Krummacher, Friedrich Wilhelm - Liebe um Liebe.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Liebe um Liebe.

Begrüssungspredigt gehalten über 1. Thessal. 1,2-10. vor der reformirten Gemeinde zu Elberfeld am 21. September 1851.

Gruß und Handschlag zuvor, liebe, theure, unvergeßliche Gemeine! – Gottes allerbester Segen dir, dir! – Gnade um Gnade dir aus seiner Fülle!

Die festliche Versammlung, die im Laufe der verwichenen Woche an diesem Orte tagte, ging auseinander. Ich blich zurücke. Wie natürlich, daß ich blieb! – Wen hielten solche Bande hier, wie mich? Wer unter allen den Hunderten, die hier vereinigt waren, stand zu dir, wie ich zu dir stehe?

Das amtliche Band, das mich, geliebte Gemeine, mit dir verknüpfte, hat der Herr gelöst, aber es giebt ein hehreres und heiligeres noch als jenes,; und das, ich fühl es tief und klar, hielt durch, und wird, deß bin ich versichert, ewig halten. Doch Brüder, ihr seht, der Sturm der Empfindungen macht mir das Reden schwer. Ich muß zuerst und vor Allem zu dem Herrn; ja beten muß ich. O kommt, und fallet Alle im Geiste vor dem Throne unseres Gottes mit mir nieder.

1. Thessal. 1,2-10.
Wir danken Gott allezeit für euch Alle und gedenken euer in unserm Gebet ohne Unterlaß, eingedenk eures Wortes im Glauben, und eurer Arbeit in der Liebe und eurer Geduld in der Hoffnung auf unsern Herrn Jesum Christum, vor Gott und unserm Vater; die wir wissen, von Gott geliebte Brüder, wie ihr auserwählet seid; daß unser Evangelium ist bei euch gewesen, nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft, und in dem heil. Geist, und in großer Gewißheit; wie ihr wisset, welcherlei wir gewesen sind unter euch um euert willen. Und ihr seid unsere Nachfolger geworden und des Herrn und habt das Wort aufgenommen unter vielen Trübsalen mit Freuden im heil. Geist; also daß ihr geworden seid ein Vorbild allen Gläubigen in Macedonia und Achaja. Denn von euch ist auserschollen das Wort des Herrn nicht allein in Macedonia und Achaja; sondern auch an allen Orten ist euer Glaube an Gott ausgekommen, also daß uns nicht noth ist, etwas zu sagen. Denn sie selbst verkündigen von euch, was für einen Eingang wir zu euch gehabt haben, und wie ihr euch bekehrt habt zu Gott von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott; und zu warten seines Sohnes vom Himmel, welchen er auferwecket hat von den Todten, Jesum, der uns errettet von dem zukünftigen Zorn.

Nun ja, ganz paßt’s wohl nicht, geliebte Brüder, was ich euch eben verlesen habe; aber doch in etwa. Hier ist weder Thessalonich noch Paulus; aber es ist doch auch hier eine Gemeine des Herrn, und ein Knecht, welch armer auch, der einst dieselbe bauen helfen durfte, und sie ewig auf dem Herzen tragen wird. Ich wußte keine Stelle in der Schrift, die meinen Empfindungen euch gegenüber einen entsprechenderen Ausdruck lieh, als eben diese; wenn es uns auch jederzeit mit der Aneignung solcher apostolischen Bezeugungen zu gehen pflegt, wie dem Knaben David mit der Rüstung Sauls und das erborgte Kleid uns Zwergen immerdar zu groß und weit ist. Ebenso besann ich mich auf keinen Ausspruch, in welchem ich euer Bildniß wahrer gezeichnet fand, als in jenem; wenn ich euch auch gestatten muß zu denken, ich sähe hier mit dem Auge der Liebe, das die wunderbare Eigenschaft besitze, zu dem angeschauten Gegenstande schon verklärende Lichter und Farbentöne mit hinzuzubringen.

