Krummacher, Gottfried Daniel - Das Leiden Christi

(Einleitende Passionspredigt)

Joh. 18,1-3

Da Jesus solches geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, darin ging Jesus und seine Jünger. Judas aber, der ihr verriet, wußte den Ort auch; denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern. Da nun Judas zu sich hatte genommen die Schar und der Hohenpriester und der Pharisäer Diener, kommt er dahin mit Fackeln, Lampen und mit Waffen.

In diesen Worten finden wir die Vorbereitung zu den Leiden des Herrn. Von den Leiden selbst geschieht noch keine Meldung. Diese Vorbereitung macht Jesus teils selbst, teils machen sie seine Feinde, Jesus durch seinen Gang an den Ölberg, seine Feinde durch Absendung einer Schar unter Anführung des Judas, um ihn gefangen zu nehmen.

Der Anfang der Erzählung in diesem Kapitel weiset uns auf das Vorhergehende zurück, auf die Unterredung, welche Jesus mit seinen Jüngern hatte, und auf das Gebet, welches er aussprach, die der Apostel in den vorigen Kapiteln meldet. Ihr könnet und werdet diese wichtige Rede selbst nachlesen, also will ich nicht versuchen, einen kurzen Auszug davon mitzuteilen.

Es fällt in die Augen, daß Johannes von dem Seelenleiden Jesu am Ölberg nichts meldet, und es dringt sich leicht die Frage auf, warum er von denselben, sowohl wie Jesus sie in Gethsemane als am Kreuz empfand, gänzlich schweigt? Wollte man sagen, er habe das nicht wiederholen wollen, was die drei andern Evangelisten schon vor ihm kund gemacht, so genügt das nicht, da er doch auch manches meldet, was jene auch erzählen. Schwieg er deswegen, weil er die Seelenleiden Jesu zu denjenigen Stücken rechnete, wovon er am Schluß des Evangeliums sagt: Ich achte, die Welt würde es nicht fassen, so hat dies eben so wenig Wahrscheinlichkeit, als die Meinung derer zu haben scheint, welche dies als die Ursache seines Schweigens angeben, weil es mit seiner Absicht, Jesum in seiner göttlichen Hoheit darzustellen, sich nicht wohl vertragen habe. Er selbst war Zeuge und hatte mit seinen eigenen Augen diesem entsetzlichen Schauspiel der allertiefsten Erniedrigung des Sohnes Gottes zugesehen.

Litt sein Gemüt vielleicht gar zu viel, griff es ihn etwa allzusehr an, um es zu erzählen? Sonst leuchtet es freilich in die Augen, daß Johannes Jesum auch, indem er von seinem Leiden redet, in einer gewissen übermenschlichen Erhabenheit zeigt, wie er dies in dem ganzen Evangelium thut. Diese übermenschliche Erhabenheit tritt nach dieses Apostels Bericht von den Leiden Jesu gleich beim Beginn derselben auf eine wunderbare Weise hervor, wenn sein einiges Wort: „Ich bin's“, die ganze gewappnete Schar zu Boden wirft. Wie erhaben steht er dem Hohenpriester gegenüber, und welche gebietende Majestät blitzt daraus hervor, wenn er demselben auf seine Frage um seine Lehre antwortet: Was fragst du mich darum? Und als er darüber von einem Diener geschlagen wird, der zu ihm sagt: solltest du also dem Hohenpriester antworten? so redet Jesus ganz seiner Hoheit gemäß, wenn er spricht: Habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich? Wie erhaben steht er dem Pontius Pilatus gegenüber, dem er auf seine Frage: Bist du der Juden König? eine Gegenfrage thut, worüber er sich nicht wenig verwundert, dann aber doch eine Antwort bekommt, die ihn in Erstaunen setzt und ihn geneigt macht, Jesum loszulassen. Später fragt er noch einmal und bekommt gar keine Antwort, dann aber eine solche, die ihn bestürzt macht. Jesus übt über ihn eine gewisse königliche Macht aus, der dieser vornehme Mann nicht widerstehen kann, ohne ihr unterthan zu werden. Er übe sie auch in Gnaden also über uns aus, daß wir uns ihm unterwerfen!

Laßt denn auch uns diesmal eine einleitende Leidensbetrachtung anstellen.

