Neviandt, Heinrich - Die Gefahren des Formalismus für das christliche Leben und die Mittel zur Abwehr derselben.

Neviandt, Heinrich - Die Gefahren des Formalismus für das christliche Leben und die Mittel zur Abwehr derselben.

Vortrag, gehalten auf der jährlichen Konferenz des Bundes der freien evangelischen Gemeinden und Gemeinschaften in Barmen am 10. Juni 1885.

Im HErrn geliebte Brüder! Das christliche Leben fasst einerseits das Verhältnis der Seele zu Gott in sich und das ist die eigentliche Quelle, aus der es fließt, der Grund, auf den es sich erbaut und andererseits alles das, wodurch sich dieses Verhältnis in den verschiedenen Lebensgebieten äußert. Nach diesem seinem Grund ist das christliche Leben ein unsichtbares, verborgenes. Es entzieht sich den Blicken, es ist etwas, was zwischen der Seele und Gott vorgeht, und zwar so, dass nicht einmal der Seele selbst in jedem Fall dieses Leben völlig aufgeschlossen ist. Das liegt in dem herrlichen Wort Kol. 3,3 ausgesprochen: Unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Sobald aber dieses Leben sich äußeren will, so bedarf es einer bestimmten Form, die Empfindungen der Seele, ihre Wünsche, ihre Anliegen kleiden sich z. B. in bestimmte Worte, wie es unter Anderem im Gebet der Fall ist. So ist die Form gewissermaßen das Gewand des Geistes, die äußere Darstellung desselben. Sie ist deswegen notwendig, um das Unsichtbare, wenn ich so sagen darf, sichtbar und wahrnehmbar zu machen. Hätten wir nicht die Sprache, so könnten wir ja unsere Gedanken nicht mitteilen. Gott selbst hat deswegen in mannigfacher Weise Sein unsichtbares Wesen geoffenbart, wie uns das ganze Wort Gottes es zeigt und am herrlichsten dadurch, dass Sein eingeborner Sohn sich in unser Fleisch und Blut kleidete, so dass wir Seine Herrlichkeit, als die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes voller Gnade und Wahrheit schauen konnten.

Ebenso hat Gott selbst es angeordnet, dass Sein Volk, sowohl das des alten als des neuen Testamentes in einer bestimmten auch äußeren Form Ihm dienen sollte. Der Gottesdienst des alten Bundes mit allen seinen Einzelheiten beruhte auf göttlicher Einsetzung und, wenn auch die Vollendung des Heils durch die Erlösung Jesu Christi und die Sendung des Heiligen Geistes wesentliche Veränderungen gebracht haben, so fehlt es doch auch dem neutestamentlichen Gottesdienst nicht an den Darstellungsformen, in denen sich das Leben des Heiligen Geistes äußeren soll. Wir denken dabei nicht nur an den Gottesdienst im engeren, sondern im weiteren Sinn des Wortes, in welchem er das ganze Leben der Gläubigen umfasst. Nach diesen Vorbemerkungen werden wir uns leicht deutlich machen können, was wir unter Formalismus zu verstehen haben. Derselbe besteht darin, dass die Form, die äußere Darstellung an die Stelle dessen tritt, was sie eigentlich bezeichnen und ausdrücken soll, also zu einer leeren Form wird, der der Inhalt, die Wahrheit fehlt. Und wenn man sich nun begnügt mit einer solchen Form ohne Inhalt, und sich sogar daran gewöhnt, sich in solchen Formen zu bewegen, so steht man eben mitten im Formalismus. Der Formalismus ist so alt, wie die Religion ist.

