Lamparter, Helmut - Sinai - Der Berg der Gebote

Lamparter, Helmut - Sinai - Der Berg der Gebote

Im dritten Monat nach dem Auszug der Kinder Israel aus Aegyptenland kamen sie in die Wüste Sinai und lagerten sich daselbst gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihn vom Berge und sprach: Ihr habt gesehen, was ich den Aegyptern getan habe, und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und habe euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israels sagen sollst.
Mose kam und forderte die Ältesten im Volk und legte ihnen alle diese Worte vor, die der Herr geboten hatte. Und alles Volk antwortete und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun. Und Mose sagte die Rede des Volkes dem Herrn wieder. Und der Herr sprach zu Mose: Siehe, ich will zu dir kommen in einer dicken Wolke, auf daß das Volk es höre, wenn ich mit dir rede und glaube dir ewiglich. Gehe hin zum Volk und heilige sie heute und morgen, daß sie ihre Kleider waschen und bereit seien auf den dritten Tag; denn am dritten Tag wird der Herr vor allem Volk herabfahren auf den Berg Sinai.
Als nun der dritte Tag kam und es Morgen war, da erhob sich ein Donnern und Blitzen und eine dicke Wolke auf dem Berge und ein Ton einer sehr starken Posaune; das ganze Volk aber, das im Lager war, erschrak. Und Mose führte das Volk aus dem Lager Gott entgegen, und es trat unten an den Berg. Der ganze Berg Sinai aber rauchte, darum daß der Herr auf den Berg herabfuhr mit Feuer; und sein Rauch ging auf wie ein Rauch vom Ofen, daß der ganze Berg sehr bebte. Und der Posaune Ton ward immer stärker. Mose redete, und Gott antwortete ihm laut.
Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Aegyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf der Erde oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht mißbrauchen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht. Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligst, Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes; da sollst du kein Werk tun noch dein Sohn noch deine Tochter noch dein Knecht noch deine Magd noch dein Vieh noch dein Fremdling, der in deinen Toren ist. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses. Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes noch seines Knechtes noch seiner Magd, noch seines Ochsen noch seines Esels, noch alles, was dein Nächster hat.
Und alles Volk sah den Donner und Blitz und den Ton der Posaune und den Berg rauchen. Da sie aber solches sahen, flohen sie und traten von ferne und sprachen zu Mose: Rede du mit uns, wir wollen gehorchen; und laß Gott nicht mit uns reden, wir möchten sonst sterben. Mose aber sprach: Fürchtet euch nicht; denn Gott ist gekommen, daß er euch versuchte, daß seine Furcht vor euren Augen wäre, daß ihr nicht sündiget. Also trat das Volk von ferne; aber Mose machte sich hinzu in das Dunkel, darin Gott war.
2. Mose 19,1 ff.

