Krummacher, Friedrich Wilhelm - Urchristenthum.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Urchristenthum.

Predigt über den Brief an Philemon.

Paulus, der Gebundene Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, Philemon, dem Lieben und unserm Gehülfen, und Appia, der Lieben, und Archippo, unserm Streitgenossen, und der Gemeine in deinem Hause. Gnade sei mit euch, und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Ich danke meinem Gott, und gedenke deiner allezeit in meinem Gebet, nachdem ich höre von der Liebe und dem Glauben, welchen du hast an den Herrn Jesum und gegen alle Heiligen, daß dein Glaube, den wir mit einander haben, in dir kräftig werde durch Erkenntniß alles des Guten, das ihr habt in Christo Jesu. Wir haben aber große Freude und Trost an deiner Liebe; denn die Herzen der Heiligen sind erquicket durch dich, lieber Bruder. Darum, wiewohl ich habe große Freudigkeit in Christo, dir zu gebieten, was dir geziemet, so will ich doch um der Liebe willen nur vermahnen, der ich ein solcher bin; nämlich ein alter Paulus, nun aber auch ein Gebundener Jesu Christi. So ermahne ich dich um meines Sohnes willen, Onesimi, den ich gezeuget habe in meinen Banden, welcher weiland dir unnütz, nun aber dir und mir wohl nütze ist, den habe ich wieder gesandt. Du aber wollest ihn, das ist mein eigen Herz, annehmen. Denn ich wollte ihn bei mir behalten, daß er mir an deiner Statt dienete in den Banden des Evangelii; aber ohne deinen Willen wollte ich nichts thun, auf daß dein Gutes nicht wäre genöthiget, sondern freiwillig. Vielleicht aber ist er darum eine Zeitlang von dir gekommen, daß du ihn ewig wieder hättest. Nun nicht mehr als einen Knecht, sondern mehr denn einen Knecht, einen lieben Bruder, sonderlich mir; wie vielmehr aber dir, beides nach dem Fleisch und in dem Herrn? So du nun mich hältst für deinen Gesellen, so wolltest du ihn als mich selbst annehmen. So er aber dir etwas Schaden gethan hat, oder schuldig ist, das rechne mir zu. Ich Paulus habe es geschrieben mit meiner Hand, ich will es bezahlen. Ich schweige, daß du dich selbst mir schuldig bist. Ja, lieber Bruder, gönne mir, daß ich mich an dir ergötze in dem Herrn, erquicke mein Herz in dem Herrn. Ich habe aus Zuversicht deines Gehorsams dir geschrieben; denn ich weiß, du wirst mehr thun, denn ich sage. Daneben bereite mir die Herberge; denn ich hoffe, daß ich durch euer Gebet euch geschenket werde. Es grüßet dich Epaphras, mein Mitgefangener in Christo Jesu, Marcus, Aristarchus, Demas, Lucas, meine Gehülfen. Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit eurem Geist! Amen.
Der Brief an Philemon.

Ihr wundert euch, geliebte Brüder, eine ganze Epistel als Text einer kirchlichen Betrachtung verlesen zu hören. Vernehmt aber die Gründe, aus denen es geschieht, und euer Befremden wird sich bedeutend mäßigen.

„Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde,“ spricht der heilige Verfasser des Hebräerbriefs, nachdem er vorher warnend ausgerufen: „Lasset euch nicht mit mancherlei und fremden Lehren umtreiben.“ Das Umgetriebenwerden von allerlei fremden Lehren ist zu dieser unsrer Zeit so häufig, als ein in der Wahrheit festes Herz eine seltne Perle ist. In frühern Tagen gab es einerlei Unglauben nur: den praktischen. Man zweifelte an der Wahrheit des Christenthums nicht; man verschmähte nur, sich ihm zu unterwerfen. „Wir wollen nicht, daß dieser über uns herrsche,“ hieß die Losung; und zwar, weil man „die Finsterniß mehr liebte, denn das Licht.“ Heute ist der Unglaube zugleich ein theoretischer, d.h. ein reflektirender oder ein solcher geworden, der sich mit Gründen als die allein vernünftige Auffassung und Ansicht geltend zu machen sucht. Es sind Widersprüche und Einwendungen gegen das Evangelium in die Welt ausgegangen, deren gründliche und durchgreifende Widerlegung auch manchen redlichen und heilsbedürftigen Seelen schwer werden will. Die Chorführer des neusten Antichristenthums haben ihre Hauptbastion in dem Satze aufgerichtet, es rührten die biblischen Schriften, und namentlich diejenigen des neuen Testamentes, von denen Männern gar nicht her, deren Namen sie an der Stirn trügen; sondern seien erst später verfaßt, und jenen nur untergeschoben worden. Dieser, allerdings, das ganze Christenthum in seinen Grundvesten erschütternde, Satz hat sich bei aller seiner Widersinnigkeit allmälig wie ein Miasma, und ein fliegendes Gift, weiter über die Welt verbreitet, und ist nach und nach, - wir erfahren es täglich, - die letzten Ueberbleibsel christlichen Bewußtseins hinwegätzend, bis zu den untersten Volkschichten hindurchgedrungen. Eine überaus bedenkliche Thatsache dies! Jene Anschauung ist der nagende Holz- und Todtenwurm in dem Grundgebälke der ganzen Kirche. Hat dieser Irrwahn Wahrheit an sich? Nicht die allergeringste; aber die Feinde halten steif und starr an ihn. Wen kann es wundern? Sie haben es selbst in mehreren ihrer Bannerträger ausdrücklich zugestanden, daß, falls nur von einer einzigen Schrift des neuen Testamentes, sei es ein Evangelium oder eine Epistel, unwiderleglich nachgewiesen werden könne, daß sie wirklich aus dem apostolischen Zeitalter stamme, und von einem Zeitgenossen Jesu verfasst sei, ihre, der Widerchristen, ganze Beweisführung gegen die Wahrheit und Glaubwürdigkeit des Christenthums dahinfalle; den Bibelgläubigen hingegen zugestanden werden müsse, daß sie auf wirklich festem, ja unerschütterlichem Boden fußten. Denn allerdings, räumen die Gegner ein, sei es nicht denkbar, daß schon in den Kreisen Solcher, die den Hereintritt des Christenthums in die Welt selbst erlebten, um die Person eines einfachen Sittenlehrers von Nazareth ein so von Wundern und Uebernatürlichkeiten strotzender Mythen-, Mährchen- und Sagenkreis, wie ihn die biblischen Urkunden enthielten, sich habe erzeugen können; indem die Sagen bildende und Wunder träumende Phantasie ihre bunten Gewirke nicht am hellen Mittage der noch gegenwärtigen, sondern erst im duftigen Abendroth der schon in das Meer der Vergangenheit niedertauchenden Begebenheiten zu weben pflege. Und so verhält sichs in der That. Nichts lag darum so sehr im Interesse derer, die das Christenthum und die Kirche Christi stürzen wollten, als der Nachweis, daß diese und jene Schrift nicht von Matthäus, von Lukas, von Paulus oder Petrus u.s.w., sondern, wer weiß, von welchen späteren Schreibern oder gar Poeten, herrühre. Es ist den Gegnern bereits der überzeugendste Beweis vom Gegentheil geliefert worden; und es bleibt ewig und unumstößlich wahr, daß, wenn auch nur von einer einzigen Schrift des neuen Testaments, und wäre es die scheinbar unbedeutendste, nachgewiesen werden kann, es habe wirklich ein Mann aus dem Zeitalter Christi, ja gar ein Apostel des Herrn, sie verfaßt, die Glaubwürdigkeit des ganzen Evangeliums auch vor der Vernunft gerettete ist; indem durch jede der neutestamentlichen Schriften, selbst auch durch den kleinen Brief, den wir heute vor uns haben, nichts Geringeres als, seinem wesentlichen Inhalte nach, das ganze Evangelium hindurchscheint.

