Lang, Heinrich - 1. Die Wiedergeburt.

Lang, Heinrich - 1. Die Wiedergeburt.

Evangelium Joh. 3, l-10.

Eine merkwürdige Erscheinung tritt uns in unserm Texte entgegen. Einer aus der Sekte der Pharisäer, die uns fast durchgängig im Neuen Testamente als Heuchler und darum als die geschworenen Feinde Christi dargestellt werden, ist in einem aufrichtigen, aus wirklichem Wahrheitssinn hervorgerufenen Gespräche mit Christus begriffen. Ist Saul auch unter den Propheten? Und doch vermag auch dieser aufrichtige und redliche Nikodemus den Pharisäer nicht zu verläugnen. Er kommt bei Nacht zu Jesu, aus Furcht vor seinen Glaubensgenossen, um den Schein nicht auf sich zu laden, als sei er ein Anhänger Christi. Wie ist er doch ein treues Bild jener halben Seelen, die zwar dem Neuen und Besseren im Stillen huldigen, aber aus tausend Weltrücksichten am Alten hängen, ein Bild jener Lauen, welche die Wahrheit kennen und doch nicht wagen, für dieselbe einzustehen; jener Unentschiedenen, die immer auf beiden Seiten hinken und es weder mit Gott noch mit der Welt ganz verderben wollen! Ein Mensch, der dem Guten offen und entschieden entgegentritt, kann umgewandelt werden, ein Saulus kann ein Paulus werden; aber können solche halbe Seelen auch noch ganze und entschiedene werden? Kann ein Lauer noch ein warmer Freund der Wahrheit werden? Sagt nicht die Schrift: „Ach! wenn du doch kalt oder warm wärest! Aber weil du lau bist, will ich dich ausspeien aus meinem Munde!“ Lasset uns nicht richten oder verdammen, meine christlichen Freunde, sondern von Christus lernen jene Milde, mit der er auch diesen Pharisäer getragen hat, jene Sanftmuth, die das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen, sondern aufrichten, den glimmenden Docht nicht auslöschen, sondern anfachen wollte, jene Liebe, die auch den geringsten Funken des geistigen Lebens, der noch im Herzen eines Bruders glimmt, zur hellen Flamme zu entzünden sucht.

Aber was will wohl dieser Pharisäer von Jesus? Was zieht ihn so gewaltig zu dem verachteten Nazarener? „Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm.“ Der Pharisäer erkennt also Christus als Gottgesandten an, er schreibt seine Wunder nicht der Hilfe eines bösen Geistes, sondern Gottes zu, er hat Glauben an Christus. Wird Jesus nicht mit ihm zufrieden sein? Wird er nicht zu ihm sprechen: „Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen?“ Es scheint nicht, daß er mit diesem Glauben zufrieden war; er sagt: „Wahrlich, wahrlich, es sei denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ So, meine lieben Mitchristen, mag wohl auch Einer oder der Andere unter euch sein, der diesen Nikodemusglauben hat und meint, damit schon im Reiche Gottes zu sein; er erkennt Jesus an als Gottessohn, glaubt an seine Wunder und Zeichen, sagt, wenn er seine Worte hört: „Wahrlich, das sind nicht Menschen-, sondern Gottesworte,“ glaubt Alles, was er von Jugend auf in der Kirche gelehrt worden ist, hört fleißig Gottes Wort und betet vielleicht noch eifrig; aber ob Christus nicht auch Manchem von diesen sagen würde: „Wahrlich, wahrlich, es sei denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen?“ Denn alles Andere ist gleichsam nur der Anstrich seines Christenthums; die Neugeburt, der Heilige Geist im Herzen - das ist das eigentliche, wahre Christenthum.

