Löhe, Wilhelm - Vaterunser - VI. Matth. 6, 12. Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben unser Schuldigern.

Löhe, Wilhelm - Vaterunser - VI. Matth. 6, 12. Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben unser Schuldigern.

Um Vergebung unsrer Sünden bitten wir in dieser Bitte, d. i. um ein Gut, welches für die Seele nicht minder nöthig ist, als das tägliche Brot für den Leib. Wie der Leib ohne das tägliche Brot nicht bestehen kann, sondern dahinwelkt in den Tod; so kann die Seele ohne Vergebung der Sünden nicht bestehen, sondern fällt dahin in immer größere Sünde und Zorn Gottes, welcher ein geistlicher Tod und bejammernswerther ist, als jeder leibliche Tod. Von allen Millionen und zahllosen Schaaren von Bitten, welche zu Gott aufsteigen, gehören nur sieben zum Vaterunser, und unter diesen sieben handeln zwei von der Sünde, die fünfte nämlich von Vergebung der Sünden und die sechste von Bewahrung vor der Sünde. Daraus alleine schon können wir beides lernen, welch ein furchtbares Uebel die Sünde und welch ein kostbares Gut Vergebung der Sünde sey. Aber wir sehen das nicht ein; sondern wie, vor Gott die Sünde das größte Uebel ist, so ist sie bei Menschen das geringste, und eben so kann man von der Vergebung der Sünden beides behaupten: „es ist kein größeres“ und auch: „es ist kein verachteteres Gut, als sie.“ Damit nun dieß kostbare Gut unsers Gottes in größere Achtung unter uns komme: so wollen wir dasselbe heute preisen und rühmen, wie es billig ist. Der HErr verleihe mir Licht und Kraft, euch aber ein leidenschaftloses, freies, achtsames Herz, damit ihr den guten Samen mit Freuden aufnehmet und er in euch Früchte bringe zum ewigen Leben! Amen.

Je größer ein Uebel ist, desto größer ist die Wohlthat, von ihm befreit zu werden; das leuchtet ein. Ein je größeres Uebel also die Sünde ist, desto größer ist die Wohlthat der Vergebung. Um also die Wohlthat der Vergebung richtig würdigen zu lernen, laßt uns zuerst die Sünde, dies größte Uebel, erwägen.

Viele unter euch, die namentlich, welche am meisten in Sünden leben, werden freilich (es ist schrecklich zu sagen, aber wahr) werden zweifeln, ob die Sünde wirklich ein so großes Uebel sey. Denn von jeder andern Trübsal gilt das Wort der Schrift: „alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu seyn;“ aber von dieser Trübsal, der größten unter allen, der Sünde nämlich, gilt das Gegentheil: „die Sünde, wenn sie da ist, dünkt sie uns nicht Traurigkeit, sondern eitel Freude.“ Denn wer dünkt sich fröhlicher, als der Spötter, welcher seiner Spottlust, der Verläumder, wenn er seiner neidischen, boshaften Zunge, der Zänker, wenn er seiner zänkischen Laune, der Unreine, wenn er seinen unreinen Gedanken, der Hurer, wenn er seinem hurerischen, der Ehebrecher, wenn er seinem ehebrecherischen, der Geizige und Habsüchtige, wenn er seinem geizigen, habsüchtigen Herzen Raum geben und die Zügel schießen laßen kann? Die Sünde ist, wie die Erde im Frühling, sie verschweigt es, daß ein Winter kommt; wie das Fleisch in der Jugend, es scheint zu läugnen, daß es in Verwesung aufhören wird; wie eine Rose, über deren vergänglicher Blüthe man die standhaften, Winter und Sommer bleibenden Dornen ihres Gehölzes, - wie eine Schlange, über deren bunter Haut man ihr Gift, - wie ein Blitz, über dessen lichtem Strahle man des Todes zu vergessen geneigt ist, in welchem er endet. Es ist ein Elend mit dem Menschen: den kleinste Schmerz des Leibes, den leisesten Vorboten der Auflösung desselben kann er leicht erkennen, empfindet ihn auch bald; aber den Grabstein der Sünde, den lastenden Fluch Gottes, welcher mit ihr über uns hereinfällt, empfindet die Seele nicht. So unzart, so gar der Sünde gewohnt, so gar in Sünde empfangen und geboren ist sie, daß sie es fast für einen Glaubensartikel ansieht, welchen die Erfahrung nicht bewähre, wenn man zu ihr sagt: Du bist eine Sünderin und darum das unglücklichste Geschöpf unter dem Himmel! daß am Ende Niemand gesündigt und den Fluch des HErrn damit verdient haben will!