Brüder, ich finde mich heute an dieser Stätte in einer einzigen Lage. Ich sehe mich zwar wieder auf diesem alten, ehrwürdigen und mir so heimischen und trauten Lehrstuhl; aber eine eigentliche Predigt euch zu halten mit Texterklärung, seiner Disposition, Lehrinhalt und Anwendung darnach, ist mir unmöglich. Ich meine, es gölte diesmal nur, ein Fest mit euch zu feiern, bei welchem ihr euch ebenso thätig zu erweisen hättet, wie ich selbst. Ja, dieses Fest möge begangen werden: als ein Erinnerungsfest zuerst, als Fest der Liebe dann, und endlich als Fest der Bundeserneuerung.

Der uns das Fest bereitet hat, unser Herr Jesus Christus, sei mit seinem Segensblick und Friedensgruß in unsrer Mitte!

1.

Ich lüfte den Schleier der Vergangenheit; ich gedenke an die vorigen Zeiten. Brüder, trotz dem und dem, es waren doch köstliche Jahre, die wir mit einander verleben durften. „Du wirst mir hintennach sehn,“ sprach der Herr zu Moses. Ja, wie dem Moses damals, also ergeht es jetzt auch uns. Gewißlich war der Herr an diesem Orte, und wie oft wußten wir es nicht, wir verzärtelten Kinder, wenn wir so ohne Ursach murren, sauer sehn und klagen konnten. Die erste Zeit zumal, wie war sie lieblich, als, wie ein Bischoff inmitten seiner Sakristane und Gehülfen der unvergeßliche Mann noch an dieser Stätte stand, der predigte, wie so tief, so mächtig, so wahrhaft geistvoll nach ihm, ich meine, Keiner mehr gepredigt hat; als dann der so früh vollendete Eiferer um das Haus des Herrn hinzutrat, der, ich möchte sagen sein ganzes Amt an dieser Gemeine wie aus dem schon von der Erde himmelan gehobenen Feuerwagen Eliä verwaltet hat; als nach diesem mit frischen Kräften und reichen Gaben sei es der inbrünstigen Rede, oder der Weisheit im Gemeinderegiment oder mit welchen Befähigungen sonst, die Andern kamen, und namentlich durch den hocherwünschten Zuzug des theuren Bruders, den meine Seele mit besonderer Liebe liebt, auch die Schwestergemeine in dieser Stadt einen neuen und gewaltigen Aufschwung nahm. O, diese schönen Gottesdienste damals in den schon von der ersten Morgenfrühe an bis in die fernsten Winkel hinein gefüllten Gotteshäusern; dieses rauschende Psalmgetöne, das in der reichen Fülle, in welcher es jetzt ertönt, eigentlich damals erst in der Gemeine aufkam; dieses, ich möchte sagen, den Athem anhaltende Interesse mit dem euer Ohr an der kirchlichen Deutung und Entzifferung der Schrift, und an der Enthüllung ihrer Geheimnisse und Tiefen zu hangen pflegte; diese strahlende Freude, womit die etwa neugewonnenen geistlichen Schätze heimgetragen und auch den Brüdern zugebracht zu werden pflegten, die Krankheits halber oder aus andern Gründen sie nicht unmittelbar empfangen konnten; und vor allem dieser Jubel, wenn hier oder dort der Blitz des Wortes wieder gezündet hatte; diese Liebe, in deren Schooß die „jetzt geborenen Kindlein“ gebettet wurden; die trauten Bruderwanderungen dann unter Sang und Klang durch Busch und Thal, und die erquickungsreichen Abendkreise mit ihrem Liedersegen und dem oft so ausnehmend reichen Genuß in Gespräch über Gottes Wort, oder in Mittheilung aus dem Bereiche innerer Erfahrung! – O, wie manchmal gedenke ich an dies Alles und so Vieles sonst, und das Herz wird mir warm und weich in wehmuthsvoller Freude. Ganze Bilderzüge theurer Persönlichkeiten schreiten dann an meinem Geistesblick vorüber. Ach, es haben schon viele den Staub der Erde vom Fuß geschüttelt; aber sie leben frisch in unsrer Erinnerung fort, namentlich jene Alten, um die wir als um die Träger der kirchlichen Ueberlieferung aus guter segensvoller Zeit so gerne uns schaarten, und die wir als die Stützen und Pfeiler der Gemeine in Ehren hielten. Der geistreiche Mann, in welchem die spezifisch christliche Volksthümlichkeit dieser Gegend ihre schönsten Blüthen trieb, und dessen Sprüche wie eines andern Agurs, kurz, spitzig und tief, noch lange in eurem Munde leben werden; und der Andere, den ich in einem andern Bilde mir nicht denken kann, als Tag und Nacht mit der heiligen Rolle der Offenbarung Johannis in den Händen; und der Dritte, der das Wohl der Gemeine wie wenige auf dem Herzen trug, und in dessen Seele zuerst das Bild der neuen zweiten Kirche aufstieg, zu deren Erbauung ihr jetzt so rührig die Hände regt: diese und wie so manche sonst noch, die unsern Herzen ewig theuer bleiben werden, begegnen mir nicht mehr in euern Reihen; ja mancher derselben singt schon längst das Lied des Lammes im höhern Chor. Die Mehrsten aber, mit denen ich mich einst unter der Fahne Jesu hier zusammenfand, sind noch da, und ich sehe, wie ihre Augen aus dieser Versammlung heraus mich freundlich grüßen. Und wie grüßt und segnet mein Herz sie wieder! – O, nicht wahr, wir treffen uns ja noch alle beim Zuge Israels, und singen, nach wie vor in einer Richtung wandernd, noch heute, wie wir’s tausendmal gesungen, von Grund der Seele unser: „Die wir und allhier beisammenfinden, schlagen unsre Hände ein.“ Und wo Einer die Fährte verlor, von heute an sei er wieder bei unsern Fahnen! Und wie, daß er nicht zu uns wiederkehren sollte? Die in meinem Herzen geblieben sind, werden’s ja vielmehr noch im Herzen Dessen sein, den „seien Gaben und Berufungen nimmermehr gereuen.“ – O Kindlein, bleibet bei Ihm, und auch bei der Kirche und Gemeine bleibet, die euch durch Gottes Gnade geistlich gebar, und an deren Mutterbrüsten ihr genährt und erzogen wurdet. Ich wüßte weit und breit keine Gemeine, welcher der Herr unverkennbarer von Alters her den Stempel seines Wohlgefallens und seiner Gnadenführung aufgeprägt hätte, als dieser; und sie verlassen, heißt gewiß von einer Stätte weichen, über der vorzugsweise das Auge väterlicher Freundlichkeit, und mit ihm der Himmel offen steht.