Da der Brief an Philemon aus dem apostolischen Zeitalter stamme, steht außer aller Frage. Niemand hat dies noch zu leugnen gewagt. Schon in den uns noch übriggebliebenen Schriften des Kirchenvaters Ignatius, eines Schülers des Apostels Johannes, begegnet uns ein Citat, welches eine unverkennbare Hindeutung auf diesen kleinen Brief enthält. Es kann dieser Brief von gar keinem Andern verfaßt sein, als von Paulus, indem er, mehr Handbillet, als Brief, nur individuell persönliche Beziehungen des genannten Apostels zu einem seiner christlichen Freunde in sich faßt. In keinerlei Weise läßt ein Grund sich denken, aus welchem der Apostel ein Brief hätte untergeschoben werden sollen, der durchaus die Absicht nicht hat, Wahrheiten zu behaupten oder Lehren festzustellen, sondern in welchem es sich lediglich um eine an sich ganz unwesentliche Privatsache, ja um eine häusliche Angelegenheit handelt. Dem Philemon nämlich, einem begüterten Manne in Kolossä, welchen Paulus auf seiner ersten Missionsreise in Kleinasien zum Herrn geführet hatte, war aus Furcht vor der eines begangenen Vergehens halber ihn bedrohenden Strafe, ein Knecht entlaufen, den ihm nun der Apostel, und zwar als einen nunmehr durch ihn bekehrten Christen, mit diesem empfehlenden Brieflein zurückschickt. Man durchlese nur dieses apostolische Schreiben, und urtheile, ob Abgeschmackteres behauptet werden könne, als daß diese einfachen Zeilen dem Apostel nur angedichtet worden seien. Es geben’s freilich unsere Gegner auch zu, der Verfasser des Briefes an den Philemon sei allerdings kein Anderer, als derselbe Paulus, der früher Pharisäer war, der Steinigung des Stephanus beiwohnte, und nachmals eine Hauptstütze des Evangeliums geworden ist. Sie fühlen es zu tief, daß, leugneten sie auch die paulinische Abfassung dieses Briefes, ihre ganze Kritik und ihre Kriegführung gegen den apostolischen Ursprung der neutestamentlichen Schriften überhaupt, völlig in Verruf kommen würde. Sie glauben zugleich, es um so unbedenklicher, und für ihre Sache gefahrloser, anerkennen zu dürfen, daß der Brief von Paulus herrühre, da er so „nichtssagend“ sei, und, alles Lehrgehalts entbehrend, den wundersüchtigen und mystischen Anschauungen der übrigen neutestamentlichen Bücher so gar keine Stütze biete. Aber da gerathen nun die klugen Herren, ohne daß sie es ahnen, in eine versteckte Schlinge, in der wir sie vollständig zu Gefangenen machen und öffentlich zur Schau tragen können. Denn der kleine Brief, dessen Aechtheit sie nun endlich einmal anerkennen, um nicht vor Kinderaugen selbst ihre Vernunft als eine albern gewordene an den Pranger zu stellen, spricht, ein wenig verschleiert nur, ganz dasselbe aus, was alle andern Schriften des neuen Testaments. Der wesentliche Inbegriff des ganzen Evangeliums steckt auch in seinem unscheinbaren und flüchtig hingeworfenen Zeilen verborgen. Auch nach dem Urtheil der Widerchristen selbst und ihres finstern Lehrherrn, des Lügenvaters aus dem Abgrund, haben wir an dem Brieflein wenigstens ein ungetrübtes Fernglas, welches uns ganz sichere Blicke in das apostolische Zeitalter und dessen Denk-, Anschauungs- und Glaubensweise thun läßt. Es ist uns dieser Umstand aber von hoher Bedeutung und unschätzbarem Werthe. Ihr wißt, die Reformation, deren Gedächtnißfest wir kürzlich gefeiert haben, hat die Christenheit auf den Lehr-, Glaubens- und Lebensgrund des apostolischen Zeitalters wieder zurückversetzt. – Hat sie dies aber auch in der That? – Viele antworten bekanntlich frischweg: „Nein“, und behaupten, die Bekenntnisse der Reformation seien nicht diejenigen des Urchristenthums, sondern nur trübe Ausflüsse einer menschlichen Schultheologie. Wir werden uns von dem Ungrunde solcher kecken Behauptung überzeugen, indem wir, was freilich der Kürze der Zeit halber nur wie im Fluge geschehen kann, in dem hellen Spiegel des vor uns liegenden Briefes mit einander anschauen werden, wie man im apostolischen Zeitalter, und im Kreise derer, die mit dem Herrn Jesu zu gleicher Zeit und in demselben Winkel der Erde mit ihm zusammen lebten, gedacht hat 1) von Jesu Person; 2) von dem Heil der Welt; 3) vom Heilswege; 4) von Christi Reich; 5) vom Ansehn des apostolischen Wortes.

