Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die zehn Aussätzigen.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die zehn Aussätzigen.

Predigt über das Evangelium am 14. Sonntage nach Trinitatis, gehalten den 12. September 1852.

Lucas 17,11-19.
Und es begab sich, da er reisete gen Jerusalem, zog er mitten durch Samaria und Galiläa. Und als er in einen Flecken ging, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die standen von ferne, und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sahe, sprach er zu ihnen: Gehet hin und zeiget euch den Priestern. Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, da er sahe, daß er gesund geworden war, kehrete er um, und pries Gott mit lauter Stimme, und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen, und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind ihrer nicht Zehn rein geworden? Wo sind aber die Neune? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrete, und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling? Und er sprach zu ihm: Stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen.

Ein schlichtes Evangelium, Geliebte, an welchem auszulegen nicht eben viel, aus welchem aber desto mehr hineinzulegen ist in unser Herz. Ein Evangelium durchsichtig und klar wie ein rieselnder Bach. Doch sehet euch vor: auch auf seinem Grunde liegen neben den Perlen Steine für eine geistliche Davidsschleuder. Werde einem Jeden heut das Seine, nur nicht zu Schaden, sondern zu eitel Heil und Frieden.

Wir betrachten das Evangelium von den zehn Aussätzigen als Vorbild immer wiederkehrender Erlebnisse, und richten unsre Blicke zuerst auf den Heiland; dann auf die Heiligung; und endlich auf die Geheilten.

Sei der Herr mit seinem erleuchtenden Geiste nicht ferne von einem jeglichen unter uns, und kröne er unser Wort mit seinem Segen!

1.

Wir treffen den Heiland wieder unterweges. Dort wandelt er, allezeit wacker und rührig im Dienst der Liebe. Wo dächte er einmal an sich, wo lebte er einmal sich selbst, wo suchte er einmal das Seine? Sein Trank und seine Speise bei Tag und Nacht ist die, daß er den Namen seines Vaters verherrliche, und dem Heile seiner Brüder nach dem Fleische diene. Sagt mir, wie kommt ihr nur mit ihm zurecht, die ihr ihn blos als euer sittliches Vorbild gelten lassen wollt? Wie, daß ihr euch nicht längst hinter ihm her den Athem abgelaufen habt, und nicht irgendwo keuchend, erschöpft und resignirt am Wege sitzet? O, er macht ja unfehlbar jeden moralisch todt, der wirklich in vollem Ernste ihm nachzukommen trachtet. Aber dieser Ernst ist euch freilich eine unbekannte Sache. Moses mit seinen beiden Tafeln darf nur zu Hause bleiben; der Herr ist in seiner eignen Person schon Zuchtmeister auf sich selbst genug. Wie ist er das lebendige Gesetz! Wie deckt er schweigend schon durch seine bloße Lichterscheinung uns unsre Sünden auf! Wie hebt sich so grell am Sonnenglanze Seiner Liebe der Gräuel unseres Egoismus, an dem Goldesschimmer seiner Lauterkeit der Pharisäerfirniß unsrer Heuchelei, an der Tageshelle seines Wandels vor Gott das Nachtstück unsrer Gottentfremdung hervor! Ehe er den Mund noch öffnet, hat er uns bereits gerichtet und verdammt. O möchten doch diejenigen, welche uns in einem fort betheuern, daß sie Jesum als Muster der Tugend über Alles verehrten, nur einmal, was sie nimmer noch gethan, einen ernsten Anlauf nehmen, das Ideal der Heiligkeit, welches auf Schritt und Tritt aus ihm hervorstrahlt, in sich selber nachzubilden und wesenhaft zu verkörpern; sie würden bald entmuthigt, und an der Erreichung des Ziels verzweifelnd, zurückewanken, und wahrscheinlich nicht lange mehr im Kreise derer sich vermissen lassen, die angesichts des unermeßlichen Abstandes zwischen dem, was sie sind, und dem, was sie sein sollten, den Schrei Pauli zu dem ihrigen machen: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?“