Ein Berg, der mit Rauch und Feuer brennt! Man versteht, daß das Volk Israel vor diesem Berg fliehen wollte, und vielleicht ergeht es uns ähnlich, wenn wir diesen Sinai in seiner furchterregenden Majestät zu Gesicht bekommen. Er hat nicht seinesgleichen unter den Bergen der Bibel. Noch heute macht dieser Berg auf den, der das unwirtliche Land bereist, einen besondren Eindruck. Er hat etwas Unheimliches, Majestätisches, Drohendes. Rein geographisch betrachtet erweckt das ganze Bergmassiv den Eindruck einer „nackten, kahlen, einsamen Großartigkeit“. Jäh aufsteigende, schroffe Felswände, aufgetürmt wie ein mächtiges Trapez, die sich zu einer Höhe von 2292 Meter über dem Meer erheben (Wir schließen uns (ohne Einmischung in den Streit der Gelehrten) der älteren Traditionen an, die in dem Dschebel Musa auf der Sinaihalbinsel den Berg der Gesetzgebung erblicken möchte.), bilden den schwer zugänglichen Gipfel, von dem aus die umliegende Gebirgslandschaft wie ein wildes, erstarrtes Meer dem Beschauer zu Füßen liegt. Nun aber – das ist das eigentlich Erregende – ist dieser Sinai zum Schauplatz der gewaltigsten Theophanie (Zu deutsch: Gotteserscheinung.) geworden, von welcher das Alte Testament zu berichten weiß. Ein Ereignis ist mit diesem Berg verknüpft, dessen Bedeutung nicht auszudenken ist: Hier hat der allmächtige Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden, seinen Willen kundgemacht. Er hat seinem Volk Israel nach feierlicher Ankündigung seine heiligen Gebote bekanntgegeben – unverbrüchliches, gültiges Gesetz für alle, die fortan zu Gottes Volk gehören und wissen, daß sie Ihm Gehorsam schulden. Der Berg Sinai steht in der Geschichte und lebt im Gedächtnis der Kirche als der Berg der Gesetzgebung. Wir nennen ihn den “Berg der Gebote“, so gewiß er alle, die mit der Bibel umgehen, ohne Unterlaß daran erinnert, daß uns der lebendige Gott nicht der Willkür unsres Herzens überlassen hat, was die Gestaltung unsres Lebens und Handelns anbelangt. Wir haben Gebote! Es ist uns gesagt, ein für allemal, völlig eindeutig, mit gewaltiger Wucht und verbindlichem Ernst, was gut ist und was der Herr von uns fordert.

Es lohnt sich, daß wir diesen Berg genauer betrachten. Wir sehen und hören, wie sich Israel, von Gott geführt, diesem Berge naht und an seinem Fuße lagert. Mose, der Mann, mit dem Gott „wie mit einem Freunde“ geredet hat, steigt hinauf auf Gottes Geheiß und wird in das Vorhaben Gottes eingeweiht. Der Herr hat bei sich selbst beschlossen, mit diesem Israel einen “Bund“ zu schließen, nicht einen Beistandspakt, wie er auf der politischen Bühne je und dann geschlossen wird. Bei diesem Bund kann es sich keinesfalls um ein Abkommen zwischen zwei gleichberechtigten Partnern handeln. Gott hat die Führung, und Er behält sie auch. Ihm liegt daran, dieses Israel ganz seiner Führung und Herrschaft zu unterstellen, damit Er – beispielhaft für seine Herrschaft über alle Völker – in ihm ein “heiliges Volk“ auf Erden habe, das nur Ihm gehört, dient und zur Verfügung steht. Dazu hat Er dieses Volk erwählt und ausgesondert, in freier, gnädiger Verfügung, ohne vorher bei irgendeiner menschlichen Instanz anzufragen. Gott hat die Absicht, über diesem Volk sein Gesetz aufzurichten, ihm seine Gebote gleichsam wie einen heiligen Schmuck um den Hals zu legen. Denn es ist nichts Geringes, Gottes Volk zu sein. Da gilt es, seinen Adel zu bewahren! nicht als ob Er das Ja des Gehorsams gewaltsam erzwingen wollte! Ein erzwungener Gehorsam ist kein Gehorsam. So frei die Wahl erfolgt, durch welche Gott dieses Volk für sich beschlagnahmt hat, so wenig bleibt doch Israel die tägliche Entscheidung erspart, ob es nun diesen Gott wirklich seinen Herrn sein lassen, Ihm dienen und gehorchen will. Eben deshalb, damit es die rechte Entscheidung treffe, hat Gott seinem Volk vor Augen geführt, wie herrlich es ist, mit Ihm im Bund zu sein. „Ihr habt gesehen, was Ich den Aegypten getan habe und wie Ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und habe euch zu mir gebracht.“ Dieser Gott ist alles andre als ein harter Despot, der seinen Untertanen mir nichts dir nichts seine Gebote aufhalst und mit drohender Gebärde um die Ohren schlägt. Ehe Er seine Forderungen stellt, hat Er zuvor in wunderbarer Weise seinen starken, gnädigen Arm enthüllt. Er beschenkt, ehe Er befiehlt! Nun aber, nachdem dies geschehen ist, sollt ihr mich euren Herrn sein lassen, spricht der Herr, mich ganz allein! Ihr sollt mir ein heiliges Volk (ein „Königreich von Priestern“) sein, denn Ich bin heilig. Wir merken: In dem Gebot steckt ein großes, herrliches Angebot. Lauter Könige und Priester (vgl. Off. 1,6) will Gott in diesem Volk um seinen Thron versammeln, Menschen, die zu seinem Dienst geheiligt und von seinem Glanz geadelt sind.