Geleite der Herr uns auf dem Wege der Betrachtung mit seinem Segen!

1.

Wer, fragen wir zuerst, war dem Schreiber unsers Briefes, der uns nun das apostolische Zeitalter vertritt, Christus, unser Herr? Hört: der Schreiber beginnt seinen aus seiner Gefangenschaft in Rom datirten, also etwa um das Jahr 60 nach Christi Geburt geschriebenen Brief mit einem für den Philemon, dessen Gattin Appia und die Gemeine, d.i. das Häuflein von Gläubigen, welches sich in Philemons Hause zu versammeln pflegte, gen Himmel entsendeten Gebete. Denn nichts Anders, als ein Gebet, ist der apostolische Segenswunsch: “Gnade sei mit euch, und Friede von Gott, unserm Vater und dem Herrn Jesu Christo.“ Er erfleht seinen Lieben also den Frieden und die Gnade wie vom Vater, ebenso auch vom Sohne. Unmöglich konnte er so den himmlischen Vater und den Herrn Jesum Christum als in gleicher Würde neben einander stellen, wenn er sich unter dem Letztern nur ein Menschenkind, ob auch das auserwählteste unsers ganzen Geschlechts, gedacht hätte. Gleich darauf spricht der Apostel seine Freude darüber aus, daß er von Philemons “Glauben an den Herrn Jesum Christum“ höre. „Glauben an Jemanden“ bezeichnet schon im jüdischen Sprachgebrauch einen religiösen Akt, der nur Gott gebührt. Der Titel “Herr“ in dem „an den Herrn Jesum Christum“, ist anerkannt das verdolmetschte hebräische “Jehova“, und enthält eine Zuerkennung göttlicher Majestät. Der Name “Christus“ bezeichnet den von Alters her prophetisch verheißenen und angekündigten Heiland und göttlichen Friedensfürsten. Unser Brief schließt wieder betend mit einem: “Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi sei mit euerm Geist! Amen“; und erfleht hier sogar die göttliche Gnade von Christo, dem Sohn, allein. Wer kann es demnach verkennen, daß auch der Brief an den Philemon ausdrücklich die Gottheit Jesu Christi lehrt. Als eine sich von selbst verstehende und über allen Zweifel erhabene Wahrheit wird es in dem ganzen Briefe hingestellt, daß Jesus kein Mensch, sondern das Mensch geworden ewige “Wort“, d.h. Gott, geoffenbart im Fleisch, der Anbetungswürdige, weil der Gottgleiche, und der Allwaltende, weil der zur Rechten der Majestät in der Höhe Erhöhte sei. Diese Anschauung von der Person Christi ist also keine erst später aufgekommene; sondern die uranfängliche und urchristliche, welche unter den Erleuchteten der Zeitgenossen Christi von vornherein zur Herrschaft gelangte. Es fällt aber dieser Umstand schwer ins Gewicht; ja er ist entscheidend für den Glauben: denn wie hätte man Jesu eine so erhabene Würde beizumessen gewagt, hätte er sie nicht ausdrücklich selbst für sich in Anspruch genommen; und wie würde auch selbst dann noch eine so hohe Anschauung von seiner Person sich Bahn gebrochen haben, hätte er diese Anschauung nicht durch das Ganze seiner wunderreichen Erscheinung selbst gestützt und bewahrheitet?

2.

