Bundesgenossenschaft der Welt, bei den geistigen Versuchungen naht er ohne Hülfstruppen in eigner Person. Mit einer leidvollen leiblichen Versuchung nahete er dem zweiten Adam, unserm Heilande, in der Wüste, da ihn hungerte und der Teufel ihn verlocken wollte, seinen Hunger auf sündliche Weise zu befriedigen. Mit ähnlichen Versuchungen sucht er denn auch allezeit Jesu Jünger zu sichten. Die Christenverfolgungen alter und neuer Zeit sind solche satanischen Anfechtungen. Viele treue Märtyrer Christi haben sie ehrenvoll bestanden, aber manch Einer hat auch Angesichts des Scheiterhaufens oder des geöffneten Rachens der Löwen seinen Glauben verleugnet und den heiligen Geist betrübt. Berichtet doch selbst von dem großen Apostel Petrus eine alte Sage, daß noch am Abende seines Lebens der drohende Märtyrertod ihm eine zu starke Versuchung gewesen, daß er dem Kerker entronnen sei und, von Liebe zum alten Leben übermannt, die Flucht ergriffen habe; aber dieselbe Sage schließt dann also, der Heiland sei dem alten Jünger auf der Flucht begegnet und habe ihn zur Scham und zur Umkehr nach Rom und in den Tod bewogen. Wir leben in christlichen Landen und werden von Christen-Verfolgungen mit Feuer und Schwert nicht geängstigt. Aber dafür weiß der Teufel durch die Welt den Gläubigen allerlei andres Leid und Schaden zuzufügen, um sie zum Abfall zu verführen. Es ist eine schwere Versuchung, wenn Jemand, der den Begriff der Ehre nicht nach dem Sinne der Welt, sondern nach dem Sinne Jesu Christi faßt, es leiden muß, daß sich seine Standesgenossen von ihm zurückzieht; es ist eine schwere Versuchung, wenn ein armer Tagelöhner, der die Woche über für den Gutsherrn arbeiten muß und den Sonntag über um des Gewissens willen für sich nicht arbeiten will, in Noth geräth; es ist eine schwere Versuchung, wenn ein Kind, das Gott lieber hat als Vater und Mutter, in Gefahr geräth, von seinen Eltern verstoßen und enterbt zu werden. Es ist selbst für einen König nicht leicht zu tragen, wenn um seiner Gläubigkeit willen sein Lebensweg thränenreich wird.

Und doch viel gewaltiger, unheimlicher und gefahrvoller noch sind die geistigen Versuchungen des Satans. „Es ist noch das geringste Leiden, sagt Dr. Luther, welches der Teufel durch die Welt auf uns treibet, so die Christenheit äußerlich und mit leiblichen Waffen angreifet, als Schwert, Kerker, Beraubung Guts und Leibes dazu; aber das ist viel schwerer, so er inwendig selbst treibet, da er die Herzen angreift, martert und plagt mit seinen feurigen Pfeilen, das ist mit Schrecken und Angst der Sünde und Gottes Zorns, da er dem Menschen, der da sonst blöde und furchtsam ist, ein Tränklein schenket nicht von bitterem Wermuth und Galle, sondern das da heißt Höllenangst, und in ein Bad führet, da er liegt wie in einem glühenden Ofen, daß ihm das Herz zerschmelzen möchte.“ Mit diesen hohen geistlichen Anfechtungen ward der Herr Christus in Gethsemane versucht, daß er mußte mildiglich Blut schwitzen. Von solchen Faustschlägen Satans wußte Paulus zu erzählen. Die Anfechtungen Luthers auf der Wartburg sind bekannt; zwar die berühmte Tintenfaßgeschichte ist ein späterer Zusatz, aber das ist wahr, daß Luther in der Einsamkeit der Wartburg meinte tausend Teufeln unterworfen zu sein und wider die geistlichen Mächte der Bosheit unter dem Himmel schwer zu kämpfen hatte. Bei den meisten Gläubigen, die von solchen Anfechtungen betroffen werden, besteht der Stachel derselben darin, daß der Satan ihnen einredet, sie hätten die Sünde wider den heiligen Geist begangen, mit andern Worten, Christi Blut sei für sie vergebens geflossen, ihre Sünden könnten nicht vergeben werden. Im Ausgange des 16. Jahrhunderts lebte zu Marburg, dann zu Wittenberg als Lehrer der Gottesgelahrtheit Aegidius Hunnius. Als derselbe in seinen jungen Jahren noch auf der Klosterschule in seiner würtembergischen Heimath war, da geschah's, daß die jungen Studenten eines Tages plauderten und ein Wort gab das andre, und Einer brachte die Rede auf die Sünde wider den heiligen Geist, daß dieselbe nicht könne vergeben werden. Dies Wort drang in den jungen Aegidius, so erzählt er's selbst, als ein Todespfeil, so daß ihn eine Angst und Noth überfiel, und Satan ihm zuflüsterte: Du hast die Sünde gegen den heiligen Geist begangen! Er sagte aber von dieser Anfechtung zu Niemandem etwas. Er legte sich mit ungeheurer Traurigkeit zu Bette und weinte die Nacht hindurch und betete und schrie zum barmherzigen Gott. Am andern Morgen begab er sich, noch immer sehr traurig zum gemeinschaftlichen Gebet, ging dann ebenso trübe in den Unterricht und stellte sich auf seinen gewöhnlichen Platz. Siehe da, da liegt gerade auf seinem Platz „die Perle“, ein geistliches Buch von Johannes Spangenberg aufgeschlagen, und sein Auge fällt da gleich auf eine Abhandlung: was die Sünde wider den heiligen Geist wäre? Rasch liest er's, und sieh', die Antwort aus des Kirchenvaters Augustin Munde steht gleich dahinter: Die Sünde wider den heiligen Geist wäre eine beharrliche Unbußfertigkeit. Das gab ihm Trost und Freude, und der Satan mußte weichen. Aber nicht alle bestehen siegreich diese hohe geistliche Anfechtung wie Aegidius Hunnius. Francesko Spiera ließ sich bis zu seinem Augenbrechen nicht trösten mit Christi Blut, sondern starb in dem Mißglauben, die Sünde wider den heiligen Geist begangen zu haben, und seine letzten Worte waren: Es ist unmöglich, daß mich Gott sollte aus der Hölle reißen.

