Krummacher, Friedrich Wilhelm - Kirchenvisitation - Union kirchliches Amt.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Kirchenvisitation - Union kirchliches Amt.

Ansprache an die christlichen Freunde in Görlitz im Geist gehalten den 5. Juli 1854

Theure Freunde! Euch meine ich, die ich einst persönlich kennen lernte, und mit denen ich mich durch das heilige Band der Liebe Christi verbunden weiß. Ich bemerke dies ausdrücklich, damit es nicht den Schein gewinne, als maaße ich mir an, die Einwohnerschaft der Stadt Görlitz haranguiren zu wollen. Wüßte ich doch nicht, woher ich hiezu auch nur einen Schatten von Berechtigung entnehmen sollte. Hinsichtlich meiner Berechtigung hingegen, an euch ein vertraulich Wort zu richten, habe ich keine Sorge. Unsere Befreundung gewährt sie mir; und Briefe, die aus eurer Mitte an mich ergangen, dürften sogar eine Ansprache, wie ich sie euch zugedacht habe, von mir fordern.

Ich versetze mich denn im Geiste in eine eurer schönen Kirchen zurück. Die kleinste derselben wird für diesmal uns genügen; denn euer Häuflein ist nicht all zu zahlreich. Wer aber auch sonst noch Lust tragen sollte, unsrer brüderlichen Vereinigung beizuwohnen, der sei willkommen! Wir haben keine Geheimnisse. Unser Bund ist nach allen Seiten hin ein offner.

An die Spitze meiner Ansprache stelle ich den apostolischen Ausspruch 1. Cor. 15, 58.: Darum, meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich, und nehmet Immer zu in dem Werke des Herrn, sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.

Warum ich gerade mit diesem Zuruf euch begrüße, wird sich aus dem Verfolge unsrer Erörterungen von selbst ergeben. Den wesentlichsten Inhalt der letzteren bezeichnen die drei Worte: Kirchenvisitation, Union, kirchliches Amt.

Gefalle es dem Herrn, zu unsern Betrachtungen sich zu bekennen und sie mit seinem Segen zu begleiten!

In diesen Tagen, meine Freunde, wird es jährig, daß ich aus Anlaß der General-Kirchenvisitation in eurer Mitte weilte. Meine Stellung war, wie ihr euch erinnert, eine eigenthümliche. In Gemäßkeit des mir gewordenen höheren Auftrags hatte ich die Visitation nur predigend zu begleiten. Von Hause aus reformirt, und damals Pastor der förmlich und statutarisch unirten Dreifaltigkeitsgemeine zu Berlin, beschied ich mich selbst, daß mir eine Theilnahme an dem eigentlichen Visitationsgeschäft in einer lutherischen Kirchenprovinz, wie eure Lausitz ist, nicht wohl zustehe. Freilich stellte sich's später ziemlich deutlich heraus, daß die Visitations-Commission es den Gemeinen zu Stadt wie zu Land in konfessioneller Abgeschlossenheit weit zuvor that, und daß namentlich die Besorgniß, es möchte die Zuziehung eines nicht lutherischen Geistlichen zu dem Visitationsgeschäft selbst dann schon, wenn dessen Wirksamkeit sich auch etwa nur auf die Revision des Schulwesens beschränkte, Anstoß erregen, und Widerspruch finden, im Allgemeinen eine unbegründete war. Uebrigens würde ich mich aufrichtig gefreut haben, wenn mir in eurer Lausitz in der That des lebendig confessionellen Bewußtseins so viel begegnet wäre, als die Commission in ihr voraus zu setzen schien. Doch geschieht es in unsern Tagen nur zu häufig, daß aufgeregte Geistliche, zu denen ich übrigens die besonnenen Männer der Görlitzer Commission zu zählen weit entfernt bin, in visionären Anschauungen ihren subjektiven Standpunkt auf die Kirche übertragen.