Und wo seid ihr, ihr Söhne und Töchter, Hunderte, wo nicht Tausende, mit denen ich einst die schönsten Stunden meines Amtes im Katechumenenunterrichte verleben durfte? Ihr, an denen immer neu, wie an einem Frühlingsblumenbeete, meine Seele sich erlabte; ihr die ich freudigster Hoffnungen voll dem Herrn in seinem Heiligthum entgegenführte, und denen ich des Allerhöchsten Auftrage den Fahnenschwur zum Banner Zions abnahm; sagt an, wo finde ich euch? Ach, haben sich die Thränen, unter denen ihr einst so feierlich betheuertet: „Dein, Herr Jesu, sind wir, dein!“ wirklich als Thauestropfen des Weinstocks ausgewiesen, die eine gewisse und reiche Erndte bedeuteten? Liegt auch ihr jetzt mit uns zu Felde wider den Bösewicht; oder gehört ihr zu denen, die von ihm überwunden wurden? Tragt ihr da Siegel des Lammes an euren Stirnen, oder sehe ich euch wieder als Gezeichnete mit dem Kainszeichen des Unglaubens und der Gottentfremdung? Verhüte es der barmherzige Gott! Ich habe den Auftrag heute, euch feierlich zu eröffnen, daß ihr doppelte Streiche, ja zweenfache Verdammniß erleiden werdet, wo ihr die breite Straße wandelt, statt den schmalen Weg, auf den ihr von Kindheit auf oft unter lautem Geschrei zu Gott und vielen Thränen gelockt und geladen wurdet. Im rosigen Bilde eurer Jugend steht ihr, noch alle vor meiner Seele. Ich sehe noch euer Ohr so begierig an meinem Munde hangen, und euer Auge so kindlich fröhlich leuchten bei meinem Erzählen von dem holdseligen Sünderfreunde und seiner Liebe; und eure Lippen so willig und so froh bereit zu dem Gelübde, Ihm ewig treu zu sein. Ach, könnte ich euch noch ein Mal um mich sammeln und euch wie einst in’s Antlitz schauen, ob es noch ein so holder, klarer und lieber Spiegel ist, wie damals, oder ob Welt und Satan es trübten und entstellten. O, hätte Eins oder das Andere aus eurer Zahl von Sonnenaufgang sich gewendet und zöge gen Mitternacht; kehret wieder, kehret wieder! Noch ist es Zeit! Und nicht von ungefähr, nein, durch Gottes Fügung geschieht es, daß dem Lehrer eurer Jugend, eurem väterlichen Freunde heute vergönnt wird, noch einmal, wie einst, mit derselben Liebe, aber mit größerm Ernste noch sein „Kindlein, bleibet bei ihm!“ euch zuzurufen. O glaubt es doch, was irgend diese arme Welt euch zu bieten hat, nicht eitel ist’s nur und leer, sondern wahre Misere und alles Truges voll. Heil, Leben, Reichthum und Seligkeit ist allein bei Jesu und in seinem Reiche.