Der Gegenstand, mit dessen Erwägung sich unsere öffentliche Andacht diese 6 Wochen hindurch beschäftigt, ist geweissagt und vorgebildet, war aber unerwartet und unbegreiflich, ist erstaunenswürdig und geheimnisvoll, aber von den seligsten Folgen und Früchten.

Diese sechs Punkte sind es, die wir etwas näher auseinander zu setzen gedenken.

Erstens, der Gegenstand, den wir feiern, ist lange vorher geweissagt und vorgebildet. Gedenket der vielen Psalmen, welche nicht nur überhaupt die Leiden Christi vorher verkündigen, sondern auch einzelne und kleine Umstände derselben nennen, worauf Johannes fleißig aufmerksam macht. Der Durst Jesu sowie seine Labung mit Essig; die Teilung der Kleider sowie die Anwendung des Loses dabei; seine Kreuzigung und zwar zwischen zwei Übelthätern, sind solche Umstände. Die ersten Worte des 22. Psalm führt Jesus selbst am Kreuze an und giebt damit zugleich zu erkennen, daß er ganz an ihm in Erfüllung gehe; der 40., 69. und 118. Psalm handeln ebenfalls von seinen Leiden. Die merkwürdige Stelle aus Jes. 53: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen, brauche ich nur anzuführen, um euch an ihren euch wohlbekannten Inhalt zu erinnern. Deshalb sagt auch Matthäus: Dies alles ist geschehen, auf daß die Schrift erfüllet würde, und Jesus selbst: Es muß also gehen, wie würde sonst die Schrift erfüllet? Nach seiner Auferstehung hub er an von Mose und allen Propheten, legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren, und schloß dann mit den Worten: Mußte nicht Christus solches leiden, und zu seiner Herrlichkeit eingehen? Wir schweigen davon, wie er selbst sein Leiden vorhersagte, denn er wußte alles, was ihm begegnen sollte. Wegen der genauen Vorherverkündigung der Leiden Christi in den Schriften des Alten Testaments schreibt Paulus auch an die Korinther: Ich habe euch gegeben, was ich empfangen habe, nämlich daß Christus gestorben sei nach der Schrift, und daß er begraben sei und auferstanden am dritten Tage nach der Schrift; und als jener Kämmerer aus Mohrenland den Philippus um eine Auslegung der angedeuteten Stelle aus Jes. 53 bat, so predigte derselbe ihm das Evangelium von Jesu. Aber auch vorgebildet wurde es. Insbesondere durch das viele Blutvergießen bei den Opfern des Alten Testaments und durch diese Opfer und ihren Tod selber. Darum nannte Johannes Jesum das Lamm, das der Welt Sünde trägt. Und wenn Gott selbst alle die Opfer, die er doch selbst angeordnet hatte, wieder verwarf, so wurden die Gläubigen dadurch auf ein ander Priestertum und ein ander Opfer hingewiesen, das zu seiner Zeit erscheinen werde und in Christo erschienen ist, welcher sich selbst Gott geopfert hat durch den ewigen Geist, und welcher sitzet zur Rechten Gottes, nachdem er ein Opfer gebracht hat, das ewiglich gilt. Mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden, und die Reinigung unserer Sünden gemacht durch sich selbst. Was sollen wir zu der Aufopferung Isaks sagen, den sein Vater, wie der Apostel Ebr. 11,19 sagt, zum Vorbilde wieder nahm? Was für eine Bedeutung lag darin, daß der Erzvater Jakob den Ephraim und Manasse mit kreuzweis über einander gelegten Armen segnete? Es sollte dadurch angedeutet werde, wie aller wahre Segen von dem Kreuze Christi herrühre, weshalb auch der Erzvater sagte: Wer jemand in Israel segnen will, der sage: Gott setze dich wie Ephraim und Manasse, also unter das segnende Kreuz Christi! Die kupferne Schlange, welche den Kindern Israel Genesung gab, hing an einer Art von Kreuz, und wie geheimnisvoll und seltsam war der göttliche Befehl, daß jeder, der an einem Holz hange, als von Gott verflucht angesehen werden sollte, bis Paulus Gal. 3 die Kühnheit hat, dies auf Christum zu deuten. Wie wenig war man imstande, anzugeben, warum dem Osterlamm kein Bein zerbrochen werden durfte, und warum es kreuzweis gebraten werden mußte, bis Paulus sagte: wir haben auch ein Osterlamm, und Johannes: Sie brachen Jesu die Beine nicht, auf daß die Schrift erfüllt würde: Du sollst ihm kein Bein zerbrechen. Warum kam überhaupt das Zeichen des Kreuzes so häufig in den alttestamentlichen Ceremonien vor, beim Salben und Weben der Priester, beim Leben des Holzes auf den Altar, beim Weben der Erstlingsgarbe, als weil wir unter dem neuen Testament nichts wissen als Jesum den Gekreuzigten? Wir handeln also in dieser heiligen Zeit von einem Gegenstande, welcher genau geweissagt und vorgebildet war.