Mose wird beauftragt, dieses Angebot Gottes den Ältesten im Volk vorzulegen. Er stößt auf keinen Widerstand. „Alles Volk antwortete und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun.“ Wir haben keinen Grund, die Aufrichtigkeit dieser gemeinsamen Willenserklärung in Zweifel zu ziehen. Gott selbst, der Herzenskündiger, nimmt diese Antwort ernst und packt das Volk alsbald beim Wort. Unverzüglich befiehlt Er, die Vorbereitungen für die große Begegnung zu treffen, auf welche die Berufung Moses und der ganze Wüstenzug hinzielte von Anfang an. Wie man sich zu einem hohen Fest rüstet, so soll ganz Israel auf diesen Tag gerüstet sein. Die Kleider werden gewaschen. Der Berg, auf dem Gott seinem Volk begegnen will, wird umfriedet und abgeschrankt. Weder Mensch noch Tier darf – bei Todesstrafe – die heilige Grenze überschreiten. Es ist nicht schwer, den Sinn dieser Maßnahme zu begreifen: Dieser Gott ist und bleibt ein heiliger, majestätischer Gott, auch dann noch, wenn Er sich wie hier in gnädiger Herablassung den Menschen naht. Jede falsche Vertraulichkeit und Anbiederung wird abgewehrt.

In unerhört majestätischer Weise tut Gott „am dritten Tage“ seinen Willen kund. Früh am Morgen wird das ganze Lager durch ein durchdringendes Signal geweckt und aufgeschreckt. „Der Ton einer sehr starken Posaune“ gellt vom Berg, und wie sie ihre Augen aufheben, hat sich sein Anblick drohend verwandelt. Eine riesige, tiefschwarze Wolke hat den ganzen Berg bedeckt und eingehüllt. Fahle Blitze zucken unaufhörlich ums ein Haupt, schaurig bricht sich der rollende Donner an den Felswänden. Man muß einmal einen richtigen Gewittersturm im Hochgebirge erlebt haben, um sich von diesem Aufruhr der Elemente um diesen Berg her eine Vorstellung zu machen. Ein gewaltiger Schrecken erfaßt das Volk. Mit wachsender Spannung und Furcht blickt jung und alt zu dem immer unheimlicher drohenden Berg empor. „Und Mose führte das Volk aus dem Lager Gott entgegen, und es trat unten an den Berg.“ Am liebsten wären sie geflohen, zumal nun der Berg zu rauchen beginnt, als wäre in seinem Innern ein riesiges, loderndes Feuer entfacht. Wie ein ungeheurer Pilz stiegt der Rauchqualm in die Lüfte, das ganze Bergmassiv erzittert und erbebt unter gewaltigen Erdstößen. Steinlawinen stürzen donnernd ins Tal. Und immer mächtiger anschwellend, Mark und Bein durchdringend, hört man den Ton der Posaune gellen, bis er zuletzt alle andren Stimmen übertönt. Es ist eine einzige Aufforderung: Schicke dich an, deinem Gott zu begegnen! Schweigt und seid stille, und höret, was der Herr mit euch zu reden hat!