Der Heiland zog „mitten durch Samaria und Galiläa.“ Das war ein Boden für ihn. Hier fand er Gelegenheit die Fülle, dem Starken, d.i. dem Teufel, als der Stärkere den Raub zu nehmen, und seine Werke zu zerstören. Kein Winkel der geistigen Wüste, in die er zunächst gesendet war, sollte mit einigem Grunde sagen können: Ich habe ihn nicht gesehn, und bis hieher hat sich seine rettende Hand nicht ausgestreckt! Und saget mir doch, wo könnte, wenigstens in der Christenheit, solche entschuldigende Rede auch heute noch mit Grund verlauten? Abgesehn davon, daß schon ein jeder in seinem Taufnamen ein unverlierbares Erinnerungszeichen an den, in welchem alles Heil ist, und dem er seine ganze Liebe schuldet, mit sich herumträgt, hält der Herr in den neusten Tagen wieder, gerade wie damals, einen Umzug durch das Land, so offenkundig und unverhüllt, daß, wer ihn nicht bemerken und seinen Ruf zur Buße überhören wollte, gewaltsam seine Augen blenden und seine Ohren schließen müßte. Die Millionen christlicher Schriften und Blättlein, die es so zu sagen auf die Straßen niederregnet, die umgetragenen Bibeln, die an den Hausthüren für Jesum werben, die ununterbrochen das ganze Jahr hindurch wie von den Straßenecken her an jedermann sich richtenden Einladungen zu immer neuen, zu seiner Ehre veranstalteten Festen, die Zusprüche und Wächterrufe, welche in allerlei Weise aus dem Gebiete der innern Mission in die Welt ergehn, die selbst bis in die politischen Flugblätter hinein sich Bahn brechenden Nachrichten von allerlei kirchlichen Bewegungen und Unternehmungen: dieses Alles, und wie Manches sonst, noch vereinigt sich heutzutage zu einem forthallenden, mächtigen Kirchenglockenakkord, der, an Christum mahnend, und zur Huldigung vor ihm rufend, bis in die entlegensten Winkel der großen Menschenwüste hinein, ja bis in die verborgensten Spelunken des Satans hinunterschallt. Der Herr fährt gleichsam in offnem Wagen durch Stadt und Land; und die ihn nicht sehen, wie die Blinden zu Jericho, sie hören’s gleich diesen an dem Rauschen seiner Füße wie an dem ihn umgebenden Volksgetümmel, daß er vorüberziehe. Einem jeden entbeut er sich heutzutage irgend einmal als Retter, Erlöser und Friedensfürst; und keiner verläßt mehr ungläubig und unbekehrt den Schauplatz dieser Welt, den das Wort nicht treffen wird, das Schreckenswort: „Auch dich habe ich versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel; aber – du hast nicht gewollt!“ Erkennt es, und schaffet mit Furcht und Zittern eure Seligkeit, solange es noch Zeit ist.

Der Herr nähert sich einem Flecken. Welch’ eine schauerliche Gesellschaft kommt da auf ihn zugewankt! Zehn aussätzige Männer sind’s, die (das Elend ist eher ein Freundschaftskitt, als das Wohlergehn) das gemeinsame Unglück zusammenführte. Zehn Bejammernswerthe mit jener schrecklichen und Abscheu erregenden Krankheit geschlagen, die, nicht nach dem Glauben der Juden nur, sondern wirklich, wie sie von Gott verhängt wurde, so auch ausschließlich durch einen unmittelbaren göttlichen Wunderakt, und nicht durch menschliche Heilkunst, wieder entfernt werden konnte. Der Aussatz war, wie ihr an Mirjam, der Schwester Mosis, seht, eine Disciplinarstrafe des lebendigen Gottes, und zwar der beschämendsten und demüthigendsten eine, indem sie den Gezüchtigten, dem es nun oblag, sich von der menschlichen Gesellschaft fern zu halten, sein Angesicht zu verhüllen, und, wo er wandelte, den etwa ihm Nahenden zur Warnung, ein „Unrein, unrein!“ vor sich her zu rufen, auch dem Volke als einen Sünder bezeichnete. Wenn Gott der Herr auch heute noch allen geheimen Uebelthätern solche Stempel an die Stirn drücken wollte, o, welche Schauspiele würden sich mitunter vor uns enthüllen! Wie manche vornehme und glänzende Gesellschaft verwandelte sich dann plötzlich vor unsern Augen, ich will nicht sagen in was, und wie mancher gespreizte, vielleicht gar mit Ehrenzeichen aller Art bedeckte Würdenträger, träte dann mit einem Male als ein Scheusal in unsern Gesichtskreis! Nun, einst tritt der Zeitpunkt sicher und unausbleiblich ein, wo ein Jeder seine Signatur bekommen wird. Aber dann ist’s nicht mehr die züchtigende Liebe, die das Brandmal einätzt, sondern die nackte Gerechtigkeit; und das Brandmal haftet unvertilgbar und unauslöschlich.