Alle diese Versuchungen des Satans, die lustvollen, wie die leidvollen, die leiblichen, wie die geistigen, stecken in der Luft der Gegenwart und Zukunft und können sich in jedem Augenblick über dem Haupte eines gläubigen Menschen wie ein schweres Gewitter entladen. Es ist nicht Glaube, es ist Leichtsinn, wenn man, nachdem man den Schatz des Heils gefunden, felsenfeste Sicherheit für alle Zukunft zur Schau trägt. „Hast du nun die Perl' errungen, denke ja nicht, daß du nun alles Böse hast bezwungen, was uns Schaden pflegt zu thun.“ Freilich singt St. Paulus: „Nichts mag uns scheiden von der Liebe Gottes in Christo“ - aber auf die das Wort geht, das sind eben die, die Glauben halten bis aus Ende, und eben der Glaube ist es, den der Satan mit seinen Versuchungen zu unterminiren sucht; daß St. Paulus nicht der Meinung ist, daß wer einmal Glauben hat, ihn in den Versuchungen des Satans nicht wieder verlieren könnte, zeigt eine andre Stelle, wo er davon spricht, daß er seinen Leib betäube und zähme, auf daß er nicht Andern predige und selbst verwerflich werde. Und wenn derselbe Apostel an einer dritten Stelle die Versuchungen scheidet in solche, die menschliche seien und in solche, die über menschliches Vermögen gehn, so predigt er damit den Satz: „jeder Mensch hat seinen Preis, für den er den versucherischen Mächten feil ist,“ schlägt mit diesem Satze auch den letzten Rest des Vertrauens auf eigene Kraft zur Ueberwindung der Gefahren der Zukunft zu Boden und läßt uns nichts übrig, als das Schreien zu Gott, daß Er, der unsre Vergangenheit durch die Vergebung der Schuld sicher gestellt hat, uns auch unsre Zukunft sicher stelle durch seine Dazwischenkunft in den Versuchungen des Satans.

Und so hätten wir denn nun den Uebergang gewonnen zur Betrachtung des Anfangs der sechsten Bitte, zur Erwägung der Worte: Führe uns nicht, nicht in die satanischen Versuchungen hinein! Diese Worte haben auf den ersten Blick etwas sehr Auffälliges. Da eben nach der gesammten Lehre der Schrift der Satan, nicht aber der ewig gute Gott den Menschen zum Bösen versucht, wie mag Gott da angeredet werden: Führe Du uns nicht in die böse Versuchung!? Was die Worte: „Führe uns nicht“ im Allgemeinen besagen müssen, wenn die Schrift durch die Schrift ausgelegt wird, das kann ja allerdings keinem in der Schrift gegründeten Christen zweifelhaft sein; und Vater Luther hat ja sicherlich den Sinn sehr schön getroffen, wenn er erklärt: „Gott versucht zwar Niemand; aber wir bitten in diesem Gebet, daß uns Gott wolle behüten und erhalten, auf daß uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge noch verführe in Mißglauben, Verzweiflung und andre große Schande und Laster; und ob wir damit angefochten würden, daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten. Warum aber der Heiland diese Seufzer gerade in die Worte: „Führe uns nicht in Versuchung“ eingekleidet hat, dem müssen wir noch tiefer nachdenken.