Wir begegnen ihm schon in dem Opfer, das Kain dem Herrn darbrachte. Dem Opfer Kains fehlte das Herz, der Glaube und deswegen war dasselbe dem HErrn nicht angenehm. Und wie oft wird im alten Bund vor dem äußerlichen Gottesdienst gewarnt. So bestimmt der HErr die gottesdienstlichen Ordnungen festgesetzt hatte, so enthält doch schon das Gesetz vielfache Andeutungen, wie es dem HErrn um die Hingabe des Herzens bei Seinem Volk, das heilig sein soll, wie er heilig ist, zu tun ist. Ja die Beschneidung des Herzens wird als eine gnädige Verheißung des treuen Bundesgottes dem Volk Israel in Aussicht gestellt. Daran schließen sich die Ausführungen in den Psalmen und Propheten über den dem HErrn wahrhaft wohlgefälligen Gottesdienst. So ruft David im 51. Psalm aus: „Denn Du hast nicht Lust zu Schlachtopfer, ich wollte Dir es wohl geben und Brandopfer gefallen Dir nicht. Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein gebrochener Geist, ein gebrochenes und zerschlagenes Herz wirst Du Gott nicht verachten.“ Wie ist, um nur einen Propheten zu nennen, der Prophet Jesaias durchzogen von der Schilderung des Gegensatzes zwischen dem rechten und dem falschen Gottesdienst. Man nehme beispielsweise die ernste Rüge des HErrn in Jes. 1 und Jes. 29,13: Darum, dass dies Volk zu mir naht mit seinem Mund und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz fern von mir ist und mich fürchten nach erlerntem Menschengebot: Darum, so will ich ferner auch mit diesem Volk wunderlich umgehen rc. Und dem gegenüber die Anweisung Jes. 1,16.17: Wascht, reinigt Euch, tut Eurer Werke Bosheit von meinen Augen, lasst ab vom Übeltun; lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, leitet zurecht den Frevler, schafft den Waisen Recht und führt der Witwen Sache usw. Wir wollen der Kürze halber keine weiteren Stellen anführen. Und wenn wir nun ins Neue Testament treten, so ist die Bußpredigt Johannis des Täufers auch wieder vorwiegend gegen den Formalismus gerichtet, der sich so gerne auf die äußeren Vorrechte des Bundesvolkes stützte und nun auf die „rechtschaffenen Früchte der Buße“ hingewiesen wird. Nicht minder hat es besonders die Bergpredigt des HErrn von Anfang bis zu Ende mit dem Lippen- und Heucheldienst zu tun, der in Gesinnung, Worten und Werken die herrschende Richtung in dem von seinen Führern verführten Volk geworden war. Wir sehen daraus, wie der Formalismus nicht nur im Heidentum, dem die besondere Offenbarung Gottes fehlte, sondern auch im Judentum, trotz der hohen Offenbarungen Gottes, vertreten war.

In dem Gespräch des HErrn Jesu mit der Samariterin finden wir als eine Verheißung des neuen Bundes das Wort des HErrn: „Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, dass die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit; denn der Vater will haben, die ihn also anbeten. Gott ist ein Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Joh. 4,23.24). So hatte ja schon Zacharias, als er des Heiligen Geistes voll wurde, von diesem Gottesdienst in den Worten geredet: „Dass wir, erlöset aus der Hand unserer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang, in Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist“ (Luk. 1,74.75). Und nachdem nun der einige Hohenpriester mit Seinem Blut einmal eingegangen ist in das Heiligtum und eine ewige Erlösung erfunden hat, da heißt es nun im Unterschied von dem levitischen Gottesdienst: Wie viel mehr wird das Blut Christi, das sich selbst ohne Wandel durch den ewigen Geist Gott geopfert hat, unser Gewissen reinigen von den toten Werfen zu dienen dem lebendigen Gott (Hebr. 9,12,14). Und mit dieser Stelle dürfen wir wohl das herrliche Wort Hebr. 10,19-24 zusammen stellen, in dem der echte neutestamentliche Gottesdienst uns beschrieben wird. Wie lieblich schildert uns nun Apostelg. 2 am Schluss den echten Gottesdienst der ersten Pfingstgemeine, wie er in Anbetung, Bekenntnis und ungefärbter brüderlicher Gemeinschaft sich kund gibt! Wie herrlich offenbart sich dann der Zug des Heiligen Geistes in jenem „einmütigen“ Gebet, das die Gemeine zu Jerusalem als Antwort auf die erste Verfolgung Seitens der Feinde an den HErrn richtet, das der HErr nicht nur mit einem äußeren Zeichen, sondern auch mit einer neuen Mitteilung Seines Geistes an die Betenden beantwortet (vgl. Apostelg. 4,24-31).