Wie mit der Anschauung von Christi Person, verhält sich’s mit derjenigen, daß das Heil der Welt ausschließlich in Ihm beschlossen ruhe. Auch diese erweist sich uns hier als diejenige der ganzen ersten Christenheit. Der Schreiber unseres Briefes theilt dem Philemon mit, wie er zu seinem Gotte bete, daß “sein“, nämlich Philemons, “gemeinschaftlicher Glaube“ (d.i. der Glaube, welcher ihm mit allen Gläubigen gemeinsam sei) “kräftig“ (d.i. immer fester, voller, freudiger), “werde durch Erkenntniß alles des Guten, das,“ spricht er, “wir haben in Christo Jesu.“ Von einem andern “Guten“, als dem in Christo, weiß der Apostel nicht; in Ihm aber sieht er auch alles Gute, Gnade, Versöhnung, Gerechtigkeit, Frieden, göttliches Leben, Heiligung und ewige Seligkeit, wie in Einem lebendigen Füllhorn vereinigt. Die eigne hohe Freudigkeit, die er, trotz seiner Bande, in seinem ganzen Briefe zu Tage legt, beurkundet zur Genüge, wie er selbst, nachdem er Christum gefunden, sich unbeschreiblich reich und glücklich fühlt, und, gar nichts mehr entbehrend, nunmehr in Assaphs Worte einstimmt: „Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und nach Erde!“ Daß er aber so Alles in seinem Christo findet, damit verräth er nur sein felsenfestes Bewußtsein, daß Christus sein Erlösungswerk untadelig vollbracht, den Fluch, der auf der Menschheit lag, getragen habe, und nicht im Tode geblieben, sondern durch die Auferstehung von den Todten Seitens des himmlischen Vaters feierlichst als der Heiland der Welt proklamirt sei, und jetzt, ein Priesterkönig, seligmachend Alle, die durch ihn zu Gott kommen, auf dem Thron der Majestät und Ehren sitze. Ja, es schimmert das ganze Evangelium hell durch die Freudigkeit des Apostels hindurch; und sein Zeugniß, daß in Christo „alles Gute“ – d.i. das ganze Heil der Welt – verborgen ruhe, trägt und stützt, wie eine demantne Säule, die geschichtlichen Berichte der Evangelisten, und benimmt uns den allerletzten Zweifel, daß es schon im apostolischen Zeitalter festgestanden habe: „Kein Licht, kein Heil, kein Leben außer Christo!“

3.

Auch der Heilsweg war den ersten Christen derselbe, der er uns heute ist. Nach ihrer Ansicht war, was selig macht, nicht sittliche Besserung und selbst erzielte Rechtschaffenheit, sondern Buße, Glaube und Wiedergeburt aus Wasser und Geist. Wofür dankte Paulus seinem Gott? Dafür, daß Philemon “Glauben“ habe “an den Herrn Jesum Christum;“ Was schreibt er zur Empfehlung des zurückgesandten Dieners Onesimus? „Ich,“ schreibt er, „habe ihn gezeugt in meinen Banden;“ das ist: „durch mich, als durch ein Werkzeug des Heiligen Geistes, ist er von neuem geboren worden.“ Er beruft sich nicht auf gute Vorsätze, die Onesimus gefaßt, noch spricht er blos Hoffnungen zu dessen künftiger Besserung aus; sondern führt ihn dem Philemon als einen andern, umgeschaffenen Menschen vor, in dessen erneuter Natur die Bürgschaft liege, daß er ihm keinen Anlaß mehr zu Unzufriedenheit und Tadel geben werde. Kurz, Paulus meldet, Onesimus sei bußfertig und gläubig zu Christo gekommen und ein lebendiges Glied an dessen Leibe geworden. Dies allein galt, wie ihr hier seht, von Anfang her, für die von Gott bestimmte und festgestellte Ordnung, in der man zu Gottes Wohlgefallen und zum Genusse des ewigen Lebens gelangen könne; und von hohem Belange muß es uns wieder sein, daß auch hierüber unter denen, die Christo am nächsten standen, ja, die Wahrheit unmittelbar von ihm empfangen hatten, keine Ungewißheit und kein Schwanken, sondern nur eine bestimmte und unwandelbare Ansicht herrschte.

4.