Zweitens. Er war aber in seiner wirklichen Erfüllung ganz unerwartet und unbegreiflich. Die Juden im ganzen glauben nicht, daß dem Messias etwas Ähnliches begegnen werde, als in den angeführten Stellen angedeutet wird, und die Jünger ihrerseits ebenso wenig. Es ist fast unbegreiflich, wie es möglich war, daß sie kein Wort davon begriffen, wenn Jesus ihnen auch mit den allerdeutlichsten Worten ankündigte, er werde gegeisselt, verspottet und getötet werden; begriffen sie aber ein wenig davon, so riefen sie aus: Das widerfahre dir nur nicht! So unverständig stehen wir ohne Zweifel nicht nur demjenigen prophetischen Teil des göttlichen Wortes, das die Zukunft anbetrifft, sondern auch der heiligen Schrift in denjenigen Dingen, die unser Heil angehen, gegenüber. Das Erstere wird wohl erst durch die wirkliche Erfüllung, das andere aber dann bei uns in Klarheit übergehen, wenn uns erleuchtete Augen verliehen, wenn uns, wie es den Jüngern geschah, das Verständnis geöffnet wird, daß wir die Schrift verstehen. Der blos natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes, es ist ihm eine Thorheit und kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet sein, und obschon der Geistliche alles richtet, so sehen wir jetzt überhaupt doch nur wie durch einen Spiegel in einem dunkeln Worte, dann aber von Angesicht zu Angesicht.

Auf blos natürlichem Wege kann uns nichts so deutlich gemacht werden, daß wir's recht verstehen, sondern der Heiland muß zu dem Ende dasjenige auch an uns thun, was er an seinen Jüngern that, da er ihnen das Verständnis öffnete, daß sie die Schrift verstanden, wo sie denn auch so fröhlich anbeteten. Mit Recht singen und beten wir deswegen:

Erleucht' mich, Herr, mein Licht!
Ich bin mir selbst verborgen
Und kenne mich noch nicht.

Das war den lieben Jüngern ganz unerwartet, daß es ihrem Herrn, von dem sie in guten Tagen geglaubt und erkannt hatten, er sei Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, am Ende also ergehen werde.

Drittens. Und als es ihm so ging, begriffen sie's gar nicht mehr, ja sie stießen und ärgerten sich daran, woran der Satan, der sie zu sichten begehrte, fleißig half. Sie wußten dasjenige, was sie an Jesu sahen, gar nicht mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was sie bis dahin von ihm glaubten, vielmehr schien ihnen eins mit dem andern in grellem Widerspruch zu stehen; und wenn sie ihn endlich gar schreien hörten, Gott habe ihn verlassen, so mußte ein solches entsetzliches Wort ihnen die Seele wie ein Schwert durchbohren. Als er vollends starb, so starb mit ihm auch ihre bisher so fest gefaßte Hoffnung, er werde Israel erlösen, und sie wußten gar nicht mehr, was sie weiter denken und sagen sollten, und wußten anders nichts zu thun als zu weinen, ja zu heulen, bis sich drei Tage später alles ganz anders gestaltete. Nur ein einziger Mann wurde über der tiefen Erniedrigung an Christo nicht irre, setzte vielmehr sein ganzes Vertrauen auf ihn, als den wahrhaften Seligmacher und König Israels. Und wer war dieser Einzige? War's Johannes oder Petrus? Ach nein. Es war der eine Mörder. Was nichts ist, erwählt Gott, um zu Schanden zu machen, was weise und stark ist, und das Unedle vor der Welt und das Verachtete und das da nichts ist, daß er zu nichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme. Das Leiden Christi würde auch unbegreiflich geblieben sein, hätte uns die Heilige Schrift nicht über die wahren Ursachen und Zwecke desselben hinlänglich belehrt. Er litt, sagt sie uns, daß er sein Volk heiligte. Er, der Gerechte, litt für uns Ungerechte, für die Sünder. Um unserer Sünde willen ist er dahin gegeben. Er vergoß nach seiner eigenen Aussage sein Blut zur Vergebung der Sünden für viele, welches er uns durch den Kelch des neuen Testaments im heiligen Abendmahl versiegelt. Solange aber die Jünger dies nicht verstanden, war ihnen Christi Leiden ein undurchdringlich Geheimnis, und sie mußten inne werden, wieviel Ursache Jesus gehabt hatte, denjenigen selig zu preisen, der sich nicht an ihm ärgere.

