Quandt, Carl Wilhelm Emil - Das heilige Vaterunser - Vater unser, der Du bist im Himmel.

Quandt, Carl Wilhelm Emil - Das heilige Vaterunser - Vater unser, der Du bist im Himmel.

„Herr, lehre uns beten,“ sprachen die Jünger zum Heilande. Und was thut darauf der Heiland? Ehe er den Jüngern die Bittschrift aufsetzt, die sie überreichen sollen, nimmt er sie bei der Hand und führt sie weit über diese arme Erde hinaus in den Himmel. Er geht im Himmel an allen Engeln und Heiligen im Licht vorüber mit ihnen und stellt sie vor den Thron des Allmächtigen. Er weiset sie auf den thronenden Gott und spricht: Dieser allmächtige Herrgott ist euer Vater. Von den Stufen des Thrones des Allerhöchsten aber zeigt er wieder in die Tiefe auf alle Geschlechter der Menschen, sonderlich auf die Gemeinschaft der Heiligen in allen Landen und spricht: Das sind eure Brüder! - Und das ist die Deutung der Anrede.

Vater unser, der Du bist im Himmel! - Im Himmel ist der, zu dem der große Meister im Gebet seine Schüler beten lehrt. So muß denn, was irdisch ist, dahinten bleiben, und die betende Seele schwingt sich über die Natur. O es fühlt ja jede Menschenseele, die nicht leichtsinnig oder muthwillig sich selber täuscht, daß diese untere Welt zu klein ist, als daß sie ihr das Leben und volles Genüge bieten könnte, und ahnt, daß über dieser Erde und über den Himmeln der Natur, den Wolken und den Sternen sich ein dritter Himmel wölbt, in dem kein Tod ist, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen, sondern lauter liebliches Wesen und Freude die Fülle. Was aber die Seele ahnt, in Gottes Wort ist's offenbaret, verkündet, besiegelt und beschworen. Es giebt über den Räumen der Natur einen heiligen, himmlischen Raum, in welchem das Füllhorn göttlicher Gaben am reichsten ausgegossen ist, in welchem der, der mit seiner allgegenwärtigen Kraft Alles in Allem erfüllt, feinen sonderlichen Thronsitz hat, umgeben von Seraphim und Cherubim. In diesen Himmel führt der Heiland die betende Seele ein.

Er hält sich mit ihr nicht auf bei der strahlenden Umgebung des Allerhöchsten. Schnell durchschreitet er mit ihr das weite, himmlische Land; eilend führt er vorüber an den saphirnen Ehrenburgen der himmlischen Gewaltigen, der Engel und Erzengel. Durch aller Himmel Himmel führt er raschen Gangs und läßt die Seele erst stille stehn im Allerheiligsten vor dem Herrschersitz der allerhöchsten Majestät. Vor den Vater, der im Himmel ist, das ist vor den großen Gott, von dem und durch den und zu dem alle Dinge sind, stellt er seine Beter.

Der Heiland will nicht, daß man sich mit Gebeten an Geringere wende, als an den allerhöchsten Gott. Alle Creaturenanbetung ist für seine Jünger verpönt, sowohl um Gottes willen, als um der Menschen willen. Um Gottes willen, denn Gott ist Gott und keiner mehr, wir sollen nicht andere Götter haben neben ihm. Um der Menschen willen, denn „Creatur ängstet nur, Gott allein kann geben Freude, Friede und Leben.“ Die Anrede im Gebet des Herrn schneidet ab allen Cultus des Genius, wie allen Heiligen-Cultus, allen Engel- und Mariendienst. Ein kleiner siebenjähriger evangelischer Knabe aus der Lüneburger Heide gerieth zur Zeit, da die Türken öfters Einfälle in Deutschland machten, in die Hände der Muselmänner, und diese wollten ihn mit Gewalt zum Muhamedaner machen. Aber Peter Schütte, so hieß der Knabe, blieb fest und sprach: Ich bete nur den großen Gott in Jesu Christo an. Später wurde er durch katholisches Kriegsvolk befreit. Dasselbe hatte Marienbilder in den Zelten; vor denen fielen sie Abends auf die Knie und beteten an. Peter aber blieb stehen. Da sagten sie: Willst du nicht mitbeten? Nein, antwortete er, Bilder bete ich nicht an; Gott will es nicht haben, daß wir Bilder anbeten sollen; ich bete Gott alleine an. Der kleine Junge hat's vom großen Meister Jesus Christ gelernt; der will's nicht leiden, daß wir zu Creaturen beten; vor den großen Gott stellt er die betende Seele.

