Krummacher, Friedrich Wilhelm - Nur nicht verzagt!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Nur nicht verzagt!

Reisepredigt II. über 2. Corinther 4,8.

gehalten den 26. October 1851.

Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.
2. Corinth. 4,8.

Noch einmal, theure Freunde, eigne ich dieses apostolische Wort mir zu, und schreibe euch auf’s neue mein “Nur nicht verzagt!“ auf die kirchliche Gedächtnißtafel. Fand’s Wiederhall in euern Herzen, da ich’s vor vierzehn Tagen Angesichts der neusten Triumphe des Unglaubens und der scheinbar so erfolgreichen Kriegsoperationen des Romanismus euch zurief, so schlägt’s hoffentlich auch heute bei euch durch, wenn sich gleich diesmal ein fast noch niederschlagenderes Schauspiel in euern Gesichtskreis drängen wird, als jene beiden. Ich komme heute auf die innern Zustände Zions, der Gemeinde Jesu Christi selbst, und gestehe euch frei, daß, wenn irgend etwas geeignet scheint, dem Freunde des Reiches Gottes für dessen nächste Zukunft die ernstlichsten Besorgnisse einzuflößen, sie es sind. Und doch strömt auch hier wieder neben dem Maraborn der Beängstigungen, sogar mit reicherem Wasser noch, der Quell der Beruhigung und des Trostes. Kommt, Brüder, und laßt mich euch zeigen, zuerst, was Entmuthigendes an der Gemeine der Gläubigen in unsern Tagen sich bemerkbar macht; und sodann, was auch Aufrichtendes und die Hoffnung Belebendes wieder an ihr hervortritt.

Segne der Herr unsre Betrachtung, und schenke Buße und Glauben als deren Früchte!

1.