2.

Nach dem Erinnerungsfeste feiern wir ein Fest der Liebe. Liebesfeste werden, wenn man sich einander sagt, daß man sich lieb hat, und gegeneinander die Liebe bethätigt. Das Erste anbelangend spreche ich dreist mit Paulus 1 Corinth. 1,13: „Ich hoffe, ihr werdet uns bis an’s Ende also befinden, gleichwie ihr uns zum Theil befunden habt“ Ja, es ist Alles noch beim Alten, theure Freunde, und wie weiland, so trage ich euch auch heute noch auf meinem Herzen. Ich gedenke eurer, wie Paulus seiner Thessalonicher, ohne Unterlaß, wenn freilich auch mit Pauli Treue nicht, in meinem Gebet. Ich nehme Theil an euerm Ergehn, als wäre ich noch ganz der Eure und ihr die Meinen. Euer geistliches Gedeihen ist meine Wonne. Ich rühme oft von euch und viel, so öffentlich, wie sonderlich. Auch ich pflege euch als Vorbild aufzustellen den Gläubigen „in Macedonien und Achaja,“ und es mag wohl mitunter geschehn, daß hierin die Liebe selbst über das Maaß mich fortreißt. Gewahrt man doch auch aus der Ferne die Wolken und Wölklein nicht mehr so genau, die hienieden auch die holdeste Erscheinung noch trüben und zur Vollkommenheit nicht gedeihen lassen. Was je und dann auch hier wohl mir verwöhntem Kinde das reine Licht meines Glückes mit einem leisen Schatten durchweben wollte, wie ist das so spurlos aus meiner Erinnerung entschwunden! Theure Gemeine, wie sollte ich dich nicht lieben, der ich für mein eignes innres Leben so unendlich viel verdanke?! – Ihr Brüder seid mir ja viel, viel mehr gewesen, als ich euch. Ward ich auch nicht durch eure Vermittlung zum Herrn geleitet, so habt ihr mich doch genährt, gezogen und in unaussprechlicher Liebe mich gezüchtigt. Ich, theure Gemeine, war nicht dein Vater; aber du warst in mehr denn einer Hinsicht meine Mutter. Dank, ewig Dank dir! – Ueberdies warst du es insonderheit, die mich predigen lehrte. Was wir, die wir aus dem Wupperthale nach Berlin berufen wurden, in unsern Predigten Gutes dorthin mitbringen durften, war wenigstens seiner menschlichen Seite nach, Erde, die Naeman von euerm Kirchengrunde mit hinüber nahm. So mag ich wohl auch in diesem Sinne von euch Aehnliches sagen, wie Paulus in unserm Texte von seinen Thessalonichern: „Von euch ist auserschollen das Wort des Herrn nicht allein in Macedonia und Achaja, sondern auch noch nach andern Seiten hin.“ Dazu seid ihr, die ihr einst unter dem Klange meines Wortes vom Todesschlaf erwachtet, oder an meiner Hand in’s Heiligthum des Evangeliums tiefer eindrangt, fort und fort die Krone, in der ich zum Preise Gottes mein Haupt erhebe; die Lobebriefe seid ihr, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem heiligen Geist, vermittelst deren ich mich, wo man mir etwas will, als einen berufenen und verordneten Diener des lebendigen Gottes zu legitimiren pflege. Sagt doch, wie sollte ich euch nicht in meinem Herzen tragen? Ich liebe euch aus tausend, tausend starken und entzückend süßen Gründen!