Wer wäre nicht unwillkürlich versucht, das Auge auf dieser jungfräulichen Schönheit und Geisteskraft der ersten Gemeine ruhen zu lassen, zumal diese idealen Erscheinungen keine Traumgebilde, sondern wirkliche Offenbarungen des Auferstehungslebens Christi und der Wirkung Seines Heiligen Geistes sind. Und doch fehlt es auch in der apostolischen Zeit nicht an Erscheinungen, die eine Wiederkehr des Formalismus, so sehr derselbe dem eigentlichen Leben des Heiligen Geistes entgegengesetzt ist, im christlichen Gewande verraten. Müssen wir nicht dahin, um nur einige Andeutungen zu geben, die judenchristlichen Verirrungen in der Kolossischen und Galatischen Gemeine rechnen, die den Apostel veranlassen, so ernst und so stark darauf hinzuweisen, was den eigentlichen Kern des Evangeliums und die Kraft des christlichen Lebens ausmacht? Warnen nicht auch die beiden Timotheusbriefe vor derselben Gefahr, wenn der Apostel von Solchen redet, die den Schein der Gottseligkeit haben, aber deren Kraft verleugnen (2 Tim. 3,5)?! Und, wenn wir die 7 Sendschreiben in der Offenbarung ansehen, tritt uns nicht namentlich in der Gemeine zu Sardes, von der der HErr sagen muss: Du hast den Namen, dass du lebst und bist tot, Offenb. 3,1, und in der zu Laodicea, die in Selbstgenügsamkeit einhergeht und über ihren wahren geistlichen Zustand verdunkelt ist, tritt uns da nicht von Neuem die Gefahr des Formalismus entgegen? Sollen wir uns nun wundern, wenn wir namentlich in den späteren Zeiten der christlichen Kirche, nachdem das Feuer der Verfolgung nicht mehr seine läuternde und reinigende Kraft an der Gemeine des HErrn in derselben Weise ausübte und das Christentum mehr und mehr Nationalreligion geworden war, der Formalismus in großartigerer Weise in Erscheinung tritt? Die römische Kirche musste ja folgerichtig, je bewusster sie von der Wahrheit des Evangeliums sich lossagte, und (trotz einzelner herrlicher Erscheinungen in ihr) einem gesetzlichen Geist sich zuwandte, in der großartigsten Weise dem Formalismus anheimfallen. Und so stellt gerade sie die eigentliche Karikatur der wahren Gemeine des HErrn dar. Aber weiter! Selbst auf die gesegnete Reformationszeit, die den gekreuzigten und auferstandenen Heiland neu auf den Leuchter stellt, folgt wieder eine Zeit, wo die Rechtgläubigkeit den rechten Glauben zu drängen droht. Ja, wenn wir die Geschichte des christlichen Lebens bis auf unsere Tage mit einiger Aufmerksamkeit verfolgen, so werden wir finden, wie auch selbst. bei den lieblichsten und reinsten Erscheinungen des christlichen Lebens, namentlich in Verfolgungen, die Gefahr des Formalismus nicht ausgeschlossen war.

Ist es doch so manchmal der Fall, dass Solche, die der HErr gebraucht, um in der einen oder andern Weise neu anregend oder bahnbrechend in Seinem Reich zu wirken, wohl manche Anhänger, aber wenig Nachfolger haben. Ja, wie klein, wenigstens verhältnismäßig, ist die Zahl der christlichen Lebensbilder, die sich auf der Höhe halten, so dass der christliche Lebenstrieb ungeschwächt sich entfaltet.

Wir denken nicht, dass man unserer Ausführung den Vorwurf machen wird, dass sie zu schwarz sehe, jedenfalls ist es sehr wichtig für alle Christen und für alle christlichen Gemeinschaften, gegen diese Gefahr auf der Hut zu sein. Zwar ist es nicht zu leugnen, dass diese Gefahr des Formalismus bei gewissen Gestaltungen des christlichen Lebens größer sein kann, als bei anderen.

Da, wo man sich z. B. mit einer äußerlichen Zustimmung zu den Wahrheiten des Evangeliums begnügt, wo man den erneuernden Charakter des Evangeliums in der Weise hinter den erziehenden Charakter desselben zurücktreten lässt, dass die Betonung der Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung darunter Not leidet, da schafft man eigentlich unwillkürlich den Boden für den Formalismus. Und das ist eine der dunklen Seiten an dem konsequent ausgebildeten Nationalkirchentum. Liegt in den Institutionen selbst eine Aufforderung, z. B. ein Bekenntnis abzulegen, das nicht Eigentum meines Herzens, nicht Glaubensüberzeugung ist, so wird dadurch, auch ohne dass man es will, der Formalismus sanktioniert. Aber, dass man andererseits nicht wähnen soll: schriftgemäße Verfassung der Gemeine, schriftgemäße Ordnungen seien schon an und für sich ein sicheres Bewahrungsmittel vor den Gefahren des Formalismus, das haben wir schon aus den Beispielen der apostolischen Zeit hinlänglich erklären müssen, und die Erfahrungen aller Zeiten schließen sich als Belege dafür an.