Aber mögen wir von uns selbst in einer noch so großen Verblendung über unsern Seelenzustand seyn, mögen wir uns so geschickt mit Entschuldigungen betrügen, als wir immer können, mögen wir unser Gewißen noch so listig oder gewaltig zum Schweigen gebracht haben: desto bestimmter, desto lauter, desto unwidersprechlicher zeugt über uns das immer wache Gewißen der Menschheit, das Wort und Gesetz des HErrn, vor welchem Nichts verborgen ist, was im Menschen ist, sondern es ist Alles blos und entdecket vor seinen Augen, als vor den Augen eines Richters, der Gedanken und Sinne des Herzens erkennt. Gottes Wort macht alle Menschen zu Sündern, denn es steht geschrieben: „Gott hat Alles beschlossen unter die Sünde!“ ja, es macht alle zu großen Sündern, denn es versichert: „Gott hat Alles beschloßen unter den Unglauben,“ welcher die größte, ja die Mutter aller Sünden ist. Gottes Wort giebt gar keine Ausnahme zu, denn es klagt mit lauter Stimme: „da ist nicht, der gerecht sey, auch nicht Einer; da ist nicht, der verständig sey, da ist nicht, der nach Gott frage; sie sind alle abgewichen und allesammt untüchtig worden: da ist nicht, der Gutes thue, auch nicht Einer,“ Ja, es müßen nach der heiligen Schrift nicht blos alle Menschen Sünder seyn, etwa um weniger Sünden willen; sondern sie macht alles ihr eignes Thun zur Sünde, „In ihren Wegen ist eitel Unfall und Herzeleid“ ruft St, Paul über aller Menschen Thaten, „Ihr Schlund ist ein offnes Grab, mit ihren Jungen handeln sie trüglich, Otterngift ist unter ihren Lippen, ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit,“ - so urtheilt die Schrift über Mund und Wort der abgefallenen Menschheit, und von dem Herzen der Menschen spricht, der die Herzen und Nieren prüft: „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding: wer kann es ergründen?“ „Ich, der HErr, fährt ER fort, Ich kann es ergründen und die Nieren prüfen!“ „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf!“ Ja, auch die Vernunft des Menschen ist sündig nach der Schrift: von den Gottlosen heißt es, daß sie thun den Willen des Fleisches und der Vernunft und wer Nichts weiter hat, als die natürliche, unwiedergeborene Vernunft, d, i. der natürliche Mensch, hat vom HErrn das Urtheil: „er vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit und er kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet seyn.“ Kurz, der ganze Mensch nach allen seinen Thaten, nach allen seinen Kräften mißfällt Gott: von der Fußsohle an bis aufs Haupt ist nichts Gesundes an ihm, sondern Wunden und Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet, noch verbunden, noch mit Oel gelindert sind; ja, damit der Mensch bis auf den ersten Augenblick seines Daseyns sich in seinem Abfall von Gott erkenne, in seiner Sünde, so muß David im Lichte des heiligen Geistes, im Namen aller Menschen bekennen: „Ich bin aus sündlichem Samen gezeuget und meine Mutter hat mich in Sünden empfangen! So ohne Gestalt und Schöne, wie der Leib des verspeiten, zerschlagenen, verwundeten, blutenden, in großer Arbeit am Oelberg und am Kreuze verschmachtenden Christus, - so stehen unsre sündenbeladenen, mühseligen Herzen vor Gott. Mehr, als der Sand am Meeresufer, - schwerer, als die Berge Gottes, ununterbrochen, wie unser Leben bisher, ist unsre Sünde, - sie rauscht einher, wie ein Meer, daß hie eine Tiefe und da eine Tiefe brauset. - So ist's nach Gottes Wort, d. i. nach der Wahrheit, und die Erfahrung, wiewohl eine geringe Zeugin, wenn sie neben Gottes Worte steht, sagt Ja und Amen dazu. Denn über was ist die Klage allgemeiner, als über die böse Zeit und über die schlechte Welt, ja, wenn man nur von den Menschen in unserer Gemeinde einen jeden einzeln sollte ausforschen und anhören über die Sünden, welche er an seinen Nachbarn in seinem Leben bemerkt hat: man würde erstaunen, wie schon die Erfahrung einer einzigen Gemeinde ein so gewaltiges Zeugnis für das Urtheil Gottes über alle Welt ablegt! Dazu kommt das Zeugnis des Gewißens eines Jeden über ihn selber, ein Zeugnis, welches überhört, übertäubt, unterdrückt, aber nicht ertödtet werden kann, ein Zeugnis, welches, - lauter oder leiser, in allen Menschen eines und dasselbe ist - nämlich dieses: „Deine Sünden, o Mensch, scheiden dich von deinem Gott!