Doch das Fest der Liebe ist da noch nicht geboren, wo man sich nur einander erklärt, daß man sich lieb habe. Erst die Bethätigung der Liebe macht das Fest. Die schönste und reinste Bethätigung derselben aber besteht darin, daß man traulich Einer dem Andern bis in die geheimsten Falten hinab sein Herz erschließt, und das Verborgenste seiner Gemüthswelt rückhaltlos vor einander offenlegt. So hat ja Gott selbst seine Liebe vor Allem darin uns kund gethan, daß er das Innerste seines großen, gnadenreichen Herzens uns entschleierte, und, was kein Auge jemals sah, kein Ohr vernahm, und in keines Menschen Herz gekommen war, uns traulich offenbarte; - und der Herr Jesus sagt zu seinen Jüngern, daß sie daran merken könnten, daß er zu ihnen stehe als ein Freund zu lieben Freunden, daß er sie in die tiefsten Geheimnisse seines Denkens und Vornehmens einzuweihen nicht Anstand nehme. „Ein Knecht,“ spricht er Joh. 15,15, „weiß nicht, was sein Herr thut. Euch aber habe ich Freunde genannt: denn Alles, was ich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kund gethan!“ –

Wohlan Freunde, ich meines Theils fange an und schütte sonder Bedenken und mit Freuden mein Herz euch aus. Was zunächst meine gegenwärtige amtliche Stellung betrifft, so muß ich euch vor allen Dingen sagen, daß, wie schmerzlich ich euch auch tagtäglich vermisse, der Meinung Etlicher unter euch, als gereue mich’s, nach Berlin gegangen zu sein, gar nichts zu Grunde liegt. Ihr könnt doch auch wohl denken, daß ich euch, ihr Theuren, nimmermehr würde verlassen haben, wenn ich mir nicht einer bestimmten und ausdrücklichen Weisung meines Herrn bewußt gewesen wäre. Ja, ich werde sogar in der Ueberzeugung, einem göttlichen Rufe gefolgt zu sein, von Tage zu Tage mehr bestärkt, und würde, wenn dem nicht so wäre, wohl gesenkteren Hauptes einhergehen, als es zu Zeiten ohnehin schon wohl der Fall ist. – Es ist wahr, gar Vieles, dessen ich mich bei euch in so reicher Fülle erfreuen durfte, entbehre ich jetzt. Wie vermisse ich in meinem gegenwärtigen Wirkungskreise euer lieblich geordnetes Gemeindeleben: ich wohne in einem kirchlichen Chaos, ohne Organismus, ohne Gliederung; - wie die engere und trautere Brudergemeinschaft, in welcher ihr so selig euch bewegt: das Verhältniß zwischen Hirt und Heerde ist, wo ich gegenwärtig weile, ein fremdes, laxes und überaus loses; - wie die rege werkthätige Theilnahme, die ihr allen Angelegenheiten eures gemeindlichen widmet: in Berlin wissen Tausende kaum, daß sie einer Gemeine angehören, geschweige, daß ihre Prediger sie näher angeh’n, als jeder andere Staatsbeamte. – Zudem fehlt’s dort im Allgemeinen ganz an einem schon gelegten Grunde christlicher Erkenntniß, so daß ich meist auf die nackte Erde bauen muß, ja auf den kahlen Sand. Die religiöse Unwissenheit in der „Metropole der Wissenschaft und Intelligenz“ übersteigt in Tausenden alle Vorstellung; und wenn Einer Berlin eine „Heidenstadt“ genannt, so sagte er im Blick auf einen großen Theil seiner Bevölkerung nur die Wahrheit. Mit der Unwissenheit hält die Ungelehrigkeit auf dem religiösen Gebiete gleichen Schritt. Die Unkirchlichkeit Berlins, von dessen mehr als 400,000 Einwohnern nicht viel mehr als 20,000 die Kirche besuchen, ist fast zum Sprichwort geworden. Unter den Kirchlichen selbst sind