Zunächst, meine Freunde, gilt’s, eine Wahrheit auszusprechen, bei der sich’s freilich fragt, ob ihr sie gerne hören werdet. Wer wäre unter euch, der nicht Anspruch darauf machte, auch für seine Person der Gemeine des Herrn beigezählt zu werden; aber – diese Gemeine ist eine Auswahl nicht allein aus den Kindern Belials, sondern auch aus der Menge der sogenannten „Wohlgesinnten“, „Kirchlichen“ und „Religiösen“. Schrumpft so die Gemeine auf ein ziemlich kleines Häuflein zusammen, so kann ich dafür nicht, der ich hier nicht mit einem selbsterwählten Maßstabe, sondern mit dem Worte Gottes messe: und dieses läßt das geistliche Zion auf Wenige beschränkt sein. „Nur Wenige sind’s“, sagt der Herr, „die den Weg des Lebens finden“. Ja, wenn schon das Bekenntniß der Wahrheit, und der äußere Anstrich eines christlichen Wandels es thäten! Aber Christus kam nicht, dem alten Menschen neue Kleider anzuziehn, sondern einen neuen Menschen zu schaffen, dem die Kleider von selber wachsen würden. Durch die ganze alttestamentliche Weissagung geht die Anschauung hindurch, daß der Messias in seiner Zukunft nicht etwa nur ein Altes aufputzen und verbessern, sondern, um mit Jeremias zu reden: „ein Neues schaffen werde im Lande. Dieses Neue wird überall als ein solches beschrieben, das man nicht erst werde mit Laternen zu suchen haben, sondern dessen holdselige Herrlichkeit mit ihrem Wunderglanze von selbst die Welt durchleuchten, und sich die Anerkennung des Himmels, der Erde und der Hölle erzwingen werde. Es ist dieses Neue kein Todtes, sondern ein Lebendiges. Nicht eine Formel ist es, noch eine Verfassung, noch der Art etwas; sondern ein Volk mit neuem Athem und mit neuem Pulsschlag. Es ist seine Gemeine, auch sein “Leib“ von ihm genannt, sein “Haus“, seine “Braut“ und seine “Heerde“. Wer aber ist diese Gemeine nun? Etwa die gesammte Christenheit? Sie kann’s nicht sein, da sie in ihrer großen Mehrheit aller der Züge ermangelt, welche uns der Herr u.a. Joh. 10 mit den Worten: „Meine Schafe kennen mich, hören meine Stimme und folgen mir“, als die wesentliche und unerläßliche Signatur der Seinen aufführt. Ist’s denn die evangelische Kirche? Wollte Gott, sie wäre es! Aber sind deren Glieder sämmtlich mit Christi Geist gesalbt? – Nun aber steht geschrieben: „Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“. So sind’s am Ende doch die Bekenner der reinen Lehre, die fleißigen Kirchgänger, und die Abendmahlsgenossen, welche die Gemeine bilden? Gern glaubte ich’s; aber da steht mir nun ein böser Spruch im Wege. Ich nenne ihn böse, weil er meinem fleische zuwider läuft. Und wenn er nur ein Mal mir begegnete, dieser Spruch, wie Matth. 7! Aber Lukas 13 taucht er wieder schreckend vor mir auf. Und lautet? Hört! „Es werden einst Viele kommen und sagen: Herr, Herr, thue uns auf, denn wir haben in deinem Namen geweissagt; wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf unsern Gassen hast du uns gelehrt! Aber dann wird der Herr zu ihnen sprechen: Weichet von mir, ihr Uebelthäter, denn ich kenne euch nicht, habe euch nie erkannt, und weiß nicht, wo ihr her seid!“ – Nicht ein Aeußeres entscheidet die Frage, wo die Gemeine des Herrn sei, sondern ein Inneres. Nicht Worte, Formen und vereinzelte Akte machen sie, sondern es macht sie allein der lebendige, durch die Liebe thätige Glaube an Jesum Christum. Weil aber dieser Glaube „nicht Jedermanns Ding“, noch auch das ausschließliche Besitzthum einer äußern christlichen Religionsgemeinschaft ist, so nennen wir die wahre Gemeine unsichtbar, und wollen ihr mit dieser Bezeichnung nicht etwa absprechen, daß sie sich offenbare; (in ihrer Natur liegt es, daß sie auch nach außen hin thatkräftig ihr Dasein bekunde,) sondern nur andeuten, wie keine in Bekenntniß, Ritus und Verfassung zu einer sichtbaren Gestalt gelangte Kirchengemeinschaft berechtigt sei, sich für die Gemeine des Herrn auszugeben, oder auch nur den Ruhm in Anspruch zu nehmen, daß sie dieselbe als Gesammtheit mit dem Ringe ihrer Institutionen umschließe. Dem Worte Gottes, wie den Bekenntnißchristen unsrer Kirche nach, ist die Gemeine des Herrn da, und da allein, wo seine Heiligen und Wiedergeborenen sind; und solche begegnen uns unter der Zeltbedachung aller äußern christlichen Sonderkirchen, unsrer evangelischen freilich zumeist, was zu begreifen ist, da sie die ungefälschte Bibellehre zu ihrer Basis hat. Man vernimmt zwar in diesen Tagen mitunter die unerhörte Behauptung wieder, es seien Wiedergeborene ohne Unterschied alle Getauften. Aber das ist ein der Schrift in’s Angesicht streichender, überaus bedenklicher Wahn; denn am Tage liegt’s, daß über Millionen, welche auch die Wassertaufe empfingen, nach wie vor die Sünde eine unumschränkte Herrschaft übt. Wie aber sagt die Schrift? „Wer aus Gott geboren ist“, sagt sie, „der thut nicht Sünde und kann nicht sündigen“. Und wiederum Römer 6: „Die Sünde wird nicht herrschen über euch, so ihr unter der Gnade seid“. Und wiederum 1. Joh. 2: „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns: denn wo sie von uns gewesen wären, so wären sie bei uns geblieben“. Auch hier ist die Rede von Getauften, und doch bezeugt von ihnen der Apostel, sie seien wahre Christen, wie er und seine Brüder, also Wiedergeborene nicht gewesen.