Und wenn wir nun einen Blick auf die Gefahren, die der Formalismus für das christliche Leben in sich birgt, werfen, so versteht es sich eigentlich von selbst, wie tief das christliche Leben nach allen Seiten hin durch denselben geschädigt werden muss, ja, wie er eigentlich der Tod des christlichen Lebens ist, wenigstens da, wo er unerwünscht auftritt.

Zeigt sich das nicht im Leben des HErrn Jesu selbst? Waren es nicht die Vertreter des Formalismus, die Schriftgelehrten und Pharisäer, die den Lebensfürsten in den Tod brachten?! Und hat nicht, um ein Seitenstück zu nennen, die römische Kirche das Blut der Heiligen in Strömen vergossen?! Die besonders gefährliche Seite am Formalismus ist aber die, dass er nicht, wie andere Abweichungen, die Abweichungen an der Stirn trägt, sondern dieselben unter einer christlichen Form verbirgt. Er ist gewissermaßen ein galvanisierter Leichnam1), der erst bei genauerer Prüfung seinen wahren Charakter zeigt. Weil bei dem Formalismus die eigentliche Berührung mit dem Lebensquell, die Gemeinschaft durch Christum mit Gott fehlt, so fehlt dem Ganzen das Einzelne, das wahre frische Leben und die Lebensäußerungen werden zu bloßer Form, zu mechanischen Äußerungen. Die Bedürfnisse des Herzens werden nicht mehr im Licht des Heiligen Geistes erkannt, die Gnadenbedürftigkeit tritt zurück und eben damit auch das Gebetsleben, das seine Kraft aus dem lebendigen Umgang mit dem HErrn zieht. Es liegt auf der Hand, wie das auch auf das Gemeinschaftsleben der Kinder Gottes störend einwirken muss. Nur Herzen, die durch den heiligen Geist mit dem Leben Christi erfüllt sind und sich immer neu füllen lassen, können wahrhaft einander lieben und einander dienen. Tritt dieses Leben zurück, so tritt das alte Leben wieder in den Vordergrund und wird sich unter Umständen in Gleichgültigkeit und Kälte, oder auch in allerlei anderen Früchten des Fleisches, Streit, Zank, Neid, Hochmut und dgl. äußeren. Zeigt das nicht namentlich der Zustand der galatischen Gemeinde? Und brauchen wir verlegen zu sein, Belege aus allen Zeiten der christlichen Kirche zu finden? Namentlich aber ist der Formalismus ein gefährliches Hindernis für die Erfüllung der Aufgaben, die die christliche Gemeine und jeder einzelne Christ hat, den HErrn zu bekennen, in der Welt das Licht leuchten zu lassen, das der HErr im Herzen angezündet hat. Weil dem Formalismus der Glaube fehlt, deswegen fehlt ihm auch der rechte Trieb zu reden, zu zeugen. Er eifert wohl für seine Form, aber nicht für den HErrn. Aber noch mehr. Der Formalismus trägt in besonderer Weise dazu bei, das Evangelium bei der Welt in Misskredit zu bringen. Die Welt hat durchweg ein scharfes Auge für das, was echt in christlicher Beziehung ist und das, was es nicht ist. Es ist oft wahrhaft erstaunlich, wie sie bloße Orthodoxie vom lebendigen Glauben zu unterscheiden versteht. Nur, wo ihr bei Jemand, der sich zu Christo bekennt und die Form des Lebens, aber nicht das Leben selbst entgegentritt, da wendet sie sich enttäuscht ab oder schlägt Kapital aus solchen Beobachtungen für die Beurteilung des Christentums im Allgemeinen. Damit hängt noch etwas Anderes zusammen. Der Formalismus wird sich gleichzeitig oder unter Umständen sogar ablehnend gegen alle Erscheinungen auf dem Gebiet des Reiches Gottes verhalten, die den gewöhnlichen Lauf der Dinge durchbrechen. Der eigentlichen Erweckung kann er nicht hold sein, weil diese ihm selbst den Tod bringen würde. Ja, noch mehr. Der Formalismus macht das christliche Leben unwahr, indem er die Formen des Lebens an sich trägt, ohne das Leben selbst zu haben. Darum finden wir Ermahnungen in der Schrift, wie die: „Die Liebe unter einander sei herzlich“, und das gilt von allen andern Äußerungen der brüderlichen Gemeinschaft. Wenn wir so von den Gefahren des Formalismus reden, so liegt es uns ferne, dadurch die unserer Brüder entmutigen zu wollen, die mit uns es täglich fühlen, wie auch sie gegen diesen Feind zu kämpfen haben. Ein Feind, der erkannt, und gestützt auf Christum und Seine Gnade, bekämpft wird, herrscht nicht mehr über unser Herz!