“ Ja, je zarter und reiner ein Gewißen ist, desto lauter, desto gewaltiger klagt es den Menschen an, in dem es wohnt, je größer der Heilige ist, desto tiefer geht seine Buße, desto trauriger ist er über sich selbst, desto weniger mag er sich ausnehmen aus dem Orden der Sünder, desto kleiner und geringer ist er in seinen Augen, also daß St. Paulus, der hohe Apostel, sich in tiefer, nngeheuchelter Wahrhaftigkeit den größten Sünder nennt. - Was aber Schrift, Erfahrung und Gewißen über uns bezeugen, d. i. über alle Menschen, wie sie in die Welt kommen, das bestätigt auch Gottes waltende, strafende Gerechtigkeit. Denn um der Sünde willen heißen wir allzumal Kinder des Zorns von Natur, um ihretwillen liegen wir alle unter dem Fluch, um ihretwillen heißt Gott ein Gott, der täglich dräuet, t) um ihretwillen ist so viel Strafe und Ruthe Gottes allüberall an Leibern und Seelen der Menschen sichtbar: - darum ist der Tod so bitter, als der Sünden Sold, darum das Grab so voll Grauen der Verwesung, die Ewigkeit so stumm und lautlos für uns auf Erden, die Schrift so furchtbar in Beschreibung des jüngsten Gerichts, der Hölle, der ewigen Strafen! Darum mußte der Sohn Gottes so schrecklich leiden, da ER unsre Strafen auf sich nehmen wollte: daher Sein blutiger Schweiß, Sein Spott und Hohn, Seine Verspeiung, Seine Ermattung, Seine Geißelhiebe, Seine Dornenkrone, Sein Unterliegen unter der schweren Last des Kreuzes, Seine Nägelwunden, Sein Blutvergießen, Sein bittres Seufzen und Weinen, Sein Schmachten unter der Gottverlaßenheit, Sein schmerzensvoller Tod! Es konnte kein Bruder den andern, geschweige alle seine Brüder von der Sünde erlösen, es kostete zu viel, alle Menschen mußten es anstehen laßen in Ewigkeit! Kein Almosen, keine gute That, keine Liebe, keine Aufopferung vermochte auch nur eine einzige geschweige alle Sünden wegzunehmen, - keine, wenn auch noch so aufrichtige Bekehrung und Beßerung befreit uns auch nur von der Schuld eines einzigen unnützen Worts! So schwer ist der Zorn Gottes über unsre Sünde, daß nur der menschgewordene Sohn der Herrlichkeit ihn tragen kann: und auch ER wird durch denselben Seiner göttlichen Gestalt beraubt, in die Hände der Sünder, der Heiden und Juden hingegeben, als wären sie werth seine Richter zu seyn, - und auch ER sinkt über dem Ringen mit dem Zorne des HErrn dahin eine kleine Zeit in des ewigen Todes Anfechtung, in Verlaßenheit von Gott, und drei Tage lang in den zeitlichen Tod! Welch eine Masse der Sünde und des Zornes Gottes ist über dem Menschen, der leichsinnig dahin geht! Und wie gnadenreich ist der HErr, welcher so dringend, voll Ernstes und Feuereifers um unsre Seligkeil uns antreibt, daß wir Ihn um Verzeihung bitten sollen! Er befiehlt es uns, weil wir alle Tage vergeßen, was zu unserm Frieden dient! Er fordert alle Getauften, Alle, bei welchen noch Gottes Aufforderung ein offnes Ohr finden sollte, - alle Seelen, die noch nicht ganz im Tode der Sünde versunken sind, ruft er auf, daß sie alle zusammen, eine für die andre, eine für alle, alle für eine ohne Unterlaß beten: „Vergieb uns unsre Schuld!“ Denn wo uns unsre Schuld nicht vergeben wird um des Schuldopfers willen, um Jesu Christi willen, wo uns unsre Sünde nicht bedecket und durch eine gnadenvolle, hohe, ausgereckte Hand weggenommen wird, wird sie uns sicher hinabziehen, wie ein Mühlstein am Hals, in die Tiefe des Zornes Gottes, in das Grab alles Friedens und aller Freude ewiglich! - Sehet, Brüder! welch ein großes, gefährliches Uebel ist die Sünde, welche auch Gottes Sohn nicht anders, als durch Seinen Tod überwinden kann! Und wie viel gefährlicher würde sie euch erscheinen, wenn anstatt meiner stammelnden Zunge Gottes Allwißenheit, Gottes beleidigtes Herz, Gottes beredte, donnernde Stimme predigen würde, Seine Stimme, mit der Er Selber an Seinem großen Tage von Sund' und Vergeltung predigen wird?