Christus hat seine Gemeine sich erkauft und durch den Geist gezeugt nicht zu dem Ende nur, daß sie durch ihn selig sei und werde, sondern zugleich in der Absicht, daß sie durch ihre ganze Erscheinung Ihn, und den, der Ihn gesandt hat, auf Erden verherrliche und verkläre. „Ihr seid das auserwählte Geschlecht“, ruft Petrus allen Gläubigen zu, „das königliche Priesterthum, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums, daß ihr verkündigen (d.i. in euerm Wesen und Wandel thatsächlich darstellen) sollt die Tugenden deß, der euch berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht“. Wie weit entspricht nun in unsern Tagen die Gemeine Jesu diesem ihrem Berufe? Trägt sie als Ganzes den Stempel einer Schöpfung des Geistes Gottes an der Stirn? Leuchtet sie als ein lebendiges Spiegelbild der sittlichen Herrlichkeit ihres Hauptes aus dem unschlachtigen und verkehrten Geschlechte hervor? Ist bei ihr so die Wahrheit und die Demuth, die Selbst- und Weltverleugnung und Aufopferungsfreudigkeit für der Brüder Wohl, daß sie vermittelst ihres bloßen Daseins schon die Lüge der Zeit, und ihren Hochmuth und Egoismus richtet und verdammt; und nöthigt sie heute noch wie einstmals, die Heiden und Ungläubigen zu dem Ausrufe der Verwunderung: „Wie haben sie sich unter einander so lieb?“ – Wollte Gott, wollte Gott, es wäre so! Aber - - Soll ich jetzt den Schleier lüften; oder gedenke ich vielleicht besser an das alte Wort: „Saget es nicht an zu Gad, noch auf den Gassen zu Asklon, daß die Heiden nicht frohlocken, noch die Töchter der Philister sich freuen?“ Ja ich will daran gedenken, und nicht namhaft machen dies, das und jenes, was unbeschreiblich betrübend ist. Aber wenn ich die Feinde schon mit Schadenfreude sagen höre: „O, die sogenannten Gläubigen, ihr müßt sie kennen’, wie sie hier bei allem Gerede von der Verherrlichung Gottes, welche ihres Strebens und Lebens Ziel sei, mit den Kindern der Welt um die Wette nach den Schimmern eitler Ehre geizen; wie sie dort ebensowohl wie Andere trotz der Engelgeistigkeit, in deren Schein sie sich kleiden, sich Schätze sammeln, welche die Motten fressen, und mit dem Worte „Liebe“ im Munde, wo es Liebe üben gilt, so karg, ja herzlos sich erfinden lassen; wie sie an einer andern Stelle gar dem verabscheuungswürdigen Grundsatz huldigen, sie dürften, weil sie in dieser oder jener Sache eine Parthei bildeten, an ihren Gegnern, und wären diese auch ihre Ebenbürtigen in Gott, nie etwas Gutes anerkennen, sondern hätten an denselben geflissentlich nur das Böse aufzusuchen, und dieses dann in’s möglichst Schwarze auszumalen; oder wie sie bei allem Schein der Demuth von den armen Höhen ihres zeitlichen Ranges und Standes vornehm auf ihre geringere Brüder niederblicken, oder den Mächtigen und Einflußreichen der Erde gegenüber auch der Schmeichelrede sich nicht schämen, oder ihre Lust finden an Splitterrichterei und afterredendem Gewächse“; - ich sage, wenn ich so unsre Feinde über uns urtheilen höre, wie ich erst vor Kurzem noch solche und ähnliche Anklagen in prägnantester Weise aus dem Munde eines ihres Rädelsführer, und zwar vom kirchlichen Lehrstuhl herab, zu vernehmen Gelegenheit fand, so möchte ich bittre Thränen der Trauer und des Verdrusses darob weinen, daß ich mich nicht berechtigt finde, solchen Bemängelungen entschieden entgegen zu treten, und im Blick auf die Unsern alle jenen Richtern ein festes „ihr lüget!“ zuzudonnern, sondern leider zuzugestehen genöthigt bin, es sie an dem, daß dem Christenthume in unsern Tagen durch einen Theil seiner Freunde und Bekenner viel ärgere Schmach widerfahre, als selbst durch seine bittersten Widersacher. Und wäre es am Ende auch möglich, den Nachweis zu liefern, daß von den eben vernommenen Vorwürfen doch nur ein sehr geringer Theil der Gemeine der Gläubigen getroffen werde, so tritt doch in neuester Zeit ein Schade so grell und in solcher Allgemeinheit an ihr hervor, daß es schon um dessentwillen keinem Zweifel unterliegt, es stehe schlimm und sehr bedenklich um die Gemeine. Ich denke, wie ihr errathen werdet, an den ungeheuern Riß, der durch sie hindurchgeht. An die unsäglich bejammernswerthen Zerklüftungen und Zerspaltungen unter ihren Gliedern denke ich. O diese Menge feindselig wieder einander erhobener Partheistandarten in Mitten des Lagers Jesu Christi selber. Dieses Sektengeschrei bald aus diesem, bald aus jenem Winkel heraus: „Hier ist Christus! – Hier ist des Herrn Tempel!