Was uns in diesen Versen geschildert wird, ist mehr als ein sogenanntes „Naturschauspiel“. Es ist ein gleichzeitiger, geballter Ausbruch aller Naturgewalten, der in dieser Form ohne Beispiel ist. Er spottet jeder menschlichen Erklärung, und es gibt nur eine Antwort, um diese jähe Umwandlung dieses stummen, toten Berges in einen „rauchenden Ofen“ zu begreifen: „Der ganze Berg Sinai aber rauchte, darum daß der Herr auf den Berg herabfuhr mit Feuer.“ Er selbst, der „Heilige in Israel“, den kein sterbliches Auge gesehen und auch jetzt nicht erblicken darf, naht sich zu seinem Volk. Gewaltige Zeichen begleiten seine Ankunft: Donner und Blitz, Feuer und Rauch, Sturm und Erdbeben sind seine Diener und Trabanten. Wir brauchen nicht lange zu raten, warum Gott für diese entscheidende Begegnung mit seinem Volk gerade diese Zeichen wählte. „Fürchtet euch nicht“, ruft Mose den Erschreckten zu, die am liebsten wer weiß wohin fliehen möchten, „Gott ist gekommen, daß Er euch versuchte und daß seine Furcht euch vor Augen wäre, daß ihr nicht sündiget.“ Das ist der Sinn dieser Zeichen: Gott will seinem Volk einen unauslöschlichen Eindruck geben von seiner heiligen Majestät. Er will seine Furcht in ihre Herzen pflanzen. Nur wer Gott fürchten lernte, lernt sich auch vor der Sünde fürchten. Die Furcht Gottes ist der Weisheit Anfang. Ohne Gottesfurcht kein Gehorsam! Insofern ist der Anblick dieses Berges eine einzige Unterstreichung der Gebote, deren Proklamation nunmehr auf diesem Sinai erfolgt. Donner und Blitz, Feuer und Erdbeben sind gleichsam eine Folge gewaltiger Begleitakkorde, mit denen der Beherrscher aller Welten und Gewalten dem lapidaren Text der Gebote Gewicht und Nachdruck verleiht. Jeder soll es wissen: Hier wird nicht ein unverbindlicher Ratschlag erteilt. Gott selbst steht mit seiner ganzen Gewalt, Macht und Majestät hinter jedem der Gebote. Er selbst ruft sie aus mit lauter Stimme. Erst eine spätere Zeit, die diese Unmittelbarkeit der Gottesoffenbarung nicht mehr mit Gottes Erhabenheit zu vereinen vermochte, ging zu der Vorstellung über, der Herr habe sich dabei seiner Engel bedient (vgl. Apg. 7,53). An unsrer Stelle heißt es klar und eindeutig: “Und Gott redete alle diese Worte.“ Niemand soll hernach auf den Gedanken kommen, ein Mensch (etwa Mose!) habe sich dieses Gesetz ausgedacht und zurechtgelegt. Auch Mose ist in dieser Stund ein Hörender. Er empfängt die Gebote mit dem ganzen Volk zusammen aus Gottes Mund. Niemand soll daran zweifeln, daß sich Gott selbst auf diesem Berg vernehmen ließ. Des zum Zeichen beginnt das Gesetz mit einem mächtigen Selbstzeugnis, das in der ersten Person gesprochen ist. “Ich bin der Herr, dein Gott, der Ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe.“ Gott stellt sich seinem Volk persönlich vor, damit es wisse und festhalte, wer solches alles von ihm fordert. Nicht irgendein selbsterdachter Gott, wie ihn die Heiden haben, dessen macht und Ehre genau so weit reicht, wie die Macht und der Einfluß derer, die ihn ehren, sondern der Herrscher über alle Menschen, Völker, Mächte und Gewalten, der die Macht seines Widersachers auf dem Thron der Pharaonen zerbrochen hat – der Retter der Verlorenen, der Befreier der Versklavten, der eine, wahre, lebende Gott, welcher der Allerhöchste ist im Himmel und auf Erden. Und dann folgt Befehl um Befehl, genauer Verbot um Verbot, gleichsam den heiligen Bezirk absteckend und umfriedend, innerhalb dessen der Gehorsam verwirklicht wird:

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen (nämlich von Gott, der auch hier auf dem Berg Sinai in der Wolke verborgen bleibt.).

Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht mißbrauchen.

Gedenke des Sabbattags, daß du ihn heiligest.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Du sollst nicht töten.

Du sollst nicht ehebrechen.

Du sollst nicht stehlen.

Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Haus. Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes noch seines Knechts noch seiner Magd noch seines Ochsens noch seines Esels noch alles, was dein Nächster hat.

Wir kennen diese zehn Gebote von Jugend auf. Wir haben sie zusammen mit der meisterhaften Auslegung Martin Luthers auswendig gelernt. Aber haben sie uns jemals ernstlich beunruhigt, auch nur eine einzige schlaflose Nacht bereitet? Sind wir nicht in der Gefahr, daß wir sie wie einen unverbindlichen Ratschlag zur Kenntnis nahmen, spätestens nach der Konfirmation zu den Akten legen und alsbald mit einer naiven Selbstverständlichkeit das Recht in Anspruch nehmen, unser Leben nach selbstgewählten Grundsätzen, Idealen, Neigungen, Gewohnheiten und Interessen einzurichten? Ob dies nicht damit zusammenhängt, daß wir diese zehn Gebote allermeist für sich betrachten, losgelöst von ihrem biblischen Zusammenhang? Wir brechen sie heraus wie Quadersteine aus der so eindringlich und ausführlich erzählten Geschichte von der Gesetzgebung. Wir haben den Berg nicht mehr vor Augen, diesen furchterregenden, majestätischen Berg, auf dem sie der lebendige Gott ausgerufen, feierlich bekanntgegeben hat. Das ist ein schwerer Verlust. Man muß seine Augen auf diesen Berg der Gebote richten, will man wissen, wie Gott selbst diese wuchtigen zahn Sätze gehört und verstanden wissen will. Sobald wir dies tun, wird uns ein Dreifaches aufgehen:

1. Was Gott von uns fordert, ist durchaus kein Rätsel

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert. Keine Rede davon, daß der Wille Gottes ein Geheimnis wäre! Die Klage, daß Gott schweigt, ist zwar sehr beliebt, und sie will nicht verstummen auf allen Gassen. Aber sie wird doch allermeist von Menschen erhoben, die sich weder die Mühe nehmen noch den Mut haben, auf diesen Gott wirklich zu hören, und zwar da, wo Er sich hören läßt. Gott hat gesprochen! Er hat uns seinen Willen in völliger Klarheit kundgemacht. Jede seiner Forderungen ist exakt formuliert, knapp und eindeutig, so daß sie jedes Kind begreift. Wenn wir Menschen dies vergessen oder bestreiten, dann immer nur deshalb, weil wir im Grund unsres Herzens Ihm nicht gehorchen wollen. Gewiß ist diese Bekanntgabe der Gebote zunächst „im Winkel“ geschehen, in einem ganz abgelegenen, verlassenen Winkel der Weltgeschichte. Die Kenntnis des Gesetzes blieb zunächst das große, heilige Vorrecht des kleinen Völkleins Israel. „Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun“ (Ps. 103,7). Aber Gott hat dafür gesorgt, daß, was Er fordert, nicht verborgen blieb. Sein Gesetz ist zusammen mit dem Evangelium ausgegangen in alle Lande, und wer immer eine Bibel im Schrank hat, kann keinesfalls behaupten, daß ihm der Wille Gottes verborgen sei. Keiner kann sagen: Ich habe nicht gewußt, daß Gott etwas von mir will, und zwar nicht nur irgend etwas, ein bißchen Anstand und Rücksicht, Takt und Menschlichkeit, sondern daß Er ganz bestimmte Forderungen an mein Leben hat. Wir haben Gebote! Das ist ein großes Geschenk und ist hernach in Israel auch immer wieder als solches empfunden worden. Wir denken an die Psalmen, die der Freude über das Gesetz Gottes Ausdruck geben und die Wegleitung, welche dem Menschen durch die Kenntnis des göttlichen Willens widerfährt, zu preisen nicht müde werden. „Die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen. Die Rechte des Herrn sind wahrhaftig, allesamt gerecht. Sie sind köstlicher denn Gold und viel feines Geld, sie sind süßer denn Honig und Honigseim“ (Ps. 19,9 ff.; vgl. Ps. 119!). Gott will seinem Volk mit diesen Geboten nicht eine Last, ein drückendes Joch auf den Hals legen. Er will ihm und allen Menschen den Weg zeigen, der ins Leben führt (vgl. Matth. 19,17). Wohl uns, daß wir nicht der Ratlosigkeit unsres eigenen Herzens ausgeliefert sind! Wir haben Gebote, die als aufgerichtete Wegzeiger Gottes den, der sie befragt, vor vielen Irrwegen bewahren können. Das heißt aber zugleich, daß wir weder das Recht noch die Freiheit haben, unser Leben und Handeln so zu gestalten, wie es uns beliebt und gutdünkt. Wenn wir es trotzdem tun – etwa im Blick auf den Sonntag – so ist das ein klarer Ungehorsam, und es hilft uns gar nichts, wenn wir uns darauf berufen, daß wir ja nur tun, was alle andern auch tun und die harmlose Unschuld spielen. Wir haben Gebote! Das heißt, daß es Gott durchaus nicht unsrem Ermessen überlassen hat, darüber zu befinden, was gut und recht ist. Gott will, daß wir uns mit unserm Handeln an sein Gesetz gebunden wissen. Was für eine Unverfrorenheit, wenn ein Mensch behauptet: Ich weiß schon, was ich zu tun und zu lassen habe, was ich mir (mir!) schuldig bin. Wer so denkt und redet und dann auch nach seinen selbstgewählten Maßstäben handelt, der hat, und wäre er in den Augen der Welt und ins einen eignen Augen eine noch so ehrenwerte Persönlichkeit, den lebendigen Gott bereits entthront in seinem Herzen. Es genügt auch in keiner Weise, daß wir uns der Stimme unsres Gewissens verpflichtet wissen. Denn mit dem Gewissen hat es seine eigene Bewandtnis: Es ist sehr dehnbar! Es kann auch irren, einschlafen, völlig abstumpfen. Und man kann immer wieder die Beobachtung anstellen, daß die Leute, die sich mit besonderer Emphase auf ihr Gewissen berufen, in gewissen Dingen plötzlich ein sehr weites Gewissen haben, so weit, daß sie es bequem als Schlafsack benützen können. Was not tut, was uns als Christen, die überdies um die Auslegung der Gebote in der Bergpredigt Jesu wissen, befohlen ist, kann nur dies sein, daß wir täglich und mit allem Fleiß in diesen Spiegel der Gebote blicken. „Du hast geboten, fleißig zu halten deine Befehle. O, daß mein Leben deine Rechte mit ganzem Ernst hielte!“ (Ps. 119,4 f.).