Einen rührenden Anblick gewährt es, wie in den zehn Schwärenmännern, als sie den Heiland daherkommen sehn, plötzlich der Geist lebendig wird, und durch ihre trüben Augen nach langer Trauerzeit einmal wieder ein heller Schimmer der Hoffnung zittert. Seht, selbst bis in ihre dunkeln, von der übrigen Welt geschiedenen Kreis hinein hatte sich ein Strahl seiner Herrlichkeit verloren. Doch nein, nicht verloren hatte sich der Strahl, sondern sie hatten ihn eingefangen, und hüteten ihn treulich in ihren Herzen. Ach, er blieb ihnen der einzige Feld des Aufrichtens in weiter Welt, an dem sich ihr tief darniedergeschlagener Muth wieder ein wenig emporrichtet und erhebt. Und er darf sich an ihm erheben. Wären die Armen von ihrem Aussatze auch schon ganz und gar zerfressen, der Mann sonder Gleichen ist ja mit seiner Heilkraft nicht blos diesem Krebs ihres Fleisches, sondern auch dem unendlich Aergeren, dem Gräuel der Sünde überschwänglich gewachsen. O ein lieblicher, herzergreifender Anblick, wie sie sich nun ein Herz fassen, die von der Welt Verstoßenen, und den Mann ihrer Hoffnung mit flehenden Gebehrden umringen! Seht dieses bewegliche Schauspiel: der Herrliche in der Mitte, und die zehn Jammergestalten, freilich in einiger Entfernung, wie das Gesetz ihnen gebot, um ihn her. Dies aber ist der Rahmen, in dem der Herr vom Himmel sich am meisten wohlgefällt. So gerade will er eingefaßt sein. Mit solchen Arabesken umzogen hat er recht geflissentlich sein Bildniß uns überliefert, und hat selbst für ewige Zeiten auf sein Stirnband geschrieben: „Des Menschen Sohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ – „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ – „Ich bin nicht gekommen, nach Gerechten mich umzusehn, sondern nach Sündern.“

2.

Nachdem sie also in ihren Kreis Ihn gleichsam eingefangen, - und wie thaten sie wohl daran! - “erheben sie ihre Stimme.“ Merkwürdig dies! Die Stimme der Aussätzigen pflegte sonst durch die schreckliche Krankheit gebunden und gedämpft zu sein. Es scheint mithin schon die bloße Nähe Jesu befreiend und lösend auf sie eingewirkt zu haben. Was aber rufen sie? „Jesu“, schreien sie, wie mit einem Munde, „lieber Meister, erbarme dich unser!“ O hört es doch, ihr Elenden alle; diese vermummten Männer bezeichnen euch den Weg zu aller und zu jeder Rettung. Und wie ist der Weg so kurz, so einfach und so eben! Nähmet ihr den Wink jener Männer doch einmal an und folgtet ihm! Was vergeudet ihr eure Habe an die Ärzte? Was sucht ihr hier, was euch fehlt, und sucht es dort, und findet’s nicht? Was rennet ihr nach Ost und West um Trost und Hülfe, und entdeckt doch nur löcherichte Brunnen, die kein Wasser geben; oder was schleppt ihr euer Leben hin in unnützem Gram, und mit fruchtlosen Seufzern und Klagen; und Er, der aller eurer Lasten euch entbürden könnte, ist euch so nahe! So nahe, so leicht erreichbar ist er euch, der für Leib und Seele Alles in Fülle hat, des ihr bedürfet: Brod und Frieden, Gesundheit und guten Muth, Arbeitssegen und Hoffnungswonne, und wie Vieles sonst noch! O machtet doch auch ihr einmal euch zu ihm auf, wenn auch nur mit eurem armen Glauben, und mit dem, ebenfalls nur ein schwaches Bekenntniß erst enthaltenden, Rufe unsres Aussätzigen: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Welche köstlichen Erfahrungen würden euch lohnen! In welches neue liebliche Lebensstadium trätet ihr ein! Freilich, etwas Vertrauen, Zuversicht und guten Muth zu Ihm müßt ihr schon mit euch bringen. Aber der Muth wird euch schon kommen, wenn ihr nur einmal andächtig in sein Evangelium euch versenkt; wachsen wird er euch, wenn ihr stille erwägt, was alles unaussprechlich Großes unleugbar die Welt ihm schon verdankt; vollenden wird er sich, wenn ihr dem vieltausendstimmigen Chore der Begegnungen der Edelsten und Besten aller Jahrhunderte euer Ohr leiht, ich meine ihren Bezeugungen von den ungezählten Wundern der Hülfe und Errettung, die in der Gemeinschaft Jesu, des lieben Meisters, auf den sie hofften, sie selbst erlebten. Die Quelle alles, alles Segens strömt so dicht an eurer Schwelle hin; und ihr hört nicht auf, verschmachtend in weiter öder Fremde euch umherzutreiben. Verblendete ihr, wann werdet ihr lernen, auf euern Vortheil euch verstehn? Wisset, daß die zehn Aussätzigen dort mehr Licht, mehr Wahrheit, mehr Klugheit der Gerechten in sich trugen, als die ganze hochfahrende moderne Welt.