Hienach aber wird auch einleuchten, welch eine große, nie genug geschätzte und gerühmte Wohlthat die Vergebung der Sünde ist, um welche wir in der fünften Bitte beten. Denn, o großer Gott, was heißest Du uns beten in dieser Bitte und was verheißest Du uns zu geben? Alle Menschen, alle ihre Thaten, alle ihre Worte, alle ihre Gedanken, alle ihre Begierden, alle Augenblicke ihres Daseyns, von der Empfängnis an, da sie noch nichts von sich wußten, bis zum letzten Hauche, mit welchem ihnen die Besinnung entrinnt: diese Masse des Verderbens, aus welchem sich immerfort nur wieder Verderben erzeugt, soll angesehen werden, als wäre sie nicht da, als wäre nie eine böse That, nie ein böses Wort, nie ein böser Gedanke, nie eine böse Begierde aus einem Herzen aufgestiegen, nie ein böser Mensch von einem bösen Vater entsprossen, als hätte von Adam W auf das jetzt geborene Kindlein kein Mensch je gesündigt, als wäre die Welt und ihre Menschengeschlecht heilig und unschuldig auf- und untergegangen! Das alles soll zugedeckt, vergeben und vergeßen werden von dem, der heilig und unsträflich ist, der über das Böse ewiglich zürnt, der allwißend und allmächtig ist, deß heilige Eigenschaften und Namen alle von unsern Sünden verspottet, verhöhnt und, so viel an uns lag, entweiht worden sind. Dieser große Gott soll, anstatt nach Gerechtigkeit zu strafen hier und dort, Vergebung und Segen verleihen ohne Ende uns, den Abtrünnigen und Unwerthen! „Vergieb uns unsre Schuld!“ rufen wir - d, h. hemme Deinen Zorn, dämme Deine gerechte, Deine für alle Geschöpfe unaufhaltsame Rache in Gränzen ein, ehe sie uns ereilt, streiche unsre Schulden in den Büchern des Gerichts aus, verwandle Deine Strafen in selige Züchtigungen, den Tod ins Ende aller Strafe und Züchtigung, schließe die Hölle vor uns zu ewiglich, bring den Satan, unsern Feind, in Gewahrsam, daß er uns nicht schade, öffne uns Deinen Himmel, Dein Paradies, den Baum des Lebens wieder, gieb uns die Wohnungen vor Deinem Thron zum Aufenthalt, Deine Engel und seligen Geister zu Brüdern, sey unser Gott wieder und laß uns Sünder Deine Kinder werden! Brüder! das Alles bitten wir in der fünften Bitte, das Alles verheißt uns der Vater um Christi willen zu geben: ist das nicht eine große, kostbare Gabe, ist nicht Leben und Seligkeit darin enthalten - und wenn diese Gabe verachten nicht Sünde ist, was soll dann noch Sünde seyn? Wenn man das einzige Mittel, seinen Sünden und ihren Strafen zu entrinnen, die Vergebung der Sünde, verschmäht, wie soll man dem zukünftigen Zorn entrinnen?