Unter euch, Geliebte, kam das Werk der Kirchenvisitation zum ersten Male selbst auf eine Probe. Zum ersten Mal in eine größre Stadt hinein getragen, hatte dasselbe sich allen Widersprüchen und kirchlichen Antipathien der modernen Bildung gegenüber zu behaupten. Mit dem amtlichen Vollmachtsbriefe allein reichte die Visitation hier nicht aus. Um Anerkennung zu finden, mußte sie auch nach der Seite der Intelligenz hin, ja in jeder Art geistiger Ueberlegenheit sich legitimiren. Irgend eine Unfähigkeit, die sie blicken ließ, hätte wenigstens bei einem großen Theil eurer Mitbürger ihren Einfluß zerstört. Die Macht mit der sie auftrat, durfte nicht blos in christlicher Salbung, sie mußte zugleich in allgemeiner wissenschaftlicher Durchbildung sich entfalten. Ob die Visitation diese Probe bei euch bestanden habe, wage ich nicht zu entscheiden; muß aber glauben, daß es theilweise allerdings geschehen ist. Bekannten doch nicht Wenige unter euch, daß die Autorität derselben in ihren Augen mehr und mehr gewachsen sei; und ist es doch Manchem, der sich fest vorgenommen hatte, der Visitation keinerlei positive Einwirkung auf sich zu gestatten, schwer geworden, „wider den Stachel zu locken.“

Uebrigens hat die in eurer Stadt vollzogene Visitation für dieses ganze kirchliche Werk manche maaßgebende Resultate geliefert. Soll es derselben gelingen, den der Kirche entfremdeten Zeitgeist nachhaltig überwinden zu helfen, so bleibt das erste Erforderniß allerdings, daß die Beauftragten Männer seien, in deren ganzer persönlichen Erscheinung die Wahrheit wie die Herrlichkeit des Christenthums einen lebenskräftigen Ausdruck fand. Wer sie sieht, dem muß wenigstens das schon zur Gewißheit werden, daß sie den Frieden Gottes, den sie verkündigen, selbst in ihren Herzen schmecken, und wer sie hört, dem muß sich alsobald unwiderstehlich mindestens die Ueberzeugung aufdrängen, daß sie nicht etwa nur glauben, weil sie reden, sondern daß sie reden, weil sie glauben. Paulus spricht einmal von „Empfehlungsbriefen“ für das Evangelium, die „geschrieben seien nicht mit Tinte, sondern mit dem Geiste des lebendigen Gottes; nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln der Herzen.“ Solche Briefe, „gelesen und erkannt von allen Menschen, und Jedermann als Briefe Christi sich offenbarend,“ entsende das Kirchenregiment in die Gemeinen. Nicht selten werden dieselben schon ohne alle anderweitigen Zuthaten, ja selbst bei mangelnder Wissenschaftlicher Rüstung und dialektischer Tüchtigkeit durchgreifende Wirkung thun, die Vorurtheile gegen das Wort vom Kreuz entkräften, und die Gemüther dem Evangelium geneigter stimmen, ja für dasselbe gewinnen. Wenn ich aber sage, nicht selten werde das geschehen, so behaupte ich damit nicht, daß ein solcher Erfolg immer und überall zu erwarten stehe. Es hat sich in neuester Zeit eine gewisse Verstandeskritik so zugespitzt, und von der Empfindung zu emancipiren gewußt, daß sie auch durch die mächtigsten Eindrücke, welche ein persönliches Durchdrungensein von der christlichen Wahrheit hervorzurufen pflegt, so wie durch die entschiedenste Wahrnehmung der beseligenden und heiligenden Kraft, die dem Glauben an Christo beiwohnt, sich nicht überwinden läßt. Ich habe in euerer Mitte mehremals die Aeußerung vernommen: „ Der Mann oder jener, meint es wohl treu und redlich, und ist in der That begeistert für das, was er verkündet. Man fühlt es ihm an, daß er davon erfüllt, und in seiner Ueberzeugung auch wahrhaft glücklich ist. Hätte nur Grund, was er predigt und glaubt! Der liebenswürdige Schwärmer scheint aber mit den Ergebnissen der neuesten wissenschaftlichen Forschungen nicht vertraut zu sein, noch zu wissen, daß vor denselben seine Bibel und seine Dogmatik längst den Rückzug angetreten haben!“ Ein Rationalismus, unendlich verwüstender und böser, als der unter dem Namen des „vulgären“ bekannte, ist zum Gemeingut des bei weitem größeren Theils unserer sogenannten gebildeten Stände geworden. Irre geleitet durch die auch den Laien in manichfaltigen populären Formen zugängig gemachten Ergebnisse einer spekulativen Philosophie, und namentlich durch die marktschreierisch ausposaunten neuesten, wie man vorgiebt, bibelstürzenden Entdeckungen der Naturwissenschaften, haben sie mehr oder minder entschieden die Idee eines persönlichen Gottes gegen pantheistische Anschauungen vertauscht, und sehen auf das ganze Christenthum vornehm als auf ein Gewebe von Einbildungen, Träumen und Phantasmen herab, das allenfalls dem Kindesalter der Menschheit, aber auch nur diesem, geeignet und wohl angestanden habe. Diese Art Leute will nun allerdings auch noch mit anderen Waffen befehdet sein, als mit denen der Bekenntnißfreudigkeit und der Herzenssalbung. Hier gilt es, nicht allein kund werden zu lassen, daß man die neuesten Einwürfe der Kritik, Philosophie und Naturkunde gegen das Christenthum ebenfalls kenne und auch wissenschaftlich zu entkräften wisse, sondern zugleich die Sonde einer allseitigen, tiefgründenden Kenntniß des Menschenherzens in Bewegung zu setzen, und den verblendeten Leuten ihr innerstes Wesen zu entschleiern , ihre verborgensten Bedürfnisse aufzudecken, die überhörte Stimme ihres Gewissens wieder an ihr Ohr zu bringen, und die Uebereinstimmung und Congruenz ihres tiefsten und ursprünglichsten Bewußtseins mit dem Inhalte des Christenthums ihnen nachzuweisen. So sollte es denn in den Visitations-Commissionen nimmer wenigstens an einem Apologeten fehlen, der allezeit schlagfertig, und jedem Einwand, welcher, von was für einer Seite immer, gegen die Theologie der Bibel erhoben würde, gewachsen wäre. Der Apostel Petrus fordert in seinem ersten Briefe Kap. 3, !5. von sämmtlichen Christen daß sie „allezeit bereit (gerüstet) seien zur Verantwortung Jedermann, der von ihnen Grund fordere der Hoffnung, die in ihnen sei.“ Die Tüchtigkeit indeß, die Petrus allerdings bei keinem der Gläubigen vermissen will, ist als heilige Wissenschaft und Kunst nicht Jedermanns Ding, sondern in dieser Ausbildung und Vollendung immer nur das Eigenthum Einzelner. Die kirchliche Obrigkeit wird aber einem dringenden Zeitbedürfniß Rechnung tragen, wenn sie sich jene Einzelnen aus der Gesammtheit ihres Clerus herausersieht und in Reserve hält, um deren immer einen ihren Untersuchungskommissionen namentlich für die Städte beigesellen zu können.