“ – Dies wirre Getöne: „Ich bin paulisch, und kephisch ich, und ich apollisch, ich christisch“, und wie es weiter lautet; und dieser Haß, in so raffinirter Potenz selbst unter den Heiden kaum erhört, womit eine Fraktion, nicht der Kinder Belials, sondern derer, die zur Fahne des Friedenskönigs schwuren, gegen die andere sich aufbäumt! Da steht zu ungezählten Malen der separirte Lutheraner dem Lutheraner innerhalb der Landeskirche, da dieser wieder dem Reformirten oder dem Freunde der Union mit dem Bannfluch auf der Lippe gegenüber. Da zucken Aeußerungen hin wie diese: „Lieber nach Rom, als nach Genf und Zürich! – Kein Heil für den Reformirten, er schwöre denn zur Formel unsers Lutherthums! – Union und Abfall gleichbedeutend!“ u.s.w. Und wenn diese Sätze nur Theorien blieben; aber mit zersprengender und zerstörender Gewalt fahren sie hinein in’s Leben. Brüder, zusammengebunden in ein Bündlein der Lebendigen, gehen in kalter Entfremdung, schmollend, oder gar mit bitterm Groll an einander vorüber, weil sie, nicht in einem Grundartikel der göttlichen Heilslehre, sondern in der menschlichen Fassung irgend eines solchen von einander abweichen. Sie sagen sich die Gemeinschaft auf, ja verdächtigen sich einander, nicht selten gar vor der Welt, und suchen sich gar bürgerlich zu beeinträchtigen, wo nicht zu stürzen. O Herr, mein Heiland, ist das die Erhörung deiner hohenpriesterlichen Bitte: „Auf daß sie Alle Eins seien, gleich wie Du, Vater, in mir, und ich in Dir, daß auch sie in uns Eins seien, auf daß die Welt glaube und erkenne, du habest mich gesandt?“ Ist das die Erfüllung deines Wortes: „Daran wird man erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habet“? – Was Wunder, daß die Gegner des Christenthums jubeln einander beglückwünschen, um Beweise gegen jenes nicht mehr verlegen sein zu müssen, da die Christen selbst sich vereinigten, in ihrem Verhalten dieselben ihnen so reichlich darzubieten! Was Wunder, daß das Papstthum der evangelischen Kirche schon mit Bestimmtheit den nahen Untergang vorherverkündet, da ein Reich, welches sogar in seinen besten Elementen mit sich selber uneins sei, unmöglich lange mehr bestehen könne! Und ich bekenne, mir wird ernstlich benage, daß wir in Folge unsrer innern Kriege bittern, schweren Schaden leiden werden, daß wir unsern Feinden mit Macht in die Hände arbeiten, daß die schönsten und gesegnetesten unsrer christlichen Anstalten, namentlich unsre Missionsgesellschaften, die einst auf der Basis des gemeinsamen Glaubens an die Grundwahrheiten des Evangeliums erbauet wurden, im Sturm der Partheikämpfe, wie es schon zu geschehen anhebt, jämmerlich dahinwelken, wo nicht gar zu Grunde gehen, und Gottes Heiligkeit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit endlich werden genöthigt werden, mit uns in gleicher Weise zu verfahren, wie einst mit den abschmäckig gewordenen Gemeinen in Kleinasien und auf der Nordküste Afrikas: nämlich den Leuchter unter uns von seiner Stätte hinwegzustoßen, und dem Eindrange einer neuen Geisterverfinstrung Raum zu geben. Gegen keine Klasse von Menschen sehen wir die heiligen Apostel eine schärfere Zucht üben und anempfehlen, als gegen diejenigen, welche dadurch, daß sie einen Buchstaben, oder eine Formel, oder eine Ceremonie, oder ein äußeres Kirchensystem, an Christi Stelle setzen, und dafür fanatisch eifern, die Einheit des Leibes Jesu zerreißen. Diese Leute, und nicht die Irrenden in einer oder der andern Lehre, heißen in der Schrift Häretiker, Ketzer. Bewußt oder unbewußt sind sie trotz alles Glaubenseifers, der sie beseelt, Werkzeuge des Satans, der größeres Interesse nicht hat, als in die Gemeine des Herrn, die nur durch Eintracht stark ist, den Samen des Zwiespalts zu streuen; und in heiligem Eifer nennt Paulus sie im Briefe an die Philipper „böse Arbeiter“, die „Zerschneidung“, ja „Hunde“.