Ob nun gleich dies Alles von den Dienern Gottes treulich gepredigt wird, so bleiben die meisten dennoch bei der alten Verachtung des Evangeliums und der Vergebung der Sünden, etliche aus den oben schon berührten Gründen des Leichtsinns. Sie werden von Gottes Wort nicht überzeugt, daß ihre Sünde so groß ist, sie täuschen sich fortwährend über den Zustand ihrer Seele, sie halten die Vergebung der Sünden für eine nur geringe Gabe, der Meinung, daß der Mensch, namentlich sie selber, doch so gar viel nicht begehe, wofür er Vergebung haben müßte. Denen nun sey wenigstens das noch gesagt: wer so denkt, der muß es nothwendig auch nicht für so gar nöthig achten, daß Christus für unsre Sünden starb; der Tod Christi muß ihm auch nicht so gar wichtig seyn; er muß entweder die Vergebung der Sünde der Mühe so gar großer Leiden, als die Schrift predigt, nicht für werth, oder gar die Leiden Christi selber nicht für so groß achten, weil ja auch nicht für so unendlich viel zu büßen gewesen wäre. Ein solcher verachtet die Weisheit Gottes, welche im Tode Christi eine ewige Erlösung, im Kreuz des HErrn eine Vereinigung der Gerechtigkeit und Liebe Gottes gefunden hat und darum gerade in ihm ihre Triumphe feiert. Ein solcher verachtet die Gerechtigkeit Gottes in ihrer herrlichsten Erweisung; denn nur nachdem Einer für Alle, ein heiliger Gottmensch für alle Sünder Schuld und Strafe getragen, hört die Gerechtigkeit auf, wider die Vergebung der Sünden Einsprache zu thun, welche dem Sünder aus Gnaden gereicht wird. Ein solcher verkleinert die Barmherzigkeit des Allerhöchsten, welche bis in die Tiefen der Strafen unsrer Sünde, des zeitlichen und ewigen Todes herabstieg, um ihre verlorenen Schafe der Sünde und ihrer Pein zu entreißen und sie zu ewigem Frieden und himmlischen Freuden zu erheben! Ueberhaupt ist ein solcher im Widerspruch und also in Feindschaft gegen Gott begriffen: während Gott die Sünde groß achtet, achtet man sie klein; während Gott sie nur um den Preis des Eingebornen losgiebt, ist man der Meinung, es habe deßen nicht bedurft, solche Anstalten und gleichsam Anstrengungen hätte der nicht machen sollen, welcher mit Einem Worte die Welt aus Nichts erschuf. Was aber ist das für ein Unverstand, wider Gottes Wort und Wege zu reden, seine eigne Vernunft über des HErrn Vernunft hinaufzusetzen! Welche Sünde der Unwißenheit, und wenn man weiß, was man thut, welch ein Frevel ist es!

Andere nehmen sich der Vergebung der Sünden auch nicht an, aber aus anderm Grunde, nämlich weil sie gleich Cain, gleich dem Verräther Judas ihre Sünde für zu groß halten, als daß sie sollte vergeben werden können. Auch dies ist und bleibt nichts Anderes, als eine wahre Verachtung der Sündenvergebung und Gottes. Denn bedenket: die Vergebung der Sünden ist eine Handlung Gottes, die Sünde aber ein Werk der Menschen: sollte Gottes Werk nicht der Menschen Werk übertreffen, sollte die herrliche Vergebung des großen Gottes, erworben durch dreißigjährigen Gehorsam und endlich durch den Tod des eingebornen und menschgewordenen Sohnes, nicht mächtig genug sehn, der Welt Sünde zu verschlingen? Gott ist allmächtig, und eine Sünde sollte für Ihn zu groß seyn, um vergeben zu werden? Gott ist allwißend: sollte Ihm eine Sünde entgangen seyn, daß ER sie in den Rathschluß der Vergebung nicht eingeschloßen hätte? ER ist allgegenwärtig, und es sollte irgend ein Mensch seyn, welchem ER mit Seiner gnadenreichen Vergebung nicht gegenwärtig wäre? ER, welcher der Morgenröthe die Flügel und den Inseln des Oceans ihre ferne Lage gab, welcher alle Winkel der Welt geschaffen hat und jedes finstre Herz von oben her kennt: ER sollte nicht ferne, nicht bis in diesen Winkel der Welt, nicht bis in dein Herz dringen können, o Bruder, der du in Trauer und Schatten des Todes sitzest, - ER sollte zu ferne seyn, um dir den Freudenschein der Vergebung zu schenken? ER thut nie etwas halb, und ER sollte, da ER einmal Vergebung schenken wollte, eine Vergebung gegeben haben, die nicht für alle Sünden aller Menschen aller Zeiten hinreicht? ER hat gesagt: „Kommt her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seyd, Ich will euch erquicken!“ und du solltest nicht unter diesen allen seyn - und dir sollte nicht, oder nicht ganz, nicht vollständig, nicht zu deiner innigsten Befriedigung vergeben werden? ER weiß das Meer zu stillen und des Schachers Todesangst in Frieden Gottes aufzulösen: und dein Herz sollte ER. nicht stillen können? Die Himmel füllet ER mit Seiner Herrlichkeit und Freude: und für dein kleines enges Herz sollte ER, obschon ER Fried und Freude verheißt und geben will, keine Vergebungs- und Versöhnungsfreude übrig haben? Wo denkst du hin, o Herz? ER ist ein großer HErr, ER giebt mit vollen Händen: bei Ihm ist viel Vergebung, daß man Ihn fürchte! Du betest: „Vergieb uns unsre Schuld“ - und betest es auf Sein Gebot: und wenn du ausgebetet hast, so zweifelst du, ob es auch seyn und ob Er's thun kann? Welche Thorheit! ER reicht dir Vergebung dar, weil du ohne sie ewig untergehen mußt: ER heißt dich darum bitten: du bittest - und dann hältst du Ihn für einen solchen, welcher nur zum Spotte dir dieß große Gut darreicht? Was ist das für ein Vertrauen zu Ihm? ER reicht dir Vergebung nicht nur, ER dringt sie dir gleichsam auf: du ziehst Hand und, Glauben vor ihr zurück: ist das nicht Verachtung Seines Gutes? O Bruder, Der in Vergebung und Frieden sich zum Menschen neigt, soll nicht zürnen, wenn der Mensch vor Ihm und Seinem freundlichen Angesicht flieht? Hüte dich ja! Unglaube an die Vergebung ist die Sünde, um welcher willen keine Sünde vergeben werden kann; der Glaube aber ergreift Vergebung und decket alle Sünde und Schande des Herzens zu!