wieder nur wenige, denen eine rechte Lust an Gottes Wort und ein Interesse für dessen tieferes Verständniß innewohnt. Dieses Interesse, bei euch so allgemein, muß erst von seinen ersten Elementen an geweckt werden. – Ihr seht, Brüder, wie auf einen Missionsposten sind wir dort hin verschlagen; aber ist’s ein Unglück, auf einen solchen gewiesen sein? Müßt ihr’s nicht gut heißen, wenn den Berlinern das Wort vom Kreuze in schärfern Umrissen vor Ohr und Auge tritt? Und wenn ihnen, den sehr undogmatischen Hauptstädtern, Etwas von eurer Elberfelder Dogmatik zugetragen wird, wird es nicht heilsam sein? – Und zum Preise Gottes darf ich euch versichern, daß unsre Arbeit in dem Herrn auch nicht ganz vergeblich sich erweis’t. Ein liebes, lebendiges und inniges Gemeinlein umgiebt mich bereits als ein köstliches Angeld auf weitere Erndten. Unter den Beigehörigen desselben kenne ich Leute, von euch, ihr Elberfelder und Barmer Brüder und Schwestern, in nichts, als etwa in der empfindsamern Betonung ihrer geistlichen Sprache unterschieden; im Uebrigen aber eben so vertraut mit dem Kern des Evangeliums, als ihr, und gleich euch in der freien Gnade wurzelnd, und reich an herzlicher und werkthätiger Liebe. – Und Viele sind im Erwachen begriffen, ja erscheinen uns schon im Glanze einer geistlichen Morgenröthe. Freilich ist im Allgemeinen euer Gemüthsboden ein tieferer und wurzelhaltigerer, als derjenige meiner jetzigen, geistig sehr zerstreuten Pflegekinder. - Marschland ist der eurige, während der ihrige vielfach, wie der Boden ihrer Natur, nur als Sand, wo nicht als Flugsand sich erfinden läßt. Ihr wißt jedoch, welche wunderschönen Gärten schon die menschliche Kunst dort aus dem an sich so überaus sterilen Boden hervorzuzaubern wußte; wie, sollte der große Gärtner da droben an dem geistlichen Sande für Seine Schöpfungen ein Hinderniß finden können? – Genug, es gereut mich nicht, dem Rufe in die Hauptstadt gefolgt zu sein, sondern bin dort getrosten Muths, und mit ziemlich froher Hoffnung. Ich könnte selbst manchen besondern Segen namhaft machen, durch den mich der Herr ein wenig ermuntert hat; aber was man in der Residenz am ersten und am gründlichsten zu lernen pflegt, ist – die Discretion.

Was meine Predigtweise betrifft, so werde ich je länger je mehr in dem Grundsatze bestärkt, daß das Wort allein es thue, ich meine: das reine, gesund und im Sinne des heiligen Autors ausgelegte Gotteswort; das Wort, ohne Zuthat willkührlicher bildernder Deutelei, oder geistreich spielender, dem Sinne des Geistes aber fremder, Anwendung. Ich fühle immer lebhafter das Bedürfniß, überall sagen zu können: “Hier steht’s geschrieben;“ und finde, daß in dem unwiderleglich ermittelten und vorgekehrten reinen Gedankeninhalt des biblischen Zeugnisses unsre Macht, und die eigentliche Wucht unsrer Rede liegt. Ich habe weiland auch wohl, - und in euern Versammlungen durfte ich’s mitunter, - mit der bunten Scheide des göttlichen Wortes gefochten, und in allegorisirendem Geistesspiel die himmlischen Wahrheiten euch nahe gebracht; - jetzt liegt mir’s immer dringender an, nur zu fechten mit dem nackten, blanken Schwert; und ich mache die Erfahrung, daß vor einer tüchtigen, starken und treuen Exegese auch der Teufel selbst seinen Respekt nicht ganz zu verbergen vermag.