Viertens. Das Leiden Christi ist eine erstaunenswürdige Begebenheit. Erstaunenswürdig, von welcher Seite wir sie auch betrachten. Die Größe seiner Leiden ist erstaunlich, und wenn wir alles zusammen nehmen, so müssen wir gestehen, daß nie jemandes Leiden einen solchen Gipfel erreicht haben. Es ist wahr, es sind mehr Menschen gegeißelt und gekreuzigt worden, aber wo ist dies mit solcher Rohheit, mit solcher Erbitterung, mir solchem höhnenden und schmerzhaftem Spott geschehen wie hier, der amtlichen Versicherung von seiner Unschuld und öffentlichen Bezeugung derselben durch die höchste obrigkeitliche Person zum Trotz. Wirkliche Verbrecher, wenn sie hingerichtet werden, finden wohl noch Mitleid, aber die Erbitterung gegen diesen Gerechten steigt mit jedem Augenblick, äußert sich durch das wütendste Geschrei und wird selbst dem Richter drohend. Hier sind es selbst die vornehmsten Personen, die ihren Mutwillen an ihm auslassen, was sonst dem rohen Pöbel überlassen wird. Alles waffnet sich wider diesen Einen und Unvergleichlichen. Richten wir vollends unsern Blick ehrfurchtsvoll auf dasjenige, was in der Seele dieses erhabenen Leidenden vorgeht, so mehrt sich unser Erstaunen. Die Geschichte berichtet uns von vielen Märtyrern, daß sie innerlich voll Freude waren, während sie am Leibe gemartert wurden. Jesu wurde es nicht so gut; noch ehe ein äußerlicher Feind die Hand an ihn legt, hören wir ihn selbst sagen, er sei um und um mit Trauer umfangen, er sterbe vor Betrübnis; sehen ihn zittern, erblassen, nicht wissen, was er anfangen soll, sehen ihn gehen, niederfallen, aufstehen, und wieder niederfallen mit dem Angesicht zur Erde und dies mehrmals wiederholen, wir hören ihn beten, mit großer Inbrunst und gewaltigem Andrang beten, bis er endlich schweigend niedersinkt, und unerhörter Weise das Blut statt des Schweißes von der Stirn in starken Tropfen zur Erde rinnt, er aber in einem Todeskampf gerät. Wir erblicken neben ihm einen Engel, der ihn stärkt, hören ihn noch mit großer Kindlichkeit Gott als Abba, seinen Vater anreden und sehen ihn dann ganz getrost zu seinen schlafenden Jüngern treten, sagend: Steht auf, laßt uns gehen, er ist da, der mich verrät, sehen ihn majestätisch hervorbrechen wie einen jungen Löwen, fragend: Wen suchet ihr? und mit einem Wort: Ich bin's, wie mit einem Donner die ganze Schar hinwerfend ohne irgend eine Anwendung äußerlicher Mittel. Noch einmal beweiset er seine Macht durch den Befehl: „Laßt meine Jünger gehen“, und sie gehen, noch einmal, indem er des Malchus Ohr heilt; zum drittenmal, indem sein Blick den Petrus rettet; zum viertenmal indem er dem Schächer das Paradies öffnet. Übrigens begiebt er sich aller Macht. Man kann mit ihm thun alles, was die Schrift von ihm sagt, aber auch nichts mehr und nichts anders. Seinen Rock dürfen sie nicht zerreissen, sondern müssen darum losen, kein Bein dürfen sie ihm zerbrechen, müssen aber die Schrift erfüllen, die da sagt: sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben. Aber was sehen wir unterm Kreuz? Erstaunenswürdiges! In was für einem Zustande erblicken wir da den, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, den, welchen alle Engel Gottes anbeten, den, der über Tote und Lebendige Herr ist, den welchen alle ehren sollen, wie sie den Vater ehren? Wir sagen nichts von seinen Schmerzen, nichts von seiner Armut, von seinem Durst und der fortgesetzten Schmach. Wir sehen ihn da drei ganze Stunden hängen in tiefem Schweigen, und mit ihm schweigt alles umher. Es ist Mittag. Aber die Zinne des Tempels erglüht, sein marmornes Kleid erglänzt nicht im Strahl der Sonne. Am hohen Mittag ist's Nacht geworden, denn dies Lichtmeer hat seinen Schein verloren, nachdem es viertausend Jahre geleuchtet und gebrannt, als wollte und sollte es der wahrhaften Sonne weichen und nun Jes. 60 in Erfüllung gehen: Die Sonne soll dir des Tages nicht mehr scheinen, und der Glanz des Mondes soll dir nicht leuchten, sondern der Herr wird dein ewiges Licht, und dein Gott wird dein Preis sein. Nach langen und bangen drei Stunden der Finsternis bricht der Gekreuzigte wieder mit lauter Stimme sein Schweigen, aber was sagt er über den erschrockenen Erdkreis hin? Was ruft er? Wunderbares, ins höchste Erstaunen Setzendes. Er ruft mit starker Stimme: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Sein Gott hat ihn verlassen, das sagt er selbst? Seine Feinde hören es und sagen: Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun, lüstet es ihn, denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Was für Schlüsse werden sie daraus ziehen? Seine Freunde hören es; was sollen sie von einem solchen hoffen, der solches von sich selbst sagt? Wir hören die Stimme des Glaubens: Mein Gott; wir hören darin zugleich die Stimme der unveränderlichen Liebe: Mein Gott. Aber der hat ihn verlassen? Wie erstaunenswürdig! Und er fragt: Warum? Großes Warum! Schaue diese Verlassung an und zittere, Unbußfertiger, denn es ist eine schreckliche Weissagung deiner Zukunft, wofern du nicht Buße thust. Erwäge, du Bußfertiger, dies Mich und Warum auf der Wagschale gegeneinander, und siehe wie das „Mich“ das „Warum“ so weit, so weit überwiegt. Und was nun weiter? Nun ruft er wieder: Vater! und dann: Es ist vollbracht. Jetzt neigt er sein Haupt. Er verscheidet mit starkem Kriegs- und Siegesgeschrei und die Erde zittert darob, und das Reich des Todes setzt sich in Bereitschaft, seine Beute zurück zu geben, die Pforten des Gefängnisses öffnen sich, Felsen zerspringen, des Tempels Vorhang zerreißt, die Menschen schweigen, und die Lobgesänge des Himmels ertönen: Das geschlachtete Lamm ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke, und Ehre und Preis und Lob! Das Erstaunen aber überwältigt uns ganz, es ist uns zu wunderlich und zu hoch, unsre Sinne zagen, wenn wir vollends erwägen, wer der ist, dem es also gehet. Ich bin's, sagt er, und legt einen fühlbaren Beweis dabei, wer dieser Ich ist: Denn da liegt der Haufen zur Erde. Er ist das Wort, das im Anfange bei Gott, und Gott war, aber Fleisch wurde und unter uns wohnte, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Durch ihn ist alles, und ohne ihn ist nichts gemacht, was gemacht ist. Er ist das Leben und das Licht der Menschen. Wer ihn siehet, der siehet den Vater, denn er und der Vater sind eins. Gleichwie der Vater hat das Leben in ihm selbst, also hat er dem Sohne gegeben, das Leben zu haben in ihm selbst. Er ist der Sohn Gottes, von dem es heißt: Gott, dein Stuhl währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Er ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben. Ruft David über der Betrachtung eines weit geringeren Gegenstandes aus: „Solch' Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch,“ was wollen wir denn hier sagen? O möchten wir im Einklage mit dem Himmlischen niederfallen und anbeten, denn wir haben einen großen Hohenpriester!