Einige haben vielleicht Gedanken dieser Art im Herzen: „Ach, wir wollten gerne glauben, wenn wir's nur gewiß wüßten, daß uns vergeben ist, wenn wir nur eine sichere Gewähr dafür hätten. - Aber hier fehlt es uns: wir haben große Lust zu glauben, aber eben weil wir die Vergebung der Sünden für das größte Gut auf Erden halten, eben daher kommt es, daß wir sie so schwer fassen und festhalten: wir möchten uns nicht gerne täuschen, sondern in der Vergebung sicher ruhen!“ Aber, geliebte Brüder, die ihr auf diese Weise angefochten seyd, welches Ding in der Welt ist doch so gewiß, als die Vergebung der Sünden, welches hat gewißere Gewährleistung? Wie oft, ja schon in dieser Predigt, wie oft sind euch Gründe der Gewißheit vorgehalten worden! Aber, da ihr sie von Kind auf vernommen habt, machen sie, so stark sie auch sind, den rechten Eindruck nicht mehr auf euer Herz. Nicht sie haben an Kraft verloren; aber ihr habt an Kraft abgenommen, sie zu saßen. Erinnert euch doch an den Anfänger und Vollender euers Glaubens: weß Sohn ist ER? Ist ER nicht Gottes- und Menschensohn, nicht eine Person ohne Gleichen? Wäre ER ein bloßer Mensch gewesen, so wäre alles Sein Leiden vom Kampf im Garten bis zum: „Es ist vollbracht!“ ja, vom ersten Weinen bei Seiner Geburt bis zu Seinem letzten Seufzer dennoch viel zu gering gewesen, um die zahllosen Menschenseelen zu retten, um die unausdenkliche Menge von Sünden und Strafen wegzunehmen. Weil aber Sein Leiden das Leiden eines Mannes ist, welcher Gott ist; so konnten sechs Stunden hinreichen, sechs tausend Jahre zu versöhnen, Seine Seufzer, die zahllosen Sünden der Menschen wegzuwischen, und ER, der das ewige Leben ist, konnte den ewigen Tod verschlingen; denn was ist der Tod, welcher vor kaum sechstausend Jahren seinen Anfang nahm, gegen das Leben, das leinen Ansang nahm, und was ist des Todes unsterblich Wehe gegen die Ewigkeit des Gottessohns? ER, der Seinem Leiden Kräfte Seiner Gottheit beigelegt hat; ER, der Schöpfer Himmels und der Erde, am Kreuze hängend zwischen Himmel und Erde; ER, der Allerhöchste, erniedrigt zum Elend eines sterbenden Wurms, der da betet: „Vater, vergieb ihnen!“ der erhört wird und triumphirt: „Es ist vollbracht!“ - ER, welcher alle Seine Leiden vorhergesagt hat, deßen Verheißungen alle in Erfüllung giengen und in Erfüllung gehen, der selbst bezeugt, daß ER Sein Leben gebe zum Lösegeld für viele, in dessen Munde 18 Jahrhunderte bei oft großer Mühe keinen Betrug erfinden konnten: - Er wird doch wahrlich mit Seinem Thun und Leiden und Reden für uns arme, unwerthe Menschen noch ein Gewährsmann und ein Zeuge der Wahrheit seyn? Wir glauben so vielen Menschen auf ihr Wort, und dem Sohne, der in des Vaters Schooß ist, wollten wir nicht glauben? O da wäre von uns gesagt, was Christus zu den Juden sagt: „Ich bin kommen in meines Vaters Namen und ihr nehmet Mich nicht an; so ein Anderer wird in seinem eigenen Namen kommen, den werdet ihr annehmen!“ Wißet, meine Lieben, wer dem glaubt, den Gott gesandt hat, wer Sein Zeugnis annimmt, der versiegelt's, daß Gott wahrhaftig ist; wer aber Ihm nicht glaubt, der unehret im Sohne den Vater; denn es sollen alle den Sohn ehren, gleichwie sie den Vater ehren! Wer nun den Vater und den Sohn Lügen straft, der lästert und lügt selber wider das zweite Gebot, und wird nicht ungestraft bleiben! - Fürchtet euch vor dem HErrn! der Vater weiset die Welt auf Christum hin und ruft: „Den sollt ihr hören!“ der Sohn läßt sich hören und verkündigt in mancherlei kräftigen Worten Sein Leiden und Sterben und den Frieden der Vergebung, welcher aus beiden kommt! der heilige Geist zeuget in so vielen Sprüchen der heiligen Propheten und Apostel, daß im Namen Jesu Christi alle, die an Ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen! Die Apostel gehen hin und lehren alle Völker Buße und Vergebung der Sünden im Namen JEsu Christi, sie beweisen ihre Predigt nicht wie die Schriftgelehrten, sondern bei ihnen findet sich Beweisung des Geistes und der Kraft, Reden, die, von Geist und Leben glühend, auch Geist und Leben mittheilen, - dazu bezeugt es der HErr vom Himmel durch mancherlei mitfolgende Zeichen und Wunder und Weißagungen, daß der Apostel Predigt himmlische Wahrheit ist. Und das Wort, die Rede des HErrn, welche durchläutert ist, wie Silber im irdenen Tiegel siebenmal, - dazu Gottes Apostel, Gottes Wunder, Gottes Weißagungen auf Christus und Seine Kirche sollten keine sichern Glaubensgründe mehr für unsre Seelen seyn? Wir können dem Apostel nachsagen: „Gott ist geoffenbaret im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt von der Welt, aufgenommen in Herrlichkeit“! O wir Thoren und träges Herzens zu glauben alle dem, was von Ihm geschrieben ist, die wir uns selbst der stillen, seligen Freude berauben, welche in Annahme des apostolischen Lobgesangs liegt! - - Doch aber ist noch größer die Wolke der Zeugen, welche die Vergebung unsrer Sunden predigen. Denn der HErr, der die Welt mit sich selbst versöhnt hat, hat das Amt eingesetzt, welches die Versöhnung Predigt, und überträgt es noch heutiges Tages an Hirten und Lehrer, die an Seiner Statt, in Seinem Namen, mündlich den reumüthigen Seelen versichern müßen, was sie geschrieben lesen: „daß nämlich in Christo Jesu Vergebung der Sünde ist;“ denen ER selbst durch Seinen Sohn das Siegel der Glaubwürdigkeit eingeprägt hat, da ER spricht: „Wer euch höret, der höret Mich, und wer euch verachtet, der verachtet Mich; wer aber Mich verachtet, der verachtet den, der Mich gesandt hat!“ Warum also, da wir in solcher Würde zu euch reden, nehmet ihr unsre Worte nickt als göttlichen Trost? Warum achtet ihr uns je nach der natürlichen Gabe zu reden, wie die Schauspieler, die man lobt und verachtet nach Gefallen? warum erinnert ihr euch nicht an das, was ihr von Jugend auf gelernt habt, daß „was die berufenen Diener Christi aus Seinem göttlichen Befehle mit euch handeln, alles so kräftig und gewiß ist auch im Himmel, als handelte es unser lieber HErr Christus selbst?“ Wenn ihr nun zu alle dem gedenket an das heilige Abendmahl, - an die Worte des HErrn, die ER in jener Nacht sprach, da ER verrathen ward, an die Worte: „das ist Mein Leib, der für euch gegeben, Mein Blut, das für euch und für viele vergoßen wird zur Vergebung der Sünden,“ - an den Leib, den ihr so oft empfangen und an das Blut, das ihr so oft getrunken habt: - wollt ihr dann noch beklagen, daß die Vergebung eurer Sünden nicht genug versichert sey? O haltet eure Seelen nicht länger auf! Betet gläubig: „vergieb uns unsre Schuld!“ und zweifelt nicht mehr, daß sie vergeben und ihr erhöret seyd! denn im Glauben ist Ruhe, im Zweifel Zwiespalt und Unruhe des Herzens.