„Jesu“, rufen sie, lieber Meister, erbarme dich unser!“ Aus purer Gnade also soll er thun, was sie begehren. Und freilich, wer bei seinen Suppliken etwa andere Motive vor ihm geltend machen will, als das Eine, daß er gnädig ist, wird nichts empfahn. Die Gesellschaft der Stolzen und Eigengerechten ist die einzige, gegen die auch er sich stolz und fremd verhält. Es verdrießt mich nicht, es immer wieder an die Pfeiler dieser Kirche zu schreiben, daß Er der Sünderheiland ist. Aber was begehren die zehn Bettelnden, daß er ihnen thue? Sie denken, das werde er ja selbst schon sehn. Neune von ihnen denken freilich einstweilen nur an ihren Leib. Das Verlangen Eines geht, so scheint es, höher. Was thut der Heiland? Er sieht sie an mit einem Blicke, den sie, wo immer sie gegenwärtig seien, bis zu dieser Stunde nicht werden vergessen haben, und dann spricht er kurz, aber majestätisch hehr: „Gehet hin, und zeiget euch den Priestern.“ – Ach, wie groß ist dieses Wort! – Wie erhaben spricht sich darin wieder das Selbstbewußtsein Jesu von seiner übermenschlichen Macht und Würde aus! Er braucht nicht erst die Hand zu erheben, sondern nur einfach zu wollen, und dem Jammer, welcher Art er immer sei, ist das Grab gegraben. Es soll den zehn Unglücklichen einmal ein gewaltiger und unauslöschlicher Eindruck von der Herrlichkeit des Meisters werden, dem sie kindlich ihr Vertrauen schenkten; und darum eben nichts, als dies einfache, aber göttlich verheißungsvolle und königlich gebieterische „Gehet hin und zeiget euch den Priestern!“ – Beiläufig mache ich darauf aufmerksam, wie der Herr Jesus die bestehenden Ordnungen Gottes selbst auch in der entarteten und verkommenen Gestalt, in der er sie durch Schuld der treulosen Haushälter damals antraf, nach wie vor zu ehren und zu achten fortfährt. Laut dem levitischen Gesetze mußten Aussätzige, wenn sie sich genesen glaubten, von dem Priester sich besichtigen, und nach dargebrachtem Dankopfer eine Bescheinigung über ihre wirklich eingetretene Reinigung sich ausstellen lassen. Der Herr gebeut den Zehn, dieser Obliegenheit sich gehorsam zu unterziehn. Er mag zugleich dadurch den Priestern ein neues Zeugniß von seiner Messiasschaft unter die blinden Augen haben rücken, und damit ihr Gewissen schärfen wollen; aber was hier zunächst ihn leitete, war jedenfalls die Rücksicht auf die Forderung des Gesetzes. Gewiß wäre er auch kein Freund der eigenwilligen Separationen und sektirerischen Bewegungen unserer Tage. Kleben unserer evangelischen Kirche, wie nicht zu leugnen ist, viele Gebrechen an, so steht sie doch dem Rechte nach überall noch auf ihrem alten und ewigen Bekenntnißgrunde. Diejenigen, die sich von ihr trennen, verlassen voreiliger und kreuzflüchtiger Weise das Bette einer Kranken, um, so fürchte ich, wo nicht in ein Labyrinth des Irrthums, so doch in eine Katakombe verdorrter Mumien einzubiegen. Die Kranke kann immer noch, und wer weiß, wie bald, genesen; zwischen den Buchstabensarkophagen vertrockneter Mumien aber herbergt auch nicht einmal der Hoffnungsengel mehr.