Wenn wir nun, meine Brüder, uns anschicken, einige Winke über die Mittel zur Abwehr des Formalismus zu geben, so dürfte es wohl nicht unwichtig sein, uns vorher über die Quellen dieses so weit verbreiteten Übels Klarheit zu verschaffen. Dass der Fürst dieser Welt, der zugleich ein Vater der Lüge ist, unmittelbar und mittelbar, durch seine einschläfernden Einflüsse, eine große Rolle bei allen Erscheinungen des Formalismus spielt, darin werden wir wohl alle einverstanden sein. Es ist ja überhaupt nur durch ein schaffendes Wunder Gottes möglich inmitten des uns umgebenden Schlafes zu wachen, inmitten des allgemeinen Todes zu leben. Und dass dieses Leben, das ja alle Kinder Gottes in der Gabe des Heiligen Geistes empfangen haben, nur durch ein zweites fortgesetztes Wunder der Erhaltung Gottes und unsererseits durch einen fortgesetzten Kampf gegen die Todesmächte sich erhalten kann, liegt ebenso auf der Hand.

Nun aber tragen wir neben den tiefen Bedürfnis nach dem Leben aus Gott, das der Heilige Geist durch die neue Geburt in uns gelegt hat, zu gleicher Zeit eine tief eingewurzelte Neigung in uns nach dem alten Leben, uns von der sichtbaren Welt in weitestem Sinne des Wortes beeinflussen und herabziehen zu lassen. Dieselbe sucht durch ihr Scheinleben, durch ihre Scheingenüsse auf unser altes Leben einzuwirken, eine Neigung zur Ruhe und Behaglichkeit in uns zu erwecken, die dem Kampf und dem mit dem Kampf verbundenen Kreuz feindlich entgegensteht. Lässt nun unser Herz, dem eine große natürliche Trägheit einwohnt, sich täuschen und gewinnt eine solche Neigung vielleicht hin und wieder sogar unter christlichem Schein, Eingang in unser Herz, so ist der Formalismus ein willkommenes Auskunftsmittel, weil er die Vorrechte des Christenstandes zu gewähren scheint, und doch uns der eigentlichen Opfer überhebt. O, meine Brüder, wir haben eine beklagenswerte Neigung und Geschicklichkeit, dem Streben der Selbstverleugnung, dem, „mit Christo Gekreuzigtwerden“ aus dem Weg zu gehen und unser betörtes Herz hat eine unglaubliche Kunstfertigkeit, dem Anschein nach sich Christo hinzugeben und doch dabei das eigene Leben zu erhalten. Nach einer andern Seite hin suchen wir immer dem Glauben aus dem Weg zu gehen und uns Stützen im Sichtbaren zu suchen, wenn es uns irgend möglich ist, und der Formalismus überhebt uns eben der Notwendigkeit immer von Neuem zu glauben und von Neuem gebeugt unsere Zuflucht zu der Gnade zu nehmen.