Es gilt, das Verhältniß in's Auge zu fassen, in welchem der böse Feind zu Gott dem Herrn steht. Obwohl der Satan seine ganze Natur in Sünde verderbt hat, mit seinem ganzen Wesen von der Wurzel bis zur Blüthe von Gott abgefallen und in die ewige Feindschaft wider Gott gerathen ist, so ist er doch, weil auch er eine Creatur ist, trotz seiner Bosheit und in seiner Bosheit Gottes Knecht geblieben. Es ist ein manichäischer Traum und eine seelenverderbliche Irrlehre, anzunehmen, daß neben dem souverainen Gott noch eine zweite souveraine Herrschaft Platz habe; nein, dem majestätischen Gott müssen sie alle dienen, die Engel des Lichts und auch die Engel der Finsterniß. Daraus folgt, daß die satanischen Versuchungen, obgleich sie nimmermehr von dem ewig guten Gotte ausgehen - denn was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsterniß? - doch sammt und sonders unter Gottes heiligem Walten, unter der Zulassung seines weisen Willens stehen. Das Buch Hiob zeigt uns das ausdrücklich an einem ergreifenden Beispiel; Gott ist es da, der dem Satan erlaubt, zu Hiob zu gehn, ihm Alles zu nehmen, ja ihn selber anzutasten. Und der noch heftiger vom Satan versucht ward, als Hiob, unser Heiland - was berichtet doch die Schrift von seiner ersten Versuchung? „Da ward, so berichtet sie, Jesus vom Geist in die Wüste geführet, auf daß er von dem Teufel versucht würde.“ Nun, damit ist die Anrede der sechsten Bitte an Gott: „Führe Du uns nicht in die satanischen Versuchungen“ in ihrem Rechte erwiesen; ist es Gott, unter dessen Walten und Zulassung der böse Feind die Menschen versucht, so giebt es, um vor satanischen Versuchungen bewahrt zu bleiben, keinen anderen und keinen näheren Weg, als den der Bitte an den Allmächtigen: Führe Du uns nicht in die bösen Versuchungen! Laß Du keine satanischen Anfechtungen über uns kommen, damit wir nicht trotz der Vergebung der vorigen Sünden im Blute Christi durch Sünden der Zukunft das ewige Heil verlieren!

Und fürwahr, wo immer je diese Bitte: „Führe uns nicht in böse Versuchung, laß keine satanische Anfechtung zu!“ als ein Aufschrei des Glaubens an Gottes Herz gedrungen ist, da ist sie auch in Gnaden erhört worden. Denn Gott läßt die bösen Versuchungen nur über solche Gläubige zu, die in geistlichem Hochmuth oder sicherheitsvoller Trägheit sich selber etwas zutrauen; für sie ist Satan Gottes Scherge, der Gottes Gerichte vollstreckt. Aber bei denen, die täglich Gott um Kraft in ihrer Schwachheit bitten, verwandelt Gott allezeit die bösen Versuchungen, sobald sie ihnen nahn, in gute Prüfungen; denn Er ist getreu und lässet seine Gläubigen nicht versuchen über Vermögen, sondern reicht ihnen aus seinem himmlischen Zeughause Wehr und Waffen dar, daß sie nicht allein wider den bösen Feind ritterlich kämpfen, sondern ihn auch besiegen. Gottes Kinder können sinken - ja! versinken - nein! Die im Glauben gebetete, geseufzte, gestammelte Bitte: Führe uns nicht in Versuchung! bewahrt der Seele das Leben auch im ärgsten Schiffbruch. Freilich man zog vielleicht in der Zeit der ersten Liebe mit tausend Masten aus und erreicht am Ende den Hafen der ewigen Heimath nur auf einer geretteten Planke; aber man erreicht ihn doch, wenn man nur eben anhält im Seufzen um Stärkung und Bewahrung des Glaubens bis an das Ende. Der Teufel versucht euch, dem widersteht im Glauben!“ mahnt die Schrift. Darum haben wir täglich zu beten: Herr, stärke und bewahre uns den Glauben, damit sich alle bösen Anfechtungen für uns in heilsame Prüfungen verwandeln! Das heißt: Führe uns nicht in Versuchung!

Und der uns diese Bitte lehrt, der betet sie für uns mit. „Ich bitte nicht, daß Du sie von der Welt nehmest, sondern daß Du sie bewahrest vor dem Uebel,“ so betet der gottmenschliche Hohepriester täglich für seine Gläubigen im oberen Heiligthum. Wie in seiner hohenpriesterlichen Sühne die Gewähr liegt für die Vergebung der Schuld in unserer Vergangenheit, so liegt in seiner hohenpriesterlichen Fürbitte die Gewähr für unsere Bewahrung in der Gegenwart und Zukunft. Unter seinen Flügeln ruhend beten wir in der gewissen Zuversicht der Erhörung: „A und O, Anfang und Ende, nimm mich, Herr, in Deine Hände, wie ein Töpfer seinen Thon; Meister, laß Dein Werk nicht liegen; hilf mir beten, wachen, siegen, bis ich steh' vor Deinem Thron! Amen.

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