Oetinger, Friedrich Christoph von - An J. A. Bengel, 21.11.1734.

Oetinger, Friedrich Christoph von - An J. A. Bengel, 21.11.1734.

Großen-Rudstätt bei Erfurt, 21. Nov. 1734.

Wie tief ist mir Ihre innere und äußere Gestalt eingegraben, und wie verlangt meine Seele nach derselben Weite des Herzens Pauli, darin ich alle Ihre geistlichen Schätze fassen und vor Gott gemeinschaftlich genießen könne! Was werden Sie denken? Abermal der Ort verändert! Aber glauben Sie, ich höre Sie ernsthaft reden, denken und ermahnen. Sie stehen oft vor mir, und ich antworte Ihrer treuen Liebe mit vielem Respect auf alle vorgehaltene Punkte, so daß mir dünkt, unser Herr stehe dabei, und alle meine Freudigkeit zu Antworten komme aus dem freudigen Berufen auf Ihn, dessen Worte ich nun lerne, Joh. 12, 24. Es ist etwas, zu sich selbst kommen und dabei den Geist der Weisheit behalten. Es ist etwas, alle Erkenntniß und Speculation in den Glauben eines Senfkorns bringen lassen, der aber keine Wunder begehret. Darin bin ich, Gott sei Lob, begriffen. In Herrnhut aber ist's schwer, auf diesen Grund zu kommen, darum reut mich noch nicht, daß ich mich in die Einsamkeit begeben. Hier finde ich in einer schlechten Hütte gleichwohl eben die Versuchung, die man überall hat; aber ich hoffe, der Herr werde meine Bitten um seine Weisheit erhören, weil alle Unbeständigkeit und Unentschiedenheit, die sich bisher so subtil vergeistigt hatte, von mir in meinem Ringen und Kämpfen verdammt wird. Nach der besonderen Führung, die Gott mit mir durch allen meinen Unglauben und Scrupel durchsetzt, dünkt mich, könne es nicht anders kommen, als auf diese Weise, daß ich eine Zeitlang in der Einsamkeit vor Gott aufwarte und mich in sein Licht stelle, daß er mich, mir selbst durch und durch bekannt mache, weil keines Menschen Rath bisher dahin gereicht hat, ich aber von so viel verschiedenen Rathgebungen den lieben Gott muß ein einiges herausschmelzen lassen, wo ich nicht, wie ein an vielen Orten scheu gemachtes Pferd, plötzlich in Gefahr zu kommen besorgen will, bei so großer Verschiedenheit aus der geraden Bahn auszutreten. An dem Mann, dessen Demuth und Einfalt ich Ihnen schon einmal gerühmt, habe ich hier ein solches Räthsel, ein solch großes Buch, eine solche Wunderlehre von ausnehmenden evangelischen Wirkungen des Geistes, daß ich gewiß sagen kann: dieß sieht man nicht zu Haus.

Gleichwie ich nun hier lerne, in Christo und seinem Geist allein trotz allen äußerlichen Zufällen zu ruhen, also behalte ich auch auf der andern Seite Ihre Lehre, Anleitung, Grundsätze, Glauben rc. in der Regel der Apostel vor mir, und hoffe, Jesus werde mich in der Mitte dieser verschiedenen Vorbilder in das rechte Eins führen, davon mir der Herr zu schreiben geben wird, wenn ich ihn inniger gefunden.

Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren

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