Meine Brüder, wie groß wird dieser demütigenden Tatsache gegenüber die allmächtige Gnade Gottes, die es verstanden hat und versteht durch die Wege ihrer mannigfaltigen Weisheit im Ganzen, wie im Einzelnen doch Ihr Werk zu erhalten und es siegreich durch alle Todesmächte hindurch zur Vollendung zu führen. Das tritt uns nicht nur handgreiflich in der ganzen Geschichte der Gemeinen Gottes und des Reiches Gottes überhaupt entgegen, sondern auch im Leben des einzelnen Christen. Die Gnade ist es, die immer wieder einen neuen Lebensanfang setzt, die die erstorbenen Gebeine neu anhaucht, die äußeren und inneren Umstände so miteinander verknüpft, dass sie ihren gesegneten Zweck erreicht. Sie erweckt jenes mächtige Bedürfnis, das die tote Form durchbricht und ein neues Schreien, ein neues Dürsten nach dem lebendigen Gott hervorruft. Sie bedient sich namentlich der Trübsale im Leben der Gemeinen, wie des Einzelnen, um an der Stelle des Scheinlebens das wahre Leben des Glaubens und Geistes von Neuem treten zu lassen. Wir können das, aus Mangel an Raum und Zeit nicht näher ausführen, aber es ist so. Und deswegen ist der Geist der Gnade und des Gebets eines der wesentlichsten Mittel den Formalismus zu bekämpfen und abzuwehren. Vom HErrn allein kommt alle Hilfe, alles Leben. An Ihn wendet sich deswegen David im 139. Psalm mit den Worten: „Erforsche du mich Gott, und erfahre mein Herz, prüfe und erfahre, wie ichs meine und siehe, ob ich auf bösem Weg bin und leite mich auf ewigem Weg.“ Es ist das die entgegengesetzte Stellung von der, die der treue und wahrhaftige Zeuge an der mehr oder weniger eingeschlafenen Gemeine von Laodicea tadelt. - Diese spricht: „Ich bin reich, und habe gar satt und bedarf nichts.“ Darum wird auch ihr der ernste Rat erteilt: „Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das durchs Feuer geläutert ist, dass du reich werdest und weiße Kleider, dass du dich antust und nicht offenbar werde die Schande deiner Blöße und Augensalbe zu salben die Augen, dass du sehen mögest.“ - Jawohl das Offenbar-Werden vor Christo, das Hineintreten in Sein Licht, um von Ihm zu hören, was wir sind, wie es mit uns steht, ist eines der besten Mittel, um vor jener unheilvollen Selbstgenügsamkeit bewahrt zu bleiben, die eben mit dem Sichgehenlassen, mit dem Gewohnheits- und Formenchristentum aufs engste verbunden ist.

Stimmt dazu nicht auch der andere Rat, der der Gemeine zu Sardes gegeben wird: „Werde wach und stärke das Übrige, das sterben will?“ (Offb. 3,2). Wir finden vielfach die Neigung unter dem Volk Gottes, große Veränderungen von besonderen Geistesmitteilungen zu erwarten, von außergewöhnlichen, wonach man sehnend ausschaut. Der HErr hat es ja auch niemals an solchen Gnadenheimsuchungen in Seinem Reich fehlen lassen. Aber geht nicht hin und wieder einem solchen Verlangen ein Mangel an Willigkeit zur Seite das, was der HErr gegeben hat, die kleine Kraft vielleicht zu gebrauchen, zu benutzen, um dadurch mehr zu empfangen. Der Treue im Kleinen folgen nach einem Gesetz im Reich Gottes und nach der Verheißung des HErrn größere Segnungen. Und wir glauben, dass auch in dem Wort an die Gemeine von Sardes: „Stärke das Übrige, was sterben will“, eine Hinweisung darauf liegt. Wer immer nach besonderen, außerordentlichen Geisteswirkungen ausschaut und dagegen die ordentlichen Wege, auf denen der HErr zu segnen verheißen hat, vielleicht übersieht oder gering achtet, der wird auch auf außerordentlichem Weg nicht in der Weise gesegnet werden, wie er es erwartet.