Fünftens. Der Gegenstand, welchen wir in dieser heiligen Zeit betrachten, ist demnach voller Geheimnisse. Was wir davon in den Evangelien lesen, ist gleichsam nur die Schale, die den köstlichen Kern in sich birgt, sind nur die Windeln und die Hüllen des köstlichen Kleinods. Der Hergang der Geschichte ist das Wenigste und Unbedeutendste, wobei die Evangelisten selbst keine Genauigkeit beobachten, so daß sie sich hie und da widersprechen scheinen, und die Auflösung dieser scheinbaren Widersprüche ist wenig nütze. Es ist dem Abendmahl vergleichbar. Brot und Wein und das Übrige ist das Wenigste, aber die Bedeutung desselben und die Absicht ist das Eigentlichste und Vornehmste. Christus selbst fragt ein einzigmal: Warum? Wir sollen oft so fragen, um dem Geheimnis des Kreuzes immer tiefer auf die Spur zu kommen. In seinem Leiden verwaltet Christus vorzugsweise das Priesteramt; er opfert, er trägt, er versöhnt die Sünde. Von diesem seinem Priestertum handelt der ganze Brief an die Ebräer mit wunderbarer apostolischer Fülle und Klarheit, nennt aber diesen Gegenstand schwer und rechnet ihn zu der starken Speise, welche Vollkommene und solche erfordert, die durch Gewohnheit geübte Sinne empfangen haben. Ein fleischliches Auge, wie zur Zeit der wirklichen Leiden Christi in Betreff derselben alle hatten, etwa den Schächer ausgenommen, erblickte in denselben keinerlei priesterliche Handlung. Es sah keinen Altar, kein Feuer, kein Rauchwerk, kein Opfer und sonderlich keinen Priester, zumal da unser Herr aus dem Stamme Juda war, zu welchem Gott nichts gesagt hatte vom Priestertum. Wer dasselbe hinter dem Vorhange der Leiden Christi entdecken sollte, die ja größtenteils nur von der Bosheit der gottlosen Menschen herzurühren schienen, der mußte den 4. Vers des 110. Psalms verstehen, wo von einem Herrn Davids geschworen wird, er werde Priester sein, nicht wie Aaron, sondern wie Melchisedech, und sich setzen zur Rechten des Herrn. Aber diesen Vers verstand damals niemand, und die Kirche gelangte auch erst durch den Ebräerbrief zur völligen Erkenntnis desselben. Das Geheimnis aber, das in der unansehnlichen, ja abschreckenden Hülle der äußerlichen und innerlichen Leiden Christi verborgen liegt, ist unsre Versöhnung mit Gott durch den Tod seines Sohnes, als dem einigen Opfer, das da ewig gilt. Aber auch dies ist ein großes Geheimnis der Gottseligkeit, des Friedens und der Heiligung. Wir mögen nur nicht denken, daß wir dasselbe verstehen, wenn wir eine buchstäbliche, auch noch so gegründete und wohl zusammenhängende Einsicht davon haben, welche uns doch unbefriedigt, ungestillt, ungetrost und unfruchtbar bleiben läßt, und ganz etwas anders ist, als die seligmachende Erkenntnis, worauf die Schrift mit Recht einen so hohen Wert setzt. Um diese zu erlangen, und wenn wir sie erlangt haben, darin zu wachsen, muß uns der Heilige Geist zuteil werden und sich mit dem Buchstaben verbinden. O, daß uns insgesamt dieser heilige Geist reichlich zu unsern Passionsbetrachtungen verliehen werde, damit sie recht segensreich für uns würden!