2.

Doch Brüder, wie sehr auch die innern Zustände der Gemeine der Gläubigen, namentlich in unserm Vaterlande, mich bekümmern und betrüben, ganz niederzuschlagen vermögen auch sie mich nicht. Es zählt die Kirche Jesu Christi auch der gesunden Glieder noch gar manche, und wo sie kränkelte und siegte, macht sich seit Kurzem vielfach eine überaus erfreuliche Krise zur Besserung bemerkbar. Wenn alljährlich, wie es geschieht, aus ihrer Mitte nicht weniger als 8 Millionen Thaler als freie Spende für christliche Liebeszwecke, namentlich für Mission und Bibelverbreitung, in die Kasse Gottes fließen; wenn durch sie in jedem Jahre durchschnittlich wenigstens 10,000 Heiden, größtentheils unter unsäglicher Anstrengung in Arbeit und Gebet, und meist nicht ohne Lebensgefahr für die Friedensboten, zur Fahne des Evangeliums geworben und dem Herrn Jesu als eine liebe, willkommene Beute zu Füßen gelegt werden; wenn der Eifer, Seelen zu erretten, immer tiefer in die Wildnisse der Kinder der Finsterniß eindringt, und im Sturmlauf der Barmherzigkeit immer gefährlichere Stationen erobert, um dort die Standarte des Kreuzes Christi aufzupflanzen; wenn je länger, je weniger eine Sprache und Mundart in der Welt mehr gefunden wird, deren riesige Schwierigkeiten nicht binnen Kurzem überwunden wären, sobald es nur gilt, Gottes Wort in dieselben zu übersetzen; wenn die Gewalthaber der Erde immer unverholener den Wunsch verrathen, es möchten ihre sämmtlichen Unterthanen Leute sein, wie diejenigen, die man ihnen unter dem Namen der „Pietisten“ so viele Jahre, ja Jahrzehnte hindurch so schwer verdächtigen konnte; wenn an den Schwellen lebendiger evangelischer Gemeinlein fast täglich, wie namentlich in Frankreich geschieht, Glieder der römischen Kirche mit der Bitte erscheinen: „Nehmt uns auf in euern Bund, denn wir sehen, wie ihr so innig untereinander vergliedert seid, und euch wechselseitig hebt und auf dem Herzen tragt; bei euch ist’s gut sein“; - wenn nachgerade, wie wir von unserm Vaterlande schon rühmen können, kaum ein Ort mehr gefunden wird, der nicht irgend eine der pflegenden oder rettenden Hülfleistung für Kindlein oder Erwachsene gewidmete Anstalt aufzuweisen hätte, welche lediglich der oft so äußerst winzigen Zahl der dort befindlichen wahren Jünger Jesu ihren Ursprung verdankt; - - ich sage: wenn dieses Alles, ei, so muß das Gemeinlein Christi doch nicht überall so gar erstorben und verfallen, noch auch aller Liebe, Glaubenskraft und göttlichen Lebensfrische so völlig baar sein. Und das ist’s ja freilich auch noch nicht.

Gott sei gelobt! an vielen Ende beginnt man sich in neuester Zeit auch wieder zu besinnen, nicht allein darauf, daß Eintracht stark macht, Zertrennung aber schwächt, entkräftet und zerrüttet; sondern auch darauf, daß es Gottes ausdrücklicher Wille ist, daß der Leib Christi als solcher auch erscheine und sich bethätige, und seine Glieder nicht naturwidrig sich vereinzeln, sondern zu gegenseitiger Handreichung organisch in der Liebe verbunden bleiben. Man erkennt immer allgemeiner an, daß es über der geschichtlich gewordenen theologischen Fassung biblischer Heilslehren ein ewiges, ursprüngliches, unwandelbares zu allen Zeiten in der Kirche geglaubtes und jedem zugängliches unzweideutiges Evangelium giebt, in welchem eine Herzenseinigung aller lebendig Gläubigen nicht allein möglich, sondern, weil Gott sie will, auch unbedingt nothwendig sei. Mehr und mehr gelangt man zu der Einsicht, daß man in der theologischen Ausbildung der confessionellen Gegensätze in der evangelischen Kirche vielfach über das Bibelwort hinausgegangen, und sodann daß nicht alles und jedes Alte, ob es selbst auch aus der Reformationszeit stamme, und hohe menschliche Autoritäten für sich habe, wieder aufzufrischen und herzustellen ist. Nicht wieder zu erneuern ist z.B. der Bannfluch, welchen die bekannte, übrigens hoch in Ehren zu haltende, Concordienformel gegen die reformirte Kirche schleudert. Mögen manche Geistliche in großer Beschränktheit und Unkenntniß der wirklichen Verhältnisse an die Möglichkeit einer erneuerten Geltendmachung auch jenes Anathema’s glauben: Die Gemeinden, und zwar in ihrem lebendigsten Theile, lächeln dazu, wie sie zu den Warnungen jener vor „gemischten Ehen zwischen Lutheranern und Reformirten oder Unirten“ lächeln, und halten dafür, daß es namentlich in dieser Zeit für die Christen etwas Besseres zu thun gebe, als, bei übrigens vollkommener Einheit im Wesentlichen des evangelischen Glaubens, um Lehrunterschiede sich gegenseitig zu befehden und zu excommuniziren, über welche Gottes Wort noch nicht entschieden hat.