Und ist es nicht eben auch dieser große Gott, und Er allein, nach dem das betende Herz dürstet, wie der Hirsch nach frischem Wasser? Wenn ich nur Dich habe, sagt Assaph, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Das Menschenherz, so klein es ist, faßt Gründe in sich, die nur der große Gott ausfüllen kann. Er, der das Erdreich gründete auf seinem Boden und den Himmel ausbreitete wie einen Teppich; Er, vor dem die Berge hüpfen, wie die Lämmer, und die Hügel, wie die jungen Schafe; Er, der da spricht, so geschieht es, der da gebeut, so steht es da -: Er ist der Magnet, zu dem es die Seele mit Wunderkräften zieht. Hab ich Ihn, dann habe ich Alles, ohne Ihn besitze ich nichts!

Doch was ist denn der Mensch, daß er so kühnes Begehren in seiner Brust hegt? Was hat er für einen Rechtstitel aufzuweisen, daß er sich eines so großen Dinges unterwindet, zu reden mit dem Allmächtigen und Allerhöchsten? -

Entkleidet von dem Flitterstaate, mit dem der Mensch dem Menschen gegenüber tritt, ist der Mensch - eine Scherbe von den Scherben dieser Erde. Vom Staube genommen, muß er zu Staube wieder werden; Asche und Staub, so tritt er vor den Herrn der Herrlichkeit. Ei, geben denn irdische Majestäten auf ihren vergänglichen Thronen einem Wurme des Standes Gehör? Sollte die Majestät der Majestäten Rede stehn einem Gemächte ihrer Hand? - Doch dies Gemächte trägt Gottes Züge. Gott blies ihm selber seinen lebendigen Odem ein. Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn. - Aber ist nicht durch Adams Fall gänzlich verderbt menschlich Natur und Wesen? Kann der Mensch mit allen seinen Leidenschaften, mit seiner ganzen schuldbeladenen Vergangenheit wirklich noch im Ernste meinen, Gottes Bild zu sein, daß er auf Grund seiner Gottähnlichkeit und Gott-Verwandtschaft zu Gott zu reden wagte? Sind wir nicht in Sünden geboren? Umringen uns nicht die Sünden unserer Jugend wie Berge? Lagern sich nicht die Sünden von gestern über uns, wie dunkle Schatten? Trat je ein Rebell so kühn in den Thronsaal seines irdischen Fürsten, als ein sündiger Mensch mit der Vaterunseranrede in das Allerheiligste des Königs der Könige tritt? Sollte uns nicht das Herz entfallen, müssen nicht die Kniee unseres inwendigen Menschen schlottern?

Ja, so müßte es sein, wenn Jesus nicht wäre!

Aber Jesus ist da, und Er stellt sich zwischen den Sünder und den allmächtigen Gott und sagt: Fürchte dich nicht, klammre dich nur an mich an und glaube an die Versöhnung durch mein Blut und meine Wunden; siehe der große Gott ist durch mich dein Vater! Vater unser, der Du bist im Himmel!