2. Hinter diesen Geboten steht der lebendige Gott mit seiner ganzen Majestät

Sie sind nicht eine Sammlung von Lebensregeln, die sich für das Zusammenleben der Gesellschaft als probat erwiesen und nachträglich dadurch sanktioniert wurden, daß sie Mose selbst oder die Verfasser der biblischen Bücher, die seinen Namen tragen, mit dem Namen Gottes in Verbindung gebracht hätten. Das „mosaische Gesetz“ ist Gottes Gesetz! Kein Geringerer als der lebendige Gott selbst, der Schöpfer und Herrscher aller Dinge, hat dieses Gesetz erdacht, seine einzelnen Gebote festgelegt und in feierlichster Weise proklamiert. Das muß man sich ohne Unterlaß vor Augen halten. Er nennt sich selbst einen “eifrigen Gott“, der große Stücke auf seine Ehre hält und ein leidenschaftliches Interesse daran hat, daß sein Wille respektiert wird. Keiner verachtet seine Gebote ungestraft. Gott nimmt und meinst sie so ernst, das Er „der Väter Missetat heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied“, wie ER umgekehrt „Barmherzigkeit zu tun verspricht, an vielen Tausenden, die ihn lieben und seine Gebote halten“. Beide, die Täter und Übertreter seiner Gebote, werden bei ihrem Tun behaftet, und zwar mit solchem Ernst und Nachdruck, daß sich die Folgen ihres Handelns auswirken auf die Kette der Geschlechter. Wir können das nicht nachrechnen. Aber es gibt erbbiologische Tatbestände, die erhärten, daß beides, Erbfluch und Erbsegen, durchaus keine leeren Worte sind. So harmlos ist die Wirklichkeit nicht, die das Wort „Gott“ umschreibt, wie sich viele seiner Verächter träumen lasen. Die ganze Gesetzgebung ist mit den sei begleitenden Zeichen ein flammendes Fanal, welches bezeugt, daß und wie sehr dieser Gott – zu fürchten ist. Es ist ein Irrtum, wenn wir meinen, diese Furcht Gottes sei das überholte Merkmal einer typisch alttestamentlichen Frömmigkeit. Es steht im Neuen Testament: „Fürchtet euch vor dem, der Leib und Seele verderben kann in die Hölle!“ (Matth. 10,28). Und abermals: „Unser Gott ist ein verzehrend Feuer“ (Hebr. 12,29). Er läßt nicht mit sich feilschen und handeln, sondern besteht darauf, daß wir uns mit striktem Gehorsam seinem Willen unterwerfen. Kein Mensch marktet Ihm von diesen Geboten ein Jota ab. Man hüte sich, diesen Satz als den überspannten Ausdruck einer rigorosen „Gesetzlichkeit“ zu verdächtigen! Er stammt aus sehr berufenem Mund, gibt er doch die Meinung Jesu wieder, der in der Bergpredigt die unverbrüchliche Geltung der Gebote wie folgt bezeugt: „Wahrlich, ich sage euch: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß es alles geschehe:“ Das heißt doch: Gott nimmt nichts zurück von dem, was er bei der Gesetzgebung befohlen hat. Er weicht davon nicht einen Finger breit. Wie sehr wir uns auch daran gewöhnt haben, diese Gebote auf die leichte Achsel zu nehmen – Er, der lebendige Gott nimmt sie ernst, so ernst, daß unser Ungehorsam gegen sein Gesetz seinem eigenen Sohn das Leben kostet! Damit ist die Meinung widerlegt, als ob das Evangelium uns als Kinder des Neuen Bundes vom Gehorsam gegen die Gebote dispensieren würde.