Solche Ueberzeugung durchdrang auch die große Christenversammlung, welche vor Kurzem in der Weltstadt London tagte, und bei der die evangelische Kirche der ganzen Erde in bewährten und erprobten Abgeordneten vertreten war. Diese sogenannte evangelische Alliance hat es als ihre nächste Aufgabe erkannt, alle lebendigen Gläubigen in der Welt in der Weise enger mit einander zu verbinden, daß zwar Keinem zugemuthet werde, seinem kirchlichen Sonderbekenntnisse zu entsagen; daß aber jeder in freier Anerkennung der Nothstände der Zeit und der in derselben sich kundgebenden göttlichen Forderungen, seine Stammesstandarte vor dem Reichsbanner neige, in welches in neun Sätzen die Grundartikel des Evangeliums verzeichnet wurden. Es sind die Artikel von der göttlichen Eingebung der heiligen Schrift und der Hinlänglichkeit derselben zur Seligkeit; von der Einheit Gottes und den drei Personen in seinem Wesen; von dem Fall und dem gänzlichen Verderben des menschlichen Geschlechts, und dem Unvermögen desselben, sich selbst wieder aufzuhelfen; von der Nothwendigkeit der Wiedergeburt durch die Wunderwirkung des Heiligen Geistes; von der Gottheit Jesu Christi, des Eingebornen vom Vater; von dem Heil allein durch ihn vermittelst der in seinem Blute gestifteten Erlösung; von der Rechtfertigung des Sünders aus lauter Gnade durch den Glauben an Christum ohne Verdienst der Werke; von den zwei Sakramenten und der ewigen Seligkeit der Gläubigen, der ewigen Verdammniß der Glaubenslosen. Eine Lust war es, zu sehn, wie unerschütterlich fest die Versammelten alle auf diesem unwandelbaren Glaubensgrunde standen. Entzückend war’s, ihnen abzufühlen, wie sie, sollte es Noth thun, freudig bereit sein würden, ihr Gut und Blut für ihren Glauben in die Schanze zu schlagen. Noch köstlicher aber war der Anblick der tiefen, innigen Vereinigung so vieler Hunderter von Knechten Gottes in der lautersten, aus dem Herzen Jesu geflossenen Bruderliebe. Ein Schauspiel war dies, an dem auch die Engel Gottes sich werden geweidet haben; ja eine lebendige Luftspiegelung der Kirchenzukunft, da nach dem Worte des Herrn Ein Hirt und Eine Heerde sein wird. Allerdings trat eine Mannichfaltigkeit kirchlicher und dogmatischer Anschauungen auch hier hervor. Es waren Lutheraner dort, Reformirte aller Denominationen: Bischöfliche, freie Schotten, Schotten der Nationalkirche, Methodisten, Presbyterianer, Independenten und Taufgesinnte. Aber sie fanden sich alle als arme Sünder in dem lebendigen Glauben an Jesum Christum als an ihr Ein und Alles zusammen, und so umschlangen sie sich, ihre Partheifarbe hinter das Purpurroth seines Blutes zurücketreten lassend, als eine selige Bruderschaft in dem Herrn. O wie hätte ich euch, wie namentlich so manche meiner engherzigen, frostigen und verbissenen deutschen Brüder, zu mir wünschen mögen, als nach dem erhebenden Schlusse der dreiwöchentlichen Verhandlungen die Brüder noch einmal in einer weiten geräumigen Halle zu einer feierlichen Abendcommunion sich vereinigten. Auf einer der großen Versammlung gegenüber in dem hellerleuchteten Raume angebrachten Erhöhung, stand, weiß gedeckt, eine lange Tafel. Auf derselben zwölf Kelche, und zwölf Patenen mit dem heiligen Brod. Hinter ihr zwölf Geistliche: Engländer, Amerikaner, Franzosen und Deutsche. In drei Sprachen wurde abwechselnd gesungen und gebetet; in drei Sprachen die gedrängte Versammlung innig und brünstig angeredet. Dann stiegen die zwölf Hirten, nachdem ihnen erst selbst das heilige Sakrament gereicht worden war, in die Reihen der Versammelten hinab, und unter dem lebendigsten Gefühle der Nähe Imanuels empfing ein Jeder den Leib und das Blut des Herrn. Ein rauschender englischer Lobgesang zum Preise des erwürgten Lammes, und dann das innige deutsche „Die wir uns allhier beisammen finden“, beschlossen die Feier, die dem Bruderbunde das Siegel aufdrückte, und deren Keiner, der an ihr Theil genommen, in Ewigkeit vergessen wird. Die Versammlung trennte sich; der Bund besteht, und wird auf ewig bestehn. Die dort die Hände in einander legten, sie bleiben im Geiste nun vereint. Sie tragen einander auf dem Herzen; sie gedenken Einer des Andern vor des Herrn Thron, und sind bereit, wo es je gelten sollte, so weit ihr Wort, ihre Hände und ihre Mittel und Kräfte reichen, einander geistig und leiblich Handreichung zu thun. Und daß es dem Bruderbunde hiemit ein Ernst sei, das hat er schon vielfältig und ausreichend bewährt. Verjagten Brüdern bot er traute Zuflucht; unbemittelten sprang er zu ihrem persönlichen Unterhalt, wie zur Auferbauung ihrer Gemeinden mit reichen Liebesspenden bei; bedrängte und angefochtene hat er in aller Weise aufgerichtet und ermuthigt; und um Christi willen gefangenen ist er bis in das Dunkel ihrer Kerker hinab helfend und Bande lösend, versteht sich in gesetzmäßiger Weise, nachgegangen. So entsendete er z.B. noch im vorigen Jahre eine Deputation aus seiner Mitte von England nach Rom, um dort den früheren von der römischen Curie hochgestellten Dominicaner, und nachmaligen eifrigen und gesegneten Evangelisten unter seinen italienischen Landleuten, den Dr. Giacinto Achilli im Wege Rechtens aus den Gefängnissen der päpstlichen Inquisition zu befreien, was denn mit Gottes Hülfe ihrem rastlosen Bemühen auch gelungen ist. Der seiner Banden Entledigte war selbst bei der Versammlung zugegen, sprach diese rührend und erhebend an, und stand da als ein lebendiges Zeugniß, daß die Alliance, wie sie organisirt schon in vielen Ländern, und factisch, wenn auch ohne förmliche Organisation, auch in unserm deutschen Vaterlande besteht, kein leerer Name sei. Und fürwahr, das ist sie auch bei uns nicht mehr. Auch den Elberfelder Kirchentag durchhauchte ein Odem herzlicher Einträchtigkeit und Bruderliebe. Bei den bei weitem Meisten auch der dort Versammelten gab sich gleichfalls ein tiefes und lebendiges Bedürfniß nach innigerm Zusammenschlusse kund. Der Eröffnungs-Predigt eines Lutheraners, welche auf die Nothwendigkeit einer innigern Einigung und Verbindung aller Gläubigen hinwies, wurde fast mit lauter Stimme zugejauchzt. Fast Alle durchdrang das lebendige Gefühl, daß Unzeitigeres und Unsinnigeres in unsern Tagen nicht geschehen könne, als wenn die Gleichgesinnten in dem Herrn, statt den wider die Kirche Christi verschworenen feindseligen Mächten gegenüber zu Einer Phalanx sich zu verbinden, zum Triumph der Hölle sich, daß ich mit Paulus rede, „untereinander beißen und fressen, und sich gegenseitig verzehren“ wollten. Innerhalb des größern evangelischen Bruderbundes, der, ruhend auf der allseitigen Anerkennung der unter den in ihm vertretenen verschiedenen Confessionen bestehenden Einheit im Wesentlichen, freilich erst im Werden begriffen ist, haben sich zu Elberfeld engere Vereinigungen, wie z.B. der gegen die Kriegsoperationen Roms sich rüstende “protestantische Bund“ zusammengethan, um zunächst schon unter sich die Gemeinschaft der Heiligen zu pflegen und zu fördern; ich lebe aber der festen Ueberzeugung, daß von Jahr zu Jahr auch die deutsche Kirchenversammlung als Ganzes mehr und mehr zu einer lebendigen Einheit in dem Herrn sich verschmelzen wird. Alle Anzeichen dazu sind bereits vorhanden; und was die Herausbildung der vollen Harmonie für jetzt noch aufhält, das kann und wird, weil mit Gottes Absicht streitend, nimmer herrschend werden.