Der heilige, große Gott eines armen Sünders Vater - wie mag solches zugehn? Ach, wenn ich dies Wunder fassen will, so steht mein Geist vor Ehrfurcht still. Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, nach Bethlehem gab und nach Gethsemane und Golgatha gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren sein, sondern das ewige Leben haben. Christus Jesus, der eingeborne Sohn des Vaters und der makellose Glanz seiner ewigen Glorie, ist herabgestiegen vom Himmel auf die Erde und geworden, wie unser Einer, nur ohne Sünde, auf daß wir würden wie Er und von der Erde hinauf zum Himmel steigen und als Kinder vor den Thron des Vaters treten könnten. Was uns von Gott auf ewig schied, die Sünde, hat Er getragen, alle Sünde hat Er getragen, und hat durch sein Leiden und Sterben die ohne Ihn verlorne Sünderwelt versöhnt mit Gott. So sind wir, die wir von Natur ferne waren von Gott, nahe geworden durch das Blut des Lammes, gerecht durch den Glauben an sein Blut, daß wir in seine Kreuzgerechtigkeit wie in ein Festkleid eingehüllt, mit kindlichem Geiste rufen können: Abba, lieber Vater; Vater unser, der Du bist im Himmel.

Wie ist es doch etwas so unnennbar Großes, daß wir Leute sündiger Lippen im Glauben an Jesum Christum zum großen Gott als unserm Vater kommen und beten dürfen. Jener alte, fromme, malabansche Schulmeister hatte wohl Recht, als er mit dem seligen Missionar Schwarz die Bibel in's Malabansche übertragend, bei dem Verse: „Sehet, welch' eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir seine Kinder heißen sollen!“ unter strömenden Thränen sagte: Das ist zu groß, das ist zu viel, ich will lieber übersetzen: „Welch' eine Liebe hat uns Gott erzeiget, daß wir seine Füße küssen dürfen.“ Es mag auch nur Wenigen beschieden sein, von ganzem Herzen und von ganzer Seele und mit ganzem Gemüthe den ewigen Gott als ihren lieben Vater im Geist und in der Wahrheit zu umfangen und anzubeten. Sagt doch selbst ein Gottesmann, wie Luther: „Wer versteht doch nur die ersten Worte im Vaterunser: Vater unser, der Du bist im Himmel! Denn wenn ich diese wenigen Worte verstünde und glaubte, daß Gott, der Himmel und Erde und alle Kreaturen geschaffen und in seiner Hand und Gewalt hat, sei mein Vater, so schließe ich bei mir gewiß, daß ich auch ein Herr Himmels und der Erde wäre; ferner: Christus sei mein Bruder und Alles mein; Gabriel müsse mein Knecht, Raphael mein Fuhrmann und alle Engel meine Diener sein in meinen Nöthen, mir zugegeben von meinem himmlischen Vater. Ob ich nun wohl fühle und erfahre, daß ich leider nicht kann mit ganzem Herzen Vaterunser sagen, wie es denn kein Mensch auf Erden williglich sagen kann - sonst wären wir bereits ganz selig - so will ich es doch versuchen und anfahen als ein Kindlein.“ Nun, aller Anfang ist schwer, aber es gilt eben, anzufangen. Wer es aber auch nur ein wenig anfängt und versucht, Gott im Glauben an Jesum Christum Vater zu nennen und als Vater mit kindlichem Geiste anzurufen, der wird auch bald genug erfahren, daß solche Anrede an Gott „Vater“ ein Wunderstab ist, vor dem das Scepter des Allmächtigen sich in Gnaden neigt. Es war einmal ein großes Gewitter, und der Hagel stürzte herunter, da sprang Jemand zu dem seligen würtembergischen Prälaten Bengel in das Zimmer und schrie: Alles, Alles ist verloren. Der liebe Mann aber ging ruhig zum Fenster, that es auf, hob seine ausgereckten Arme gen Himmel und flehte: Halt' inne, Vater! Da hat das Gewitter von dem Augenblick an nachgelassen. Das ist eine Geschichte, wenn nicht zum Nachahmen, so doch zum Nachdenken.