Verstehst du, was das sagen will? Nikodemus spricht: „Wie kann ein Mensch geboren werden? Wenn er alt ist, kann er auch wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ Da hat sich erfüllet, was Paulus sagt im 1. Korintherbrief: „Der natürliche Mensch vernimmt Nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich gerichtet sein.“ Das eigentliche Wesen der Religion ist den natürlichen Menschen eine Thorheit, das ganze Christenthum ein Geheimniß und ein unlösbares Räthsel. Der Gekreuzigte das Leben der Welt, der Unterdrückte ein Sieger, der zur Hölle Gefahrene zugleich der zum Himmel Erhobene; nicht die Reichen, die Gesättigten, die Fröhlichen, sondern die Armen im Geist, die da hungern und dürsten, die da weinen und Leid tragen, sind selig; nicht Genußsucht, nicht Bildung und Klugheit, sondern Selbstverläugnung, Einfalt des Herzens und Kindessinn - die Zeichen des Reiches Gottes - welche Thorheit! Dann erst ein Glaube, der, ob die ganze Welt droht, ob Leib und Seele verschmachtet, dennoch ruhig und sicher seinen Gottesweg geht, eine Liebe, die dem Feind verzeiht und dem Freund das Leben weiht, die segnet, welche fluchen, denen wohlthut, die hassen - welch eine Thorheit für den natürlichen Menschen, der nur das Greifbare und Sichtbare glaubt, nur seinen Nutzen oder seine Lust sucht! Bei all' diesen Wundern und Geheimnissen des geistigen Lebens ertönt aus dem Munde des fleischlichen Menschen immer wieder die Nikodemusfrage: Wie ist es möglich, wie mag das geschehen? Was antwortet Christus auf diese Frage? „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: es sei denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch, was vom Geist geboren, das ist Geist.“

Erklärt ihm also Christus, was er nicht versteht? Sucht er ihm die Wiedergeburt begreiflich zu machen? O nein! er wiederholt nur einfach, was er schon gesagt und stellt das nämliche Räthsel zum zweiten Mal hin. Denn, meine christlichen Freunde, das Tiefste in der Religion kann eigentlich am wenigsten erklärt und mit Worten erreicht werden, das Christenthum läßt sich Keinem beweisen und Keinem ins Herz gießen; es will eben inwendig erlebt und erfahren sein. So stellt der Künstler ein schönes Werk, ein Gemälde vor die Augen der Welt ohne Beweis und Erklärung und sagt nur: „Da steht es, schaut es an!“ und Alle, die Sinn für das Schöne haben, bewundern und freuen sich. Und so stellt auch Christus seine Worte des ewigen Lebens einfach, ohne vielen Beweis hin und vertraut auf die verwandte Menschenseele, die ihnen Beistimmung geben werde. Dem fleischlichen Menschen sind sie eine Thorheit, dem geistigen aber Worte des ewigen Lebens. Denn was vom Fleische geboren ist, das ist Fleisch, und was vom Geiste geboren ist, das ist Geist. Wie scharf und doch wie ewig wahr stellt Christus in diesen Worten den Gegensatz des fleischlichen und des geistigen Menschen hin! Was vom Fleisch geboren ist, das ist und bleibt eben Fleisch, du magst es noch so schön schminken und aufputzen. Solange du noch fleischlich bist, d. h. so lange dein Streben nur auf deine Lust oder deinen Nutzen gerichtet ist, wird Alles, was du thust, dieses Gepräge des Fleisches an sich tragen. Du kannst deinen Geist ausbilden und bereichern mit den schönsten Kenntnissen und Fertigkeiten, es geschieht ja nicht, daß du edler, sittlich größer und heiliger werdest, sondern damit du dir eine hohe Stellung in der Welt erwerbest, Ruhm und Ehre dir verschaffest, und dadurch deine Lust und deinen Nutzen förderst. Du kannst dein Brod mit dem Armen brechen; aber es geschieht ja nicht aus Liebe zu ihm, sondern daß du von den Leuten gesehen und gepriesen werdest, damit du der Welt Sand in die Augen streuest, daß sie deine übrigen Fehler übersehe oder damit du durch Wohlthätigkeit den Stolz deines Herzens befriedigen und deiner Großmuth schmeicheln könnest. Du kannst ein guter Haushalter, ein sparsamer Familienvater sein; aber so lange du noch fleischlich gesinnt bist, ist es nicht mehr, als eine Hand voll Erde und ein wenig Staub, um was du dich abmühest. Du kannst auch die Menschen lieben, aber nur diejenigen, die deine Lust befriedigen oder deinen Nutzen fördern; wenn sie das nicht mehr thun oder thun können, so sind sie dir entweder gleichgültig oder du wirst sie hassen; daher verwandelt sich der Welt Freundschaft oft über Nacht in Feindschaft, und die heute Freunde gewesen sind, sind morgen Feinde. Denn was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch. Und natürlich auch: Was vom Geist geboren ist, das ist Geist. Der geistige wiedergeborne Mensch zieht sich zwar nicht von der Welt und ihren Arbeiten zurück; er hat auch ein Auge für die Schönheit der Erde, auch ein Herz für die Freuden der Welt, er kann auch fröhlich sein mit den Fröhlichen, sucht auch seinen Nutzen zu fördern und seinen Schaden zu wenden, will für sich und die Seinigen auch Glück und Wohlstand gründen, er thut dieselben Werke und Geschäfte, wie der fleischliche Mensch, aber mit anderm Sinn und Geist, es hat Alles ein anderes Gepräge. Sein Sinn ist in Allem, was er thut, denkt und liebt, nur einfach und schlicht auf das Gute gerichtet, und wo das Gute mit der Lust oder dem Nutzen streitet, da läßt er Lust und Nutzen fahren und hält muthig und treu am Guten fest. Darum kannst du mit einem solchen Menschen leicht umgehen; er ist einfach, überall offen und gerade, du darfst ihm jederzeit trauen; aber der fleischliche Mensch ist gewandt, unzuverlässig, heute so, morgen anders, wie es die Lust oder der Nutzen mit sich bringt, er sucht dich durch seine Ueberredungskünste zu fangen, er wendet die Lüge und alle Mittel an, um seinen Zweck zu erreichen und oft, wenn er glatt mit dir redet, sucht er dich zu verschlingen. Das ist die einfache Beschreibung des geistigen und des fleischlichen Menschen.