Sechstens. Segensreich ist der Gegenstand der Passionsbetrachtung im allerhöchsten Maße, ja er ist die Quelle alles leiblichen und geistlichen, zeitlichen und ewigen Segens, Wohlergehens und Guten. Verwundere sich niemand, daß wir das leibliche neben dem geistlichen, und das zeitliche sowohl als das ewige Gute aus der nämlichen Quelle herleiten. Sagt nicht Gott überhaupt: Außer mir ist nichts? Sagt nicht die Schrift: Christus habe uns den Segen erworben? Und wodurch? Dadurch, daß er ein Fluch ward für uns, denn es steht geschrieben: Verflucht ist jedermann, der am Holz hänget. Um alles in eins zusammen zu fassen, so ist dadurch die Versöhnung mit Gott gestiftet, und das ist doch begreiflich die Quelle alles Guts. Und daß das Leibliche notwendig mit dazu gehöre, erhellet schon daraus, daß wir ja nicht einen rein geistigen Himmel erwarten, dessen Güter nur den Geist erfreuen, sondern einen Himmel, der auch die Leiber der Auserwählten aufnimmt, wenn gleich verwandelt und verklärt, der also auch sinnliche Herrlichkeiten daselbst antreffen wird, obschon wir uns von denselben noch keinen Begriff machen können. Eine vollkommene Gesundheit und ewige Jugendkraft mit andern uns noch unbekannten Eigenschaften wird ihm zuteil werden. Lag doch auch die Erde unter dem Fluche und würde nichts als Dornen und Disteln tragen, hätte nicht Christus den Fluch hinweggehoben; doch ist das freilich das Geringste. Durch sein Leiden hat Christus uns die Vergebung der Sünden erworben und die Rechtfertigung des Lebens, denn durch sein Blut sind wir gerecht geworden. Nicht weniger hat er uns die Erneuerung nach dem Ebenbilde Gottes und die Heiligung zuwege gebracht, sintemal wir wissen, daß unser alter Mensch samt ihm gekreuzigt ist, auf daß der sündliche Leib aufhöre, daß wir hinfort der Sünde nicht dienen. Er hat Frieden gemacht durch sich selbst, durch sein Blut am Kreuz. Er hat die Handschrift unserer Sünden daran genagelt und aus dem Mittel gethan und dem die Macht genommen, der des Todes Gewalt hatte, das ist dem Teufel. Er hat das Gesetz entwaffnet und das Paradies wieder eröffnet. Was wir sonst verfluchte, nun versöhnte Sünder demnach in Zeit und Ewigkeit, nach Leib und Seele, für diese oder die zukünftige Welt Gutes empfangen, das verdanken wir lediglich dem Kreuze Jesu Christi; denn, was wir in dieser heiligen Zeit betrachten, das wird uns auch in der Leidensgeschichte auf mannigfaltige Weise vorgehalten, worauf wir wohl achten sollen.