Seht, Freunde, das sind Züge, an denen auch wieder die Hoffnung einen Anhalt- und Stützpunkt findet. Nein, ich verzage nicht; auch nicht im Blick auf unser liebes deutsches Vaterland. Zwar habe ich meine Mühe und Arbeit gehabt, dasselbe vor dem stolzen England zu vertreten, das fast mit mitleidigem Achselzucken auf unsre Zustände herabsehn und uns nachsagen wollte, daß bei uns, die wir uns auf’s Theoretisiren und Plänemachen wohl trefflich verstünden, aber schlechte Praktiker seien, überall “so gar nichts würde“. Wahr ist es, daß England sich großer Vorzüge vor uns zu erfreuen hat. Was dort dem Fremden alsobald vor Allem so unaussprechlich wohlthuend sich fühlbar macht, ist der feste Grund und Boden, den er hier überall unter seinen Füßen hat: in der Familie die althergebrachte germanische Häuslichkeit und Sitte; im Staate die dem Briten angeborne und mit der Muttermilch ihm eingetränkte Ehrfurcht vor dem Gesetz; in der Kirche die unumschränkte Herrschaft des von den Vätern überkommenen biblischen Glaubens. Es erscheint Alles hier wie auf Felsen gebaut und für die Ewigkeit gegründet, und die Versuchung liegt nahe, den Namen des “Continents“, des Festlands, unsern Länderstrecken zu entziehn und ihn auf jene Insel zu übertragen. Dazu hat England seinen vollen unverkümmerten Sonntag noch, den eingebüßt zu haben unser größtes Unglück ist. Das englische Volk ist fast genöthigt, die Gotteshäuser zu besuchen, schon weil ihm die Häuser weltlicher Lust und Zerstreuung am Tage des Herrn sämmtlich geschlossen sind. Es erklärt sich daher sehr leicht, einmal, daß das Volk Englands, obwohl keinem Schulzwang unterworfen, an Schriftkenntniß alle übrigen Völker der Christenheit hinter sich zurückeläßt, was besonders den kirchlichen Bibellektionen zugeschrieben werden muß, bei deren höchst weiser Vertheilung Sorge getragen ward, daß die Gemeinden binnen kurzer Frist einen Ueberblick über den wesentlichsten Inhalt sowohl des Alten, als des Neuen Testaments gewinnen; und sodann, daß, da ja Gottes Wort nicht leer zurückkommen soll, ein gewisses Maß von Gottesfurcht der ganzen englischen Nation als solcher eigen ist, und zu den charakteristischen Zügen seiner Volksthümlichkeit gehört.