Was endlich mein innres Leben angeht, so ist freilich hier wohl kaum der Ort, um auch davon zu euch zu reden. Aber mir ist so traulich zu Sinne in eurer Mitte, daß ich wenigstens das Eine euch bezeugen muß, daß meine Erfahrungen mehr und mehr denjenigen Johannis des Täufers sich verähnlichen: Ich nehme ab, und Christus wächst. – Je länger je weniger kann ich Sein bei irgend einem Dinge mehr entbehren. Ich brauche Ihn bei Allem und zu Allem. – Auf Seine Schultern mich lehnen mit der Sulamithin, ist meine Kraft; von Ihm getragen werden, meine ganze Stärke. – Ja, mein Blutbräutigam, Du bist auf gutem Wege, daß Du mein Eins und Alles werdest. – O, werde es! – Die Welt mit ihrer armseligen Herrlichkeit, wie mit ihrem Haß, ficht mich immer weniger an. Menschenbeifall und Menschengunst, wie sind sie in meiner Anschauung im Curs gefallen! – So wahr der Herr lebt, mit größerer innerer Wahrheit, denn je, bete ich dem Assaph nach: „Wenn ich nur Dich habe, frage ich nichts nach Himmel und nach Erden.“ – O wie Vieles, das einst mich lockte, hat, nachdem ich ihm tiefer auf den Grund geblickt, seinen Zauber für mich verloren, und steht jetzt in der ganzen Nacktheit seiner Erbärmlichkeit und Nichtigkeit vor mir. – Was aber am nacktesten vor mir steht, das ist mein eigenes Ich. Die Gnade ist meine Speise Tag und Nacht. Die Gnade mein einiger Reichthum und mein ganzer Ruhm. - “Laß dir an meiner Gnade genügen!“ Ja, Herr, von Herzen gern; hilf Du nur, daß ich ihrer allaugenblicklich tief innig gewiß sei! - -

3.

Brüder, Schwestern, ich reiche euch meine Rechte, und unser Fest schließe in seinem dritten Stadium als Erneuerungsfest unsres Herzensbundes. Nehmet zuerst meine Versicherung entgegen, daß ich bis zu meinem letzten Atemzuge nicht aufhören werde, euch, so viel Gott Gnade giebt, auf betendem Herzen zu tragen. Ich werde, wo man euch etwas will, nach wie vor, wie ich bisher gethan, in den Riß für euch treten, und die große Gnade rühmen, deren hervorragender Leuchter ihr seid bis diese Stunde. Auf euch werde ich weisen als auf einen hellen Lichtpunkt in trüber schwerbewölkter Zeit; auf euch, als auf einen unerschütterlichen Pfeiler in der Kirche unsres Gottes; auf euch, als auf die kampfgerüstete Vorhut im großen, letzten Streite gegen die verneinenden Abgrundsmächte; auf euch, als auf ein starkes Bollwerk des Protestantismus gegen die Anläufe Roms; auf euch, als auf einen Sach- und Thatbeweis vom Gegentheil, wo man kleinmüthig dem Zweifel Raum geben will, ob in dieser Zeit des allgemeinen Abfalls noch irgend wo eine christliche Gemeine anzutreffen sei, und auf euch, wo man fragt, ob es im Reiche der Möglichkeiten liege, daß eine solche Gemeine im Wege eigener freier Wahl in gläubigen Pastoren, Lehrern, Presbytern und Repräsentanten zu einer Behausung Gottes im Geist und seiner unverkümmerten Wahrheit sich organisire.

Zu gleicher Vergeltung aber behaltet auch mich in eurer Liebe, und laßt mir den Trost, daß ich, obwohl nicht mehr in amtlicher Verbindung mit euch, dennoch der Eure bleibe, und in den Kämpfen der Zeit euch nach wie vor im Rücken habe. Vor Allem aber gönnt mir eure Fürbitte. Es ist ja nur zu wahr, daß Prediger und Hirten, wie sie bisher an eurer Spitze gingen, den Anforderungen der Zeit nicht mehr entsprechen. Die Zeit bedarf wieder Propheten, gegürtet mit gründlicher Verachtung der Welt und ihrer Güter, und jeden Augenblick entschlossen und bereit, wenn es sein muß, um des Himmelreichs willen auch sich steinigen und kreuzigen zu lassen. Männer fordert sie, denen an der Ehre der Menschen nichts, an der Ehre bei Gott dagegen Alles gelegen ist, und zu denen der Herr gesprochen: „Ich will dich zur festen Stadt, zur eisernen Säule und zur ehernen Mauer machen wider das ganze Land: wider die Könige Juda, wider ihre Fürsten, wider ihre Priester, und wider das Volk im Lande;“ – Männer, die in der Wahrheit ihre Braut, im Freimuth ihr Ritterthum, in der Dornenkrone der um Christi willen erduldeten Verfolgung ihren Ehrenkranz, und in den Schmachtiteln der Welt ihre Ordenszeichen erblicken, und hoch über ihrem Jahrhundert und dessen Anschauungen, Täuschungen, Bestrebungen und Gelüsten stehend, wieder als Feuerzeichen Jehova’s von den Mauern Zions in die gottvergessene Welt herunterleuchten.