Du fragst, auf welche Weise geht es zu, daß ein natürlicher Mensch wiedergeboren und ein geistiger wird? Christus deutet es an, wenn er weiter fortfährt: „Laß dich nicht wundern, daß ich gesagt habe: ihr müsset von Neuem geboren werden. Der Wind wehet, wo er will und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ Wie der Wind durch die Welt weht, du hörest sein Sausen wohl, aber den Ort, wo er seinen Ursprung hat, kannst du nicht erforschen, so weht und waltet auch ein Heiliger Geist durch die Menschenwelt, der aller Menschen Herzen von der Erde zum Himmel ziehen will; du vernimmst sein Walten und Wehen wohl in dir selber, aber du weißt nicht, wie und woher er kommt. Manchmal mitten im Laufe deines, Lebens, unter dem Gedränge deiner Arbeiten und Freuden zwingt dich ein Gedanke stille zu stehen. Es ist dir, als rufe es in deiner Seele: „Wache auf, der du schläfst;“ wisse: das ist das Wehen jenes Geistes in der Menschenwelt, der auch dein Herz ergreift und mit gewaltigen Hammerschlägen die harte Rinde desselben zerschlagen will. - Du hast oft in der Bibel diese oder jene Stelle gelesen, sie hat wenig Eindruck auf dich gemacht, du bist wieder darüber hinweggegangen; ein andermal fällt dein Blick zufällig auf dasselbe Wort, du wirst festgehalten, es zwingt dich zum Nachdenken, zum Eingehen in dich selbst, es ist, als rufe Jemand: „Halt still, du bist der Mann, von dem das erzählt wird, dein ist die Sünde, die hier gerügt wird.“ Woher dieser plötzliche. Eindruck? Wisse, das ist der Geist, der da weht und waltet, wo er will, dessen Sausen du in dir selbst vernimmst, von dem du aber nicht weißt, woher er kommt.

Nikodemus antwortete und sprach: „Wie mag solches zugehen?“ Jesus sprach: „Bist du ein Meister in Israel und weißest das nicht!“ Fragst auch du, mein lieber Mitchrist, immer noch: „Wie mag solches zugehen?“ so muß ich antworten und sagen: Bist du ein Christ? willst du den kindlichen Geist Christi haben, hast von Jugend auf Christi Worte vernommen, von Kindheit an sein Bild vor dir gesehen, hast schon so oft Weihnachten, Ostern und Pfingsten gefeiert, hast schon so manche Lebenserfahrungen gemacht, die dich auf dein eigen Herz zurückwiesen - und du weißest das nicht? - Amen.

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