Dies wären denn die Punkte, welche wir als eine Einleitung in die eigentliche Passionsgeschichte berühren wollten, dürft ihr aber, um nur noch bei dem zuletzt Gesagten etwas zu verweilen, dürft ihr rühmen, daß ihr auch teil an dem Segen des Kreuzes Christi gesucht und gefunden habt? An dem leiblichen Segen habt ihr alle mehr oder weniger Teil und an dem geistlichen wenigstens in sofern, als euch das Evangelium gepredigt wird. Aber geht das auch weiter? Seid auch ihr durch das Blut Christi gerecht geworden? Habt auch ihr die Versöhnung mit Gott, die Vergebung der Sünden, den Frieden mit Gott, die Erneuerung des Herzens erlangt, ja nur gesucht, allen Ernstes gesucht? Das ist doch, wenn irgend etwas, des eifrigsten Suchens wert. O, daß ihr euch denn dazu erweckt fühltet, nicht nur die Passionsbetrachtungen fleißig und aufmerksam zu hören, sondern nach dem Segen der Leiden Christi selbst zu hungern und zu dursten, daß ihr dadurch los würdet vom bösen Gewissen, los von dem Fluch des Gesetzes, los von der Bezauberung der Welt und der Herrschaft der Sünde, und vereinigt mit Gott durch Christum! Wohlan, begürtet zu dem Ende die Lenden eures Gemüts und laßt ein Gut nicht fahren, welches das größte und zugleich das einzige ist, von dem man sagen kann, daß der es erlangt, der's von ganzem Herzen sucht, was sonst von keinem gilt!

Ihr Tischgenossen des Herrn, stellt euch durch eure äußerliche ehrwürdige Handlung als solche dar, die wirklich diesen Segen über alles begehren und ihn als das Allernotwendigste und zugleich Vortrefflichste betrachten. Möge dies auch die wirkliche Stellung eures Herzens sein! Und so stärke er euren Glauben, um das Kleid der ewigen Gerechtigkeit freimütig anzuziehen!

So kommt in fester Zuversicht,
Sein Bundessiegel fehlt ja nicht,
Er woll' es euch verleihen,
Daß ihr fröhlich könnt erscheinen
Und in seinen offnen Wunden
Friede, Freud' und Leben finden!

Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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