Das Reich Jesu Christi war je und je, wie noch heute, eine nach Sinn und Wesen, der unbekehrten, ob auch noch so ehrsamen, Welt entgegengesetzte, zwar mitten in der Welt lebende, aber nichts destoweniger nach den innersten Grundzügen wesentlich von ihr unterschiedene und von ihr ausgesonderte Gemeinschaft. So erscheint uns das Reich auch in unserm Briefe. Ein Bruderverein begegnet uns hier, zusammengehalten durch Bande einer Sympathie und Liebe, wie sie die Welt nicht kennt. Es waltet hier das Gefühl einer Ebenbürtigkeit und Verwandtschaft, von welcher alle Verwandtschaft nach dem Fleisch nur ein trüber Schatten ist. Wie zärtlich grüßt der Apostel den Philemon als „den Geliebten“ und die Appia als die „Geliebte!“ Wie zärtlich gedenkt er der „Gemeine“ in Philemons Hause, d.h. der dort sich vereinigenden Gläubigen, seiner Brüder! “Heilige“ nennt er sie, weil sie aus der Welt heraus Gott geheiligt, und in Christo gerechtfertiget sind. Er nennt den Philemon “lieber Bruder;“ den Sklaven Onesimus “seinen Sohn,“ ja “sein eigen Herz.“ Er sagt dem erstern: „Als einen lieben Bruder bekommst du den zurück, den du als einen Knecht entließest.“ „Als einen Bruder,“ sagt er, „nicht nach dem Fleisch, sondern in dem Herrn.“ Ihr seht, eine dem Geiste nach der Welt entrückte Haushaltung entschleiert sich uns hier; ein tief und innig verbundener Familienkreis stellt sich uns dar, der mit vielerlei Druck, Widerwärtigkeit und Noth, (Paulus selbst ist in der Kette) zu kämpfen hat, aber dennoch höchst getrost unter den Gnadenfittigen dessen geborgen ruht, der da sagte: „Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ So trug vor achtzehnhundert Jahren schon die Hausgenossenschaft Christi denselben Stempel, den sie noch heute trägt. - Urchristlich ist, wie die “Fremdlingschaft“ der Reichsbürger Jesu Christi in dieser Welt, so das Bundesgefühl, das sie mit einander verknüpft, die Mundart, an der sie sich erkennen, und der Stand der Schmach und Dornenkrönung, in den sie, so lange sie hienieden weilen, sich müssen finden lernen.

5.

Oft hört man behaupten, es sei den Aposteln in ihrem Zeitalter ein bei Weitem nicht so hohes Ansehn beigemessen worden, wie es die spätere Kirche ihnen angefabelt habe. Niemand, sagt man, habe daran gedacht, jene Männer zu unmittelbaren Dolmetschern und untrüglichen Organen Gottes zu vergöttern, sondern man habe auch ihr Wort, mit welcher Ehrerbietung auch, doch mit der Voraussetzung hingenommen, daß es möglicherweise neben dem Wahren auch Unbegründetes enthalten könne. Auch, sagt man, sei keiner der Apostel in seiner Meinung von sich selbst so hoch gefahren, daß er sein Wort geradezu als Wort Gottes habe anerkannt sehen wollen. Unsere Inspirations-Lehre sei dem apostolischen Zeitalter fremd. – So sagt man. – Nun, es ist schon eingeräumt, und nicht dem leisesten Zweifel mehr unterworfen, daß der uns vorliegende Brief das wirkliche apostolische Zeitalter uns erschließt, und somit uns befähigt, über dessen Richtung und Geist, Gedanken und Ansichten, zu einem richtigen Urtheile zu gelangen. In welcher Eigenschaft kündet nun in diesem Briefe der Apostel sich uns an? Ueberaus demüthig, freundlich und leutselig tritt er auf. Er bittet den Philemon „als der alte Paulus, der jetzt ein Gebundener Jesu Christi sei,“ er möge den Onesimus, der ihm weiland unnütz gewesen, nun aber wohl nütze sein werde, in Liebe wieder aufnehmen. Gern, schreibt er, hätte er selbst ihn bei sich behalten mögen, damit er statt dem Philemon, ihm dienete in seinen Banden; jedoch ohne Philemons Genehmigung habe er sich dazu nicht entschließen können. Er bittet: „So du mich hältst für deinen Genossen und Freund, so nimm den Entsprungenen wieder auf, als wäre er ich selbst.“ Er sagt, falls Onesimus ihm Verlust und Schaden verursacht habe, oder überhaupt ihm etwas schulde, so mache er, Paulus, sich stark dafür, und wolle es treulich, bis auf den Heller, zurückzahlen. Ja, er gibt ihm darüber gleich einen Revers, indem er, der bis dahin den Brief diktirte, nun selbst den Griffel nimmt, und schreibt: „Ich Paulus habe dies geschrieben: ich will’s erstatten.“ „Ja,“ schreibt er, „gönne mir, lieber Bruder, daß ich mich an dir ergötze in dem Herrn.“ Wie anspruchslos dies, wie herablassend und wie innig! Doch darf Philemon nicht übersehn und vergessen, daß in Paulus auch noch ein Andrer, als sein Freund und Bruder zu ihm rede. Zur Steuer der Wahrheit kann der Apostel nicht umhin, auch von seiner höhern Autorität ein wenig den Schleier zu lüften. Nachdem er geschrieben, er wolle bezahlen, was etwa Onesimus veruntreut habe, fügt er hinzu: „Ich will davon schweigen, daß du dich selbst mir schuldig bist.“ Was heißt das, als: „Nächst Gott, verdankst du mir deine Erleuchtung, deine Rettung aus dem Irrsal, deine Seligkeit.“ Ja, er steigt höher. „Ich habe“, schreibt er, “in Zuversicht zu deinem Gehorsam dir geschrieben“; d.h.: „du wirst wissen, wer durch mich redet: der Geist des Herrn ist es!“ Dann bemerkt er am Schlusse: „Daneben bereite mir die Herberge; denn ich hoffe, daß ich durch euer Gebet euch geschenkt werde.“ Das Wort im Grundtext bezeichnet noch mehr, und besagt so viel, als: „daß Gott euch mit mir ein Gnadengeschenk macht.“ Seht, bei aller Herzensniedrigkeit und Demuth, welch hohes Bewußtsein von sich selbst! Er wußte sich als ein Werkzeug, durch das der Herr seine untrüglichen Eröffnungen an die Menschen bringe. Und daß auch Philemon, und mit ihm die ersten Christen alle, ihn, und die Apostel insgesammt, als solche unfehlbaren Dolmetscher des Herrn wußten, das liegt hier schon klar zu Tage, indem im entgegengesetzten Falle Paulus von einer bloßen Erinnerung an diese seine erhabene Würde mit solcher Zuversicht, wie er es thut, den gewünschten Erfolg sich nicht würde versprochen haben.