Daß der Herr solche Leute aus uns mache, das, Freunde, erflehet uns; und erflehet es insonderheit auch mir, dessen vielleicht noch Kämpfe ganz eigenthümlicher Gattung warten: Kämpfe wider ein gleißendes Scheinchristenthum, Kämpfe wider eine todte, herzlose Orthodoxie, Kämpfe wider eine Glaubenstheologie ohne Liebe, und wider eine Liebestheologie ohne Glauben, und Kämpfe wider Heuchelfrömmigkeit und Heuchelbußen. – Vielleicht auch schwerere Kämpfe noch! Den Kampf wider die ungläubige und feindselige Welt scheue ich nicht. Er hat sein Erfrischendes und Wohlthuendes für die Streiter unter Christi Fahne. Aber Schmerzlicheres giebt es nichts, als gegen eigene Brüder das Schwert des Worts entblößen müssen. Und was bleibt uns doch übrig, als dies, wenn man unter ihnen ein Bestreben sich kundgiebt, die evangelische Heilsordnung zu verkehren, einer äußern Kirche zuzueignen, was nach Gottes Wort lediglich den lebendigen Gliedern am Leibe Christi angehört, ein neues Priestermittlerthum aufzurichten, ja gewisse Lehrformeln oder Kirchenakte an die Stelle Jesu Christi selbst zu setzen. Ich sage nicht, daß dergleichen Verirrungen mich schon in nächster Nähe beängstigen und behelligen; aber möglich ist’s, daß sie in Bälde auch bis zu unsern Grenzen Feld und Raum gewinnen, und für solchen Fall erbittet mir Entschlossenheit zur Liebe, und Weisheit zum Muthe, und, - arbeitete sich der Wahn zu einem kurzen Interregnum durch, - zur Leidenswilligkeit und zur Geduld eine ungebrochene Beherztheit in der Hoffnung.

Ja, theure Brüder, ihr werdet es! – Das Bündniß unsrer Herzen ist erneuert. Ihr schlugt in meine Rechte freudig ein. Ich lese es euch in Blick und Mienen, daß ihr’s thatet. – So befehle ich euch denn Gott und dem Worte seiner Gnade, der da mächtig ist zu erbauen, und euch zu geben das Erbe unter Allen, die geheiliget sind. Er fördere euer Werk im Glauben, und eure Arbeit in der Liebe. Er richte euch zu „wie ein geschmücktes Roß zum Streit,“ und setze euch je länger je mehr Solchen die nahe, und Solchen, die ferne sind, zum Segen. – Und nun, - lebet wohl! – Ob wir uns noch einmal wieder sehen werden? – Es kann sein, es kann auch nicht sein. In dieser vollen Zahl, in der ich euch eben Haupt an Haupt vor mir erblicke, sehe ich euch hienieden schwerlich wieder. – Nun, wenn dann hienieden nicht, dann – auf Wiedersehen dort! – O, Brüder, „warten“ wir alle im Glauben „des Sohnes Gottes vom Himmel, welchen Er auferwecket hat von den Todten, Jesum, der uns errettet von dem zukünftigen Zorn!“ - Der Gnade uns, und verleihe, daß Keiner einst und Keine von uns Allen fehle, wenn wir, aller Mühsal der Welt auf ewig entrückt, zum Getön der Engelharfen dort dem erwürgten Lamme das große und ewige Halleluja singen werden. Amen.

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