Lasst mich Euch zum Schluss, meine Brüder, noch an einige Worte zur Beherzigung erinnern, durch die uns Paulus, der Knecht des HErrn, an dem wir eine ungeschwächte Lebensfrische bis in seine alten Tage wahrnehmen, wie mir scheint, einen Blick tun lässt in den Weg, der uns vor dem Formalismus bewahren wird. Und da denke ich zuerst an das herrliche Wort Röm. 12,1 ff.: „So ermahne ich Euch nun, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass Ihr Eure Leiber begebt zum lebendigen, heiligen, Gott wohlgefälligem Opfer, welches sei Euer vernünftiger Gottesdienst, und stellt Euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert Euch durch Verneuerung Eueres Sinnes, auf dass Ihr prüfen mögt, welches da sei der gute, der wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.“ Also die Hingabe der ganzen Person, nach Leib, Seele und Geist führt zu dem lebendigen Gottesdienst. Ferner möchte ich an das herrliche Wort Gal. 2,20 erinnern: „Ich lebe, aber. nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Denn, was ich jetzt lebe in Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat, und sich selbst für mich dargegeben.“ Also der Glaube, der an Christo hängt, und mit Ihm ein Geist ist, und aus Seiner ewigen Liebe immer neues Leben schöpft, ist ein sicheres Mittel vor einer bloß toten Form bewahrt zu werden. Und endlich lasst mich Euch noch an das herrliche Gemälde erinnern, das Paulus 2. Kor. 6,4-10 von der Führung und den Erfahrungen seines apostolischen Amtes entwirft. Da sehen wir das praktische Glaubensleben in dem mutigen Angreifen des Reiches der Finsternis und in dem willigen, ja freudigen Leiden alles dessen, was mit der Nachfolge Christi verbunden ist. Sollten wir nicht, meine Brüder, an unserm geringen Teil dieselben gesegneten Erfahrungen in unserm Pilgerlauf machen können, wenn wir willig sind, denselben Weg einzuschlagen?!

Wir haben oben bemerkt, dass keine äußere Gemeineverfassung und Ordnung, und wäre sie die schriftgemäßeste, vor dem Formalismus bewahren kann. Kann doch auch eine von der Welt getrennte christliche Gemeinschaft, vor Allem, wenn sie, statt ihren Beruf ein Licht und Salz für die sie umgebende Welt zu sein, zu erfüllen, sich mit einem beschaulichen Leben begnügen wollte - ein recht kümmerliches Dasein fristen; aber andererseits wollen wir es nicht verkennen, wie wir gerade in einem Gemeineleben, das sich auf die in dem Wort Gottes gegebenen Ordnungen gründet, das auf den HErrn und Seine Gnade, und auf die Mitteilungen Seines Geistes in besonderer Weise angewiesen ist, das Leben aufhören würde, wenn der HErr Seine Hand zurückzöge, eine besondere Hilfe haben, die Erscheinungen des Formalismus zu erkennen und gegen dieselben die rechten Heilmittel anzuwenden. Wenn eine Gemeine Gottes nicht unter den belebenden und reinigenden Einflüssen des Heiligen Geistes steht, so kommt eben alles ins Stocken oder vielmehr in den Rückgang. Da ist das gemeinsame Gebet einförmig und lahm, da bleibt die gemeinsame Betrachtung des Wortes ungesegnet und trocken. Da gehen auch keine erweckenden Wirkungen durch die Verkündigung des Evangeliums in die Welt aus. Da werden die brüderlichen Beziehungen untereinander äußerlich und entbehren des lebendigen Hauches der Liebe und auch der gegenseitigen Ermahnung und Ermunterung und des Aufsehens aufeinander, was so unentbehrlich ist, für ein gesegnetes Gemeinschaftsleben. Hebr. 10,24 u. 25. Wohl der christlichen Gemeine, die ein Auge und ein Merken für alles das hat, wodurch der HErr immer und immer wieder auch ohne Worte mahnt bei Ihm, der lebendigen Quelle zu bleiben, zu Ihm zu kommen, zu ihm zurückzukehren, wo man Ihn verlassen hat, wo nicht der Einzelne die Andern verantwortlich macht für Schäden, Gebrechen und Mängel, sondern wo alle gemeinsam mit gebeugtem aber auch mit vertrauendem Herzen zum Gnadenthron nahen, um immer neue Gnade zu empfangen. Sie wird auch dann, wenn sie alt wird und das erste Jugendfeuer verglommen ist, wie es Psalm 92 heißt: Frucht tragen, saftig und frisch sein um zu verkündigen, dass der Herr fromm ist und kein Unrecht an ihm.

Das verleihe der HErr in Gnade Seinem ganzen Volk und das wünschen und erbitten wir auch im Besondern unsern Gemeinschaften. Amen.

1)
Mittels metallischer Salze sollten tierische und menschliche Haut leitfähiger gemacht werden, damit sie im galvanischen Bad metallische Ionen besser aufnehmen könne. Letztere sollten sich dann als millimeterdünner Film vollständig und lückenlos um den Körper legen. So sollten aus toten Körpern regelrechte Statuen werden.
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