Auch hier aber ist noch ein Einwurf: „Ich, sagt einer, möchte gerne behaupten: „Ich glaube!“ Aber ich spüre meinen Glauben so selten. Manchmal kommt eine Freuden stunde, aber dann flieht die Glaubensfreude wieder. Ich bleibe in Anfechtung, meine Seele ist traurig, mein Kampf nimmt kein Ende. Ich habe mir oft Absolution geholt und das heilige Gotteslamm im Abendmahle ein Mal um das andre Mal genoßen; aber mein Herz bleibt eben arm, trocken, angefochten: es ist, als hätte für mich Alles keine Kraft. Da meine ich denn, mein Glaube sey eitel und nur eine Einbildung!“

Aber, Brüder! was liegt am Fühlen im Lande des Glaubens, wo wir berufen sind, Gott auf Sein Wort und Zusage ohne Fühlen zu trauen? Es ist um eine kleine Zeit zu thun, während welcher wir unserm Haupt und Heiland im Gefühl der Seligkeit nicht gleichkommen können: können wir die kleine Zeit nicht auswarten, wie ER auch die Zeit seines Erdenwandels, die traurige, ausgewartet und durch viel Leiden, endlich durch Todesfinsternisse zu Seiner Herrlichkeit eingieng? Was ist's mit unsern Traurigkeiten? Gott Preist die Traurigen selig, obwohl sie selbst von der gepriesenen Seligkeit Nichts spüren: denn ER sieht nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft, nicht auf das Zeitliche, sondern auf das Ewige, nicht ans das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. ER vertraut den großen Schatz der Seligkeit, welcher in der Vergebung der Sünden liegt, unserm Fühlen nicht an: wie bald, bei der nächsten veränderten Stimmung, würden wir ihn da verloren zu haben wähnen, oder auch wirklich dahinfahren laßen! ER setzt ihn uns als eine gute Beilage auf den Tag des Gerichts an einem sichern Orte, neben Seinem Throne nieder, - läßet es uns aber wißen, daß Er's gethan hat, und legt uns in der heiligen Schrift einen gewißen, mit den Siegeln der heiligen Sacramente verwahrten Sicherheitsbrief in die Hände. ER schreibt uns in diesem, Seinem Briefe, daß ER alle unsre Sünde ausgetilgt und uns das Erbe des Himmelreichs zugesprochen habe, und will nur Eins von uns haben, daß wir es Ihm aufs Wort glauben und nicht bezweifeln in Roth und Tod, daß wir Seinem Worte Recht laßen, wenn noch so viel Ihm zu widersprechen scheint, - daß wir drauf leben und sterben, Sein Wort sey wahr, ja, daß wir drauf verwesen und jeden Spötter in eigner, sicherer Gewißheit Seines Worts auf den Tag der großen Rechtfertigung verweisen! Am Wort, an der Verheißung, am Glauben, der ans Wort sich hält, liegt es, nicht am Fühlen. Gottes Absolution ist im Himmel, darum ist sie, wie der ganze Himmel, uns verborgen und heimlich; sie ist göttlich und gewiß, drum über der Menschen schwankes Fühlen erhaben; sie ist ewig, darum in der Zeit nicht erschienen in Glorie, Sie hält in sich die Seligkeit des ewigen Reichs; darum muß man eine kleine Weile warten, bis sie die Hülle abthut, Sie würde tödten, wenn alle ihre Freude offenbar würde mit einem Male; darum wird sie zurückgehalten, so lange wir hienieden wallen und unsern Glauben zu üben die Berufung haben, Doch aber kommt die Vergebung unsrer Sünden auch je zuweilen dem Gefühle näher; sie erscheint einen Augenblick fürs Gefühl, um unsrer Schwachheit von ihrer Wahrheit ein merklich Zeugniß zurück zu laßen, Sie erfreut, um mit himmlischer Kraft für neue Kämpfe Stärkung zu geben, Sie reicht uns Manna und Engelsbrot für den schweren Wüstengang, aber sie thut's selten, wie jener Engel dem Elias eine Speise gab, in deren Kraft er 40 Tage ohne irdische Speise bleiben mußte, Sie setzt sich auf unser Fenster, wie ein Paradiesvogel, und singt ein kurzes entzückendes Lied von der Freudensülle im Himmelreich: eilend kommt sie, eilend fährt sie wieder auf dahin, woher sie gekommen ist. Solches Fühlen der Sündenvergebung wird uns gegeben, wenn wir schwach sind; den Starken im Glauben aber wird es aufgespart je mehr und mehr bis an das Ende ihres irdischen Kampfes, Wen Gott, einen köstlichen Weg führt, dem giebt Er weder Fühlen, noch Schauen, sondern großen Glauben. Der HErr hat immer vor, uns zu demüthigen, sey's, daß er uns Gefühl der Vergebung oder Glauben daran giebt: der Zweck ist Einer! Einst, wenn sich alle freuen können, ohne die Demuth zu verlieren; einst, wenn wir, wie der verlorene Sohn, in die liebreichen Arme unsers Vaters aus diesem Elend heimkehren werden, sehr gedemüthigt und klein geworden, wird uns die Vergebungs- und Versöhnungsfreude nicht mehr fehlen! Es werde nur Keiner irre, weil er wenig fühlt; Jeder bete: „Vergieb uns unsre Schulden“ und glaube, daß er erhört sey, weil der Vater befohlen hat, also zu beten, und also auch willig seyn muß, zu erhören! Es höre Keiner auf Zweifel, die an Gottes Wahrhaftigkeit zweifeln; denn Zweifel sind nicht von oben her, sondern von unten her; nicht aus Gott sind sie geboren, sondern aus dem bösen Herzen aufgestiegen; nicht vom Verstande, vom Unverstande kommen sie und werden gepflegt von dem Satan, der Lust hat an des Sünders Tod.

So weit, als wir bisher die fünfte Bitte durchgegangen haben, hat sie viel Süßigkeit; wie aber ist es mit dem Zusatz: „wie wir vergeben unsern Schuldigern?“ Darauf geben wir eine gedoppelte Antwort, welche ihr mit Geduld noch anhören wollet:

a. Nur Derjenige kann recht gottwohlgefällig vergeben, welchem selber die Vergebung seiner Sünden bereits geschenkt ist. Nur wer die vergebende Liebe Gottes an sich selbst erfahren hat, wird lustig und willig, zu vergeben; nur wer täglich die vom Wandel auf Erden mit Sünden bestaubten Füße wieder in Vergebung waschen läßt, wäscht seinem Bruder wiederum die Füße; nur wem selbst schon zehntausend Pfund geschenkt sind, freut sich, hundert Groschen seinem Mitknecht zu erlaßen. Denn das Gute, vor allem die Süßigkeit barmherziger, vergebender Liebe lernen wir ungelehrigen Menschen, die wir zum Bösen eilen, nur schwer und an Erfahrung fremder, großer, nämlich göttlicher Barmherzigkeit gegen uns selber. Gottes Liebe macht uns Seiner Liebe ähnlich. Wer von Gott Vergebung empfangen hat, dem wird, weil er empfangen hat, mehr gegeben: nämlich selber zu vergeben. Bedingung, Vergebung bei Gott zu erlangen, ist also nicht, daß wir selbst vergeben; sondern Bezahlung des Gelübdes ist es, da wir sprechen: „Vergieb mir, auf daß ich vergeben lerne; so will ich allen meinen Schuldigern vergeben!“ Ein Dankopfer ist es für erhoffte und geglaubte Vergebung Gottes! Gott verlangt es auch nicht als Bedingung seiner Vergebung, denn er verlangt es von denen, die schon Vergebung erlangt haben und Ihn deßhalb „Vater unser“ nennen. Nachdem ER einmal Alles vergeben und Kraft zu vergeben verliehen hat, will ER nicht weiter unsre 'täglichen Sünden vergeben; es sey denn, daß wir die dargebotene Kraft auch treu gebrauchen und uns in Vergebung üben! Dieser Sein Wille ist Liebe; denn ER will uns Seiner Seligkeit theilhaftig machen, die im Vergeben liegt: - ER will uns aus Gnade in Gnade führen; denn es ist Seligkeit und Gnade, vergeben zu können, ER schenkt uns Seinen Frieden, wir sollen ihn unser Brüdern wieder schenken! ER hat alle Feindschaft zwischen uns und Ihm weggethan: Ihm nachahmend sollen wir auch alle Feindschaft zwischen uns und unsern Brüdern wegthun, oder wir laufen Gefahr, Vergebung und Frieden wieder zu verlieren. Wir sollen, als Gottes Kinder, um Vergebung unsrer täglichen Sünden beten können: „Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigen,!“ oder wir sind Seine Kinder nicht und uns ist nicht vergeben.