So hat uns denn unser kleiner Brief seine Dienste heute gethan. Wenn man, das Unmögliche möglich gedacht, uns bewiese, alle Evangelien und Episteln seien unächt und in späterer Zeit geschrieben, so würde doch schon aus dem einen, hinsichtlich seines apostolischen Ursprungs überhaupt, und seiner paulinischen Abfassung insbesondere, aller Anfechtung entnommenen Briefe zur Genüge erhellen, was den allerersten Jüngern Christi schon, in deren Kreisen Fabeln und Mythen sich noch nicht bilden konnten, als gewisse und unumstößliche christliche Wahrheit gegolten habe. Es war dasselbe, was wir glauben und bekennen, und worauf wir unser Vertrauen setzen. Der eine unzweifelhaft ächte Brief stieße dann aber auch Alles wieder um, was gegen die Aechtheit der übrigen Stücke des neuen Testamentes eingewendet worden wäre; ja an dem einen erprobte sich die Aechtheit aller andern, da ja in diesen durchaus dieselben Anschauungen, Grundsätze und Ideen uns begegnen, wie in jenem. –

Freuen wir uns denn, geliebte Brüder, mit unserm christlichen Glauben auch den Angriffen der „falsch berühmten Kunst“, Kritik genannt, gegenüber, uns so wohl verschanzt zu sehen. – Sei es auch, daß wir, die wir glauben, täglich schon im Wege der Erfahrung inne werden, daß das Evangelium eine “Kraft Gottes“ sei, so kann es doch, namentlich in dieser Alles verneinenden Zeit, nicht fehlen, daß auch uns Stunden der Anfechtung kommen, in welchen es uns erwünscht sein muß, dem „Vater der Lügen“ auch mit Argumenten der Vernunft begegnen zu können. Und gewiß liegt ein solches Argument in dem Nachweis, daß unsre christliche Anschauung mit derjenigen der ersten Christen ein und dieselbe sei; und ich meine: daß sich’s so verhalte, hätten wir euch heute auf’s neue dargethan. Urchristlich ist unser Glaube: darum wahr. Wir schöpfen unser Licht und unsern Trost nicht aus einem abgeleiteten menschlich getrübten Bache, sondern unmittelbar aus der Quelle. – Richten wir uns an diesem Bewußtsein auf, und geben wir vollen Raum in uns dem petrinischen Worte: “Wir haben ein festes prophetisches Wort; und ihr thut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet an einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche, und der Morgenstern aufgehe in euern Herzen.“ – Amen.

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