Wie sich's schon ereignet hat, daß die Kirchenvisitationen dazu beigetragen haben, die von ihnen begrüßten Geistlichen z. B. in homiletischer Beziehung statt sie anzufeuern und zu fördern, nur in eine bedenkliche Sicherheit zu wiegen, in der die predigenden Commissarien in ihnen das Bewußtsein weckten: „Wir predigen besser, als ihr; und ihr wollt uns mustern und Vorbild geben?“ - so ist es viel öfter noch geschehen, daß in ähnlicher Weise durch sie in den Schullehrern ras didaktische und pädagogische Selbstgefühl über das Maß des Heilsamen hinaus gesteigert wurde. Es sollte darum unter den visitirenden Pastoren niemals auch an einem ausgezeichneten Katecheten mangeln. Eine durch einen der Geistlichen in ungeschickter und mangelhafte? Weise ausgeführte Katechese richtet mehr Schaden an in der Lehrerwelt, als alle vorgängigen und nachfolgenden Anweisungen und Paränesen wieder gut zu machen vermögen. Darum besser geschwiegen, und dem katechisirenden Lehrer nur zugehorcht, als in Schwachheit selbst katechisirend einen Wechsel der Rollen herbeigeführt, und die Commission dem Gerichte des Lehrers preisgegeben. Doch mit dem Schweigen ist's auch nicht gethan. Darum überall im Lande die tüchtigsten Pastoralen Kräfte aufgespäht und sie nach Bedürfniß in's Visitationsfeld beordert.