Wer möchte das “Volk der That“, welches freilich uns den Ruhm, das “Volk der Wissenschaft“ zu sein, unbestritten läßt, um aller jener Vorzüge willen nicht beneiden? Und doch vermag die vergleichende Zusammenstellung unsres deutschen Volks mit jenem mich keineswegs völlig zu entmuthigen. Wie auf unsrer Seite unläugbar die Tiefe ist und die schöpferische Kraft im Bereiche des Geistes und der Ideen, so kann ich auch von der Ueberzeugung nicht lassen, daß einst von Deutschland aus, wie wenig es auch für den Moment den Anschein hat, noch einmal, wie vor 300 Jahren, die Neubelebung, ja die Wiedergeburt der ganzen Kirche ausgehn wird. Nein, Brüder, ich verzage nicht; und wisset, daß selbst zu unserm Berlin, auf das die Augen so Vieler gerichtet sind, und dessen Zustände in mancher Beziehung freilich etwas Desolates haben, mir der Muth noch lange nicht entfallen will. Ich habe zwar, wie ich euch frei gestehe, vor Kurzem erst, einer meiner früheren Gemeinden offen geklagt, daß ich unendlich Vieles, dessen ich mich einst erfreuen durfte, hier vermisse, wie denn die Unkirchlichkeit der hiesigen Bevölkerung zum Theil an’s Unglaubliche streife, und ich in den Gemeinen das Gegentheil von dem, was Organisation, in den meisten christlichen Vereinen das Gegentheil von dem, was Energie und Lebensfrische, in den Gemüthern durchschnittlich das Gegentheil von dem, was Tiefe und Sammlung heiße, angetroffen habe. Aber ich habe auch nicht verschwiegen, daß der Herr auch in dieser Stadt ein Volk besitze, welches seine Kniee nicht gebeugt vor Baal; daß die gläubige Predigt, wo sie vom eignen innern Leben des Zeugenden getragen werde, je länger je mehr eine mächtige Anziehungskraft auszuüben beginne, und daß hin und wieder unverkennbar das Morgenroth einer nahen bessern Zukunft über unsern hiesigen Gemeinen heraufzuziehen scheine. Ja, ich habe meine Hoffnung dahin ausgesprochen, es werde nicht lange mehr währen, so werde auch Berlin sich auf seinen Beruf besinnen, welchen ich in nichts Geringeres zu setzen wage, als darin, daß es der dem Tage ihrer Wiederauferstehung vom Tode, und einer neuen Stufe göttlicher Lebensentwicklung entgegeneilenden, deutschen Kirche – die Glaubensfackel und das Banner Zions voran tragen werde.

So sei denn Gott gepriesen für Alles, womit er in dieser trüben Zeit auch wieder aufrichtend und tröstend uns entgegenkommt. Er helfe uns in Gnaden weiter, und „fertige Jerusalem zum Lobe auf Erden!“ In der That scheint eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes im Anzuge. Lasse Er denn bald seine gnädigen Regen rauschen, und verleihe, daß wir binnen Kurzem mit entschiedenerer Freudigkeit noch, als gegenwärtig, nach dem wehmüthigen: “Uns ist bange“, unser tapferes “doch wir verzagen nicht!“ mögen jauchzen könne. Amen!

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