b. Eine zweite Antwort ist in dem Gesagten bereits enthalten, nämlich: Vergieb, so hast du noch eine Gewißheit mehr von der Vergebung deiner Sünden. „Vergilbst Du, so hast du den Trost und Sicherheit, daß dir im Himmel vergeben wird, nicht um deines Vergebens willen, denn ER thut es frei, umsonst, aus lauter Gnade, weil ER es verheißen hat, wie das Evangelium lehrt; sondern daß ER uns Solches zur Stärke und Sicherheit als zum Wahrzeichen setze neben der Verheißung, die mit diesem Gebote stimmt: Vergebet, so wird euch vergeben!“ u. s. w. Darum sie auch Christus bald nach dem Vater-unser wiederholt und spricht: „Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben,“ Dieser Zusatz ist uns also zu thun geboten, damit wir neben Absolution und Sacrament noch ein Stück und Siegel der Versicherung gewißer Vergebung hätten. Vergeben wir, so haben wir desto weniger Ursach, an Seiner Vergebung zu zweifeln.

An euch zuvörderst wende ich mich nun am Ende, Abendmahlsgenoßen, die ihr gestern Vergebung von dem HErrn empfangen habt in der Absolution und heute die Versiegelung derselben im heiligen Abendmahle begehret! Ist ein Mann, der mit seinem Weibe, ein Weib, das mit ihrem Mann, ein Vater, der mit seinem Sohne, eine Mütter, welche mit ihrer Tochter oder Schnur, ein Kind, das mit seinen Aeltern, ein Herr, der mit seinem Knecht, ein Knecht, der mit seinem Herrn, ein Nachbar, der mit seinem Nachbar in offenbarer oder heimlicher Uneinigkeit lebt, oder habt ihr Bruder, Schwestern, Verwandte, Bekannte, Gespielen, mit denen ihr nicht im Frieden Gottes lebt, so ermahne ich euch, im Namen des HErrn: euch ist vergeben, wenn ihr aber nicht jetzt auch vergebet, so wird euch hinfort nicht mehr vergeben, sondern eure Unversöhnlichkeit verzehrt sofort, wie eine dürre Aehre Pharaonis die volle Aehre der göttlichen Vergebung! Abendmahlsgenoßen! Schauet einander ins Angesicht, in die Augen: habt ihr etwas gegen einander, ist ein längst verhaltener, längst genährter, längst offenbarer Zorn oder Groll, Haß oder Neid in euch; so bitt' ich euch, so lieb euch Gottes Vergebung, so heilig euch Christi Leib und Blut ist, so wenig ihr wünschen könnet, unwürdig zu Gottes Tisch zu gehen, so wenig ihr Lust habt, euch am Allerheiligsten unsrer streitenden Kirche, am Sacramente zu versündigen, und deßhalb gerichtet zu werden: vergebet einander, werfet hier, vor dem Altare, die alte Schlange Gott zu Ehren aus dem Herzen, welche Gift gegen euern Bruder nährt, mit dem ihr von Einem Leibe eßet und von Einem Blute trinket! Eine schlechte Ehre wäre es, welche ihr Gott mit diesem eurem Abendmahlsgange thätet, wenn Ihr von Ihm nicht vergeben lerntet! Eine schlechte Liebe thätet ihr auch, wenn ihr grollend zum Abendmahle gienget! Wer seinen Bruder haßt, der ist ein Todtschlager: wie darf ein solcher wagen, zu Gottes Tisch zu kommen? Solchen verwandelt sich der Altar zum Richterthrone, von welchem aus Gott wider sie zeugt! Das Blut im Kelche, welches für Viele vergoßen ist zur Vergebung, schreit wider solche lauter, als Abels Blut wider Cain, um Rache! Ja, wider solche wird der Leib des HErrn im Abendmahle klagen, daß sie ihn empfingen mit ihren Lippen, ohne zur Müdigkeit erweicht zu werden! JEsu Wunden, JEsu Striemen alle zeugen wider solche! Sie sind wie Judas Ischarioth, der seinen HErrn verrieth und dennoch von Seinem Brote aß, von Seinem Kelche trank! - Hier, an diesem Altare sollen nicht stehen Mann, noch Weib, nicht Knecht, noch Freier: wie sollen denn Feinde einander hier begegnen dürfen? Brüder, ihr habt Absolution empfangen, werft sie nicht weg durch Unversöhnlichkeit, behaltet vielmehr in versöhnlichem Gemüthe, was ihr habt, damit euch Niemand eure Krone nehme. Habt ihr nicht Einen Vater im Himmel, nicht Einen Mittler und Einen Geist der Heiligung? nicht Einen Glauben und Ein himmlisches Vaterland? Seyd ihr nicht Eines Leibes Glieder? Warum ist ein Glied desselben Leibes wider das andere? warum sündigt ihr wider einander? wozu Neid und Haß, Afterreden und Lügen gegen einander noch länger hin? O laßet keine Sonne mehr über eurem Zorn untergehen, vergebet einander, und, reumüthig über die gemeinsame Schuld, rufet einmüthig zu dem Vater: „Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!“ So wird der HErr euch im Abendmahle Seine Wege wißen laßen, Barmherzigkeit und Gnade, Güte und Treue an euch üben! So hoch der Himmel über der Erde ist, wird ER Seine Gnade über euch walten, - so fern der Morgen ist vom Abend, wird ER eure Uebertretung von euch seyn laßen, und über euch sich erbarmen, wie sich ein Vater über Kinder erbarmt! - Das ist gewißlich wahr! Ja! Amen.

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