Hat aber der Heiland die betende Seele aus der Tiefe in die höchste Höhe geführt, in jene fast schwindelnde Höhe, wo sie das Herz Gottes als das Herz ihres Vaters klopfen hört, so lenkt er endlich aus der Höhe ihre Blicke niederwärts, indem er sie beten lehrt nicht Vater „mein“, sondern Vater „unser“. So soll der fromme Beter also Gott als Vater anrufen, nicht blos über sich, Gottes einzelnes Kind, sondern über Alles, was da Kinder heißt auf Erden. Das Wörtlein „unser“ lenkt die Augen von dem Thronsaale Gottes hernieder auf unsre vier Wände und unsre Hausgenossen, auf unsre Stadt und unsre Stadtgenossen, auf unser Land und unsre Landsleute, auf unsre Kirche und unsre Kirchgenossen, auf die weite, weite Welt und unsre Weltgenossen. Wahrlich, hier im Gebiete der Fürbitte ist das sonst oft unrechter Art zitirte Wort an seiner Stelle: „Haben wir nicht alle Einen Vater, hat uns nicht Ein Gott geschaffen?“ Selbstsüchtige Heilige, die nur für sich selber beten, sind dem Herrn so wenig wohlgefällig, wie selbstsüchtige Weltkinder, die nur für sich selber arbeiten. Der Heiland verlangt von seinen Leuten in Allem, zumal auch im Beten, immer einen Glauben, der durch die Liebe thätig ist. Daher wenn eine Seele auch im allerbrünstigsten Glauben vor der Majestät Gottes stände und mit kühnster Zuversicht ihr „Vater, Vater“ riefe, daß die Stätte erbebete und die Berge sich versetzten -: wenn nicht auf das „Vater“ das „unser“ folgt, wenn mit dem Glauben an den Vater nicht die Liebe zu den Brüdern Hand in Hand geht, ist eine solche betende Seele doch nur eine klingende Schelle und ein tönendes Erz.

Es liegt aber noch mehr in dem Wörtlein „unser“, als nur die zwingende Forderung fürbittender Liebe. Es liegt darin zugleich ein stärkender Hinweis auf einen brüderlichen, seligen Kreis der Liebe auf Erden dem die betende Seele angehört. Denn der Heiland zeigt mit dem Wörtlein unser auch, daß der himmlische Vater kein armer Vater ist, sondern daß ihm im Reiche seiner Gnade viele Kinder leben, die seinen Namen lieben; er zeigt, daß der christliche Beter kein einsamer Beter ist, sondern daß mit ihm Tausend mal Tausend vor dem himmlischen Vater ihre Hände falten. Noch immer hat der Herr sein Volk auf Erden. Noch immer giebt es mehr als Siebentausend, die ihre Knie nicht gebeugt haben vor den Götzen der Zeit, sondern mit uns zusammenstimmen in der Anbetung Gottes in Jesu Christo.

Ist aber unsre Verwandtenschaar in den Hütten der Gerechten eine so große, wohlan dann gilt es auch mit der ganzen Schaar die Gebetsgemeinschaft zu Pflegen. Das Wörtlein „unser“ bindet das eine gläubige Herz an das andere und heißt sie zusammen vor den Vater treten. Welch' ein großer Segen aber in solchem gemeinsamen Gebete der Kinder Gottes liege, kann nicht treffender ausgedrückt werden, als mit den Worten einer bekehrten Negerin in Surinam. Ein Gouverneur von Surinam fragte einmal seine frommen Neger, warum sie denn gerade immer zusammen beten wollten, es könnte dies ja Jeder auch für sich thun. Da trat eine Negerin an das Kohlenfeuer, das gerade brannte, und sagte: „Lieber Herr, leget diese Kohlen jede für sich, und sie verlöschen. Aber was giebt das für ein lustiges Feuer, wenn sie alle zusammen brennen?“

Kann ein einiges Gebet
Einer gläub'gen Seelen,
Wenn's zum Herzen Gottes geht,
Seines Zwecks nicht fehlen -,
Was wird's thun,
Wenn sie nun
Alle vor ihn treten
Und zusammen beten?

Das ist die Anrede: Vater unser, der Du bist im Himmel. Sie soll das Flußbette in uns bereiten, durch welches unsere Gebete in das Meer des Erbarmens strömen. Sie soll uns in die rechte Fassung und Verfassung setzen, als gläubige Kinder durch Jesum Christ vor den himmlischen Vater zu treten, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten. Amen.

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