Ist aber die Commission, wie sie sein soll: eine mit Christi Geist getaufte, und in hervorragender Weise durchgebildete und amtlich begabte, so kann, zumal wenn ihre Glieder nicht ein Inquisitionsbewußtsein, sondern ein brüderliches Herz mit sich bringen, über den Segen dieser kirchlichen Arbeit kein Streit mehr sein. Waret ihr doch selbst Zeugen ihrer mannigfaltigen heilsamen Einwirkungen, wie Vieles auch noch das Visitationswerk unter euch zu wünschen übrig ließ. Ihr, die ihr schon im Glauben standet, fühltet euch neu gefrischt, belebt und gestärkt, und zugleich mächtig angeregt und ermuntert, der Mahnung des Apostels in unser Textesspruche gemäß „fest und unbeweglich zu stehen“ bei den Fahnen Christi und „immer zuzunehmen in dem Werke des Herrn!“ Wie wohl that es euch, aus so vieler Zeugen Munde ein kräftiges Echo eurer eigenen heiligsten Ueberzeugung zu vernehmen, und an der Uebereinstimmung eurer geistigen Lebenserfahrungen mit denen eurer Brüder in Christo eurer Ebenbürtigkeit mit Diesen, und der Aechtheit eures Christenstandes überhaupt euch tiefer bewußt zu werden. Sind nicht Manche unter euch seit jenen Tagen entschiedener geworden im Bekenntniß, und entschlossener, mit Paulus „die Schmach Christi für höheren Reichthum zu achten, denn die Schätze Egyptenlandes?“ Und hat Dieser und Jener nicht seitdem noch manche andere Ketten, außer denen der Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, muthig zerrissen und von sich geschleudert, und wandelt des Herrn Weg jetzt freier und festeren Schrittes, denn je zuvor? Ja, erlebtet ihr es nicht, daß selbst Solche, die bisher mit unverholenem Mißtrauen, wo nicht gar Haß, den Bekennern des Namens Jesu gegenüber standen, wenigstens versöhnlicheren Stimmungen bei sich Raum gaben, und daß Etliche derselben sogar um einen bedeutenden Schritt einer aufrichtigen Befreundung mit dem Christenthume näher kamen? Sind nicht Hunderte in die Alternative hinein gedrängt worden, entweder die ganze Bibel für ein Lügenbuch erklären, und vor einer fast zweitausendjährigen wunderreichen geschichtlichen Vergangenheit die Augen schließen, oder dem Glauben an die Gottheit Christi ihre Herzen öffnen, und zugleich anerkennen zu müssen, daß nur in Ihm das Heil sei? Tragen nicht diejenigen unter diesen Hunderten, die dennoch sich zu bekehren Anstand nahmen, seitdem in dem Bewußtsein, daß sie sich eben nicht bekehren wollten, einen Stachel in ihrem Busen mit herum, und steht nicht zu hoffen, daß das einmal in ihnen wachgerufene Gewissen sie endlich doch noch dem göttlichen Friedensfürsten in die Arme führen werde? Ich behaupte nicht, daß die Macht des Unglaubens unter euch überall gebrochen worden sei; aber gewiß wurden in nicht Wenigen dem christusleugnerischen Wahne Wunden geschlagen, an denen derselbe allmälig sich verbluten wird. Nun urtheilt, ob dieses Alles nicht ein großer Segen heißen dürfe? Und von den gesegnetsten Wirkungen der Kirchenvisitation darf ich nicht einmal die Schleier lüften. Ein zarter Takt untersagt mir dies. Ihr aber freuet euch derselben mit großer Freude, und lobet den Herrn dafür in der Stille.

Man hat die Kirchenvisitationen - freilich weder sinnreich noch geziemend, - einem Treibjagen verglichen, das, wie es manches Edelwild aus der Verborgenheit seiner grünen Verstecke hervorhole und zu seinen wohlverdienten Ehren bringe, so auch die Verstörer im Walde in die Netze treibe und für die Zukunft unschädlich mache. - Schon etwas passender, weil schriftgemäßer, hat man sie einen geistigen Fischzug genannt, bei dem das Netz die innersten Tiefen des Kirchenstroms durchstreife, und „allerlei Gattung fahe“, die dann zu Lande geführt, gesichtet und gesondert werde. In diesen Bildern herrscht der Begriff eines inquisitorischen Aktes vor. Die Visitation