3. Das Evangelium hebt die Gebote nicht auf, sondern setzt sie in Kraft

Wir betonen diesen Satz mit besondrem Nachdruck, weil über diesen Punkt innerhalb der Christenheit eine große Verwirrung herrscht. Sie entsteht an dem bekannten Wort des Apostels Paulus, daß „Christus des Gesetzes Ende“ sei (Röm. 10,4). Um diese Aussage recht zu verstehen, müssen wir bedenken, unter welcher Fragestellung an dieser Stelle – oder noch ausführlicher etwa im Brief an die Galater – über das Gesetz gehandelt wird. Paulus wirft die Frage auf: Wie wird der Mensch Gott recht? Antwort: Nicht auf dem Weg über das Gesetz, nicht dadurch, daß er sich mit Anspannung all seiner eigenen sittlichen Kraft um seine möglichst lückenlose Erfüllung gemüht. Auf diesem Weg schafft keiner seine Gerechtigkeit. Denn da ist keiner, der dem Gesetz Gottes wirklich Genüge leistet. Was wir vollbringen, ist im besten Fall eine gewisse Abschlagszahlung auf den Gehorsam, den wir den Geboten Gottes schuldig ist. Wäre es anders, so hätte es Gott bestimmt nicht für notwendig erachtet, seinen Sohn um unsrer Sünden willen ans Kreuz zu schlagen. Damit, daß dies geschehen ist, ist endgültig erwiesen, daß unser Gehorsam ein klägliches Bruchstück und das heißt, wenn anders Gott auf seinen Geboten besteht, ein einziges Fiasko ist. Wehe uns, wenn das Gesetz Gottes einziges und letztes Wort geblieben wäre! Dann stünden wir allesamt unter dem „Fluch“ des Gesetzes und müßten des Zorns, der Bestrafung und Verurteilung durch Gott gewärtig sein. Nun aber hat uns „Christus erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns“ (Gal. 3,13). Er hat uns durch sein stellvertretendes Strafleiden am Fluchholz des Kreuzes von dem Gesetz und seiner Anklage freigemacht, den „Schuldbrief“ zerrissen. Durch seinen bruchlosen, vollkommenen Gehorsam hat er das Gesetz an unserer Statt erfüllt. Damit hat das Gesetz seine Rolle als „Heilsweg“ endgültig ausgespielt.“ Christus ist unsre Gerechtigkeit vor Gott, er ganz allein!

Besagt dies, daß uns diese Gebote Gottes nun nichts mehr zu sagen haben? Keineswegs! Wer aus der Tatsache, daß das Gesetz als Weg zum Heil nicht mehr in Frage kommt, diese Konsequenz ableiten will, hat Jesus Christus selbst und alle Zeugen des Neuen Testaments mit Einschluß von Paulus gegen sich. „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz aufzulösen, ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“ – so hören wir aus Jesu Mund (Matth. 5,17). In völligem Einklang damit steht die Antwort des Paulus auf die Frage, die er sich selbst vorlegt, um jedes Mißverständnis auszuschließen: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.“ (Röm. 3,31). Es kann und darf uns zwar nicht mehr dazu dienen, daß wir uns selbst vor Gott rechtfertigen und aus unsrer Erfüllung des Gesetzes einen Ruhm bereiten. Es bleibt dabei, daß durch die Werke des Gesetzes kein Mensch selig, keiner gerettet wird. Aber die Absicht, die hinter dem „heiligen, gerechten und guten Gesetz Gottes stand“ (Röm. 7,12), läßt Gott nicht fallen. Er hält an dem Ziel fest, daß wir Ihm mit unsrem Leben und Handeln gehorsam werden. Zu diesem Zweck sendet Er den Geist in die Herzen seiner Gläubigen: „Siehe, es kommt die Zeit“, spricht der Herr, „da will ich mit dem Hause Israel einen neuen Bund machen. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, so will ich ihr Gott sein“ (Jer. 31,31 ff.). Als Kinder des neuen Bundes dürfen wir diese Leitung des Geistes täglich erbitten, und es zeigt sich: Dieser Geist setzt die Gebote nicht außer Kurs – er schreibt sie uns ins Herz! Die „Freiheit vom Gesetz“ will als eine neue, von Gott geschenkte Freiheit zum Gehorsam gelebt und verstanden sein. Durch Christus von seiner tötenden, verklagenden Macht, dem „Fluch des Gesetzes“ (Gal. 3,13) befreit, hören wir nun erst recht aus den Geboten Gottes den kräftigen, bindenden Zuspruch des Herrn, der als ein „treuer Schöpfer in guten Werken“ (1. Petr. 4,19) an uns handelt, und die Bitte des 119. Psalms: „O, daß mein Leben deine Rechte mit ganzem Ernst hielte!“ wird uns doppelt wichtig, damit Gott in uns schaffe, was vor Ihm gefällig ist.

Mein Herz hält treu und feste
An dem, was dein Wort lehrt.
Herr, tu bei mir das Beste,
sonst ich zuschanden werd’.
Wenn du mich leitest, treuer Gott,
so kann ich richtig laufen
den Weg deiner Gebot’.

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