Also – „Gehet hin, und zeiget euch den Priestern!“ Sie verstehn den Meister, und lassen sich den Befehl nicht zweimal geben. Sie gehen hin, auf den Stab des in seiner Weisung verborgenen Verheißungswortes gelehnt, und wahrlich, indem sie hingehn, beginnen schon die Schuppen von ihren Leibern sich zu lösen, und sie werden rein. Das vermag Er; aber das ist erst das Geringste, was er kann. Der äußere Aussatz, was ist er gegen den innern der Seele? Und in der That, gehen auch wir nur in lebendig gläubiger Erfassung der großen Zusagen hin: „Ich bin heilig und ihr sollt auch heilig sein“, und „Mein Geist soll bei euch bleiben ewiglich“, und führen wir unsern Wandel in unablässigem Aufschauen zu ihm, und in felsenfestem Verlaß auf seine Versicherung, daß er den Satan unter unsre Füße zertreten werde, so werden auch wir rein werden auf dem Wege, über Sünde, Welt und Teufel einen Sieg um den andern erringen, und wachsend durch seine Gnade an Demuth, Himmelssinn und gottgefälligem Guten, von einer Klarheit zur andern in sein holdseliges Bild verklärt werden.

3.

Sie gingen hin. Kaum aber, daß sie sich entfernt, kommt einer von ihnen, bevor er noch beim Priester war, zurückgestürzt, preiset mit lauter Stimme Gott, fällt auf sein Angesicht zu Jesu Füßen nieder, und dankt, und hört nicht auf zu danken aus der Fülle seines unaussprechlich bewegten Herzens. Welch eine liebliche Erscheinung dies! O, wir fühlen es dem Manne schon ab, daß noch ein Mehreres und Tieferes ihn bewegt, als die Freude über die Heilung seines Leibes. Auch das später folgende Wort des Herrn: „Dein Glaube hat dir geholfen“, setzt dies außer Zweifel. Ja, diesen Mann hat der Herr Jesus auf immer für sein Reich gewonnen. Ueber den ist Freude im Himmel, und Gemurr des Unmuths in der Hölle. Und denkt, ein Samariter ist der Mann. Doch ihr wisset ja, von was für Leuten der Herr Jesus einmal sagte, daß sie eher in’s Himmelreich kommen würden, als die stolzen Heiligen mit ihrem „Was fehlet uns noch?“ Aber wie doch, daß der verachtete Samariter sich zu den Juden schlug, und die neun Juden ihn unter sich hatten dulden mögen? O Freunde, in gemeinsamen Nothständen, - wir werden’s vielleicht auch noch einmal erleben, - pflegen viele Schranken leicht wieder sich zu senken, die sich am guten Tage, am Tage des Uebermuthes, zwischen Brüdern und Brüdern sich aufgerichtet. Doch diese Bemerkung ist hier allerdings nicht ganz an ihrer Stelle; denn eine Brüderschaft in Gott bestand hier nicht, obgleich wohl vorauszusetzen ist, daß der Samariter, da er die Gemeinschaft der jüdischen Elendsgefährten suchte, von den halbheidnischen Ketzereien seines Stammes bereits gründlich geheilt war, und Solches auch laut und gern und aus dem Drange seines Herzens kundgab. – Aber die Neune? Wo blieben sie? Nun, der Herr fragt ebenfalls nach ihnen. „Sind ihrer nicht Zehn rein geworden?“, spricht er, „wo sind denn die Neune? Hat sich sonst Keiner gefunden, der wieder umkehrte und gäbe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling?“ – Nein, weiter Keiner! Die Neune haben sich wohl auch ihrer Genesung herzinnig gefreut; aber in selbstischer Freude rafften sie dasselbe wie einen Raub an sich. Auch sie mögen mancherlei zu des wunderthätigen Meisters Lob und Ruhm gesprochen haben. Aber das Sprechen und Rühmen thut es überhaupt nicht. Die sogenannten Spiel- und Flötenuhren geben liebliche Musik, aber schlagen in der Regel falsch. Wer gäbe nicht vor dieser Tändelwaare der schlichten einsilbigen Thurmuhr den Vorzug, auf deren Schläge er sich verlassen kann. Der Samariter machte nicht eben viele Worte, sondern legte sich als ein lebendiges Dankopfer zu den Füßen Jesu nieder; und wisset, einen solchen, wie unscheinbar er dahertritt, nennt Gott der Herr einen „Mann nach seinem Herzen.“

Ach, Geliebte, ich irre sicher nicht, wenn ich sage: in dem Fall der Neune befinden sich auch unter uns gar Viele. Auch in unsrer Mitte ist sicher niemand, der nicht auch einmal, da die Fluthen der Noth und Trübsal über ihn zusammenschlugen, wenn auch vorübergehend nur und unwillkührlich, und selbst ohne tiefere Glaubensgründe, ein „Ach Gott, hilf!“ oder gar ein „Herr Jesu, erbarme dich!“ ausgestoßen hätte. Und der Herr ist über die Maßen freundlich, und erhört, um nur mit uns anzubinden, sehr gerne, und oft sehr schnell diejenigen selbst, die auch nur so im Vorübergehn zu ihm seufzten. So hat er denn dir, besinne dich nur, auf dein Noth- und Hülfsgeschrei dein krankes Weib zurückgegeben, dir dein Kind, erhalten in großer Gefahr, dir deine lieben Eltern noch gelassen bis diese Stunde, dir selbst Genesung geschenkt von schwerem Siechthum, die die Nahrungssorge gebrochen und wieder Brod geschafft, dir aus irgend einer andern großen Verlegenheit unversehens und wunderbar herausgeholfen, dich, während der Sturm über Tausende daherging, gnädiglich behütet, wie den Apfel in seinem Auge, - und was er sonst Gutes und Liebes euch gethan hat. Einem jeden, mit voller Bestimmtheit sage ich’s, that er einmal der Art etwas. Aber wo blieb’s, und was schaffte es für Frucht? Ihr nahmt die Wohlthat hin, und seid leider heute noch dieselben gottentfremdeten Leute, die ihr je gewesen. Der Wohlthat selbst vergaßt ihr vielleicht schon längst, wie viel mehr der Art, in welcher sie euch wurde, und des Herrn, der sie euch erwies. Ihr bautet ihm keinen Altar, und richtetet ihm kein Eben Ezer auf, und kennt keinen Fleck unter dem Himmel, wo ihr euch selbst ihm als Brand- und Dankopfer darbrachtet. So vereiteltet ihr des Herrn Absicht, und zerrisset in seiner Wohlthat das Garn und den zartgewirkten Hamen, mit dem er euch Sünder an sich zu ziehn, und alsdann euch noch überschwänglicher zu segnen gedachte. Wie steht ihr nun heute vor ihm da, ihr, im Blick auf welche er auch schon sprechen mußte, und noch heute spricht: „Hat sich denn Keiner unter ihnen gefunden, der wiederkehrete und gäbe Gott die Ehre?“ Ja, ihr mögt wohl beschämt eure Augen niederschlagen. Aber schlagt sie nur recht tief, recht gründlich nieder. Werdet euch der ganzen Größe eurer Schuld bewußt, und bringet reumüthig nach, was ihr versäumet und dahinten ließet. O, es ist ein so köstlich Ding, dem Herrn danken! Durch den Dank wird die empfangene Wohlthat erst rentbar. Durch ihn spinnt sich ein näheres Verhältniß zwischen uns und dem Herrn an. Der Unerreichbare wird uns mit einem Mal so persönlich nah; der Entfernte tritt in so unmittelbare Beziehung zu uns ein; der Fremde wird uns ein so traut Befreundeter. Er spricht uns so Vieles zu, indem wir dankend uns vor ihm ergießen; er zieht uns so wunderbar mächtig zu sich empor; er knüpft so tiefe, heilige Bande um unser Herz; und ehe wir’s uns versehn, ergeht auch an uns sein Wort: „Stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen!“ Und weit über den Segen, für den wir zunächst seine Gnade preisen, zielt dann dieses Wort hinaus. Ja, es geht selbst auf Weiteres noch, als auf die zeitlichen Hülfen und Errettungen, auf welche er darin auch für die Zukunft unsres Pilgergangs uns rechnen heißt. Es erstreckt sich die Bedeutung des Wortes bis in das ewige Leben hinüber. Denn vernehmt, Brüder, zum Schlusse, was bedeutsam der Mund des Herrn Psalm 50,23 spricht; vernehmt’s, und der Geist des Herrn schreibe es tief und unauslöschlich in euer Herz: “Wer Dank opfert, der preiset mich; und das ist der Weg, daß ich ihm zeige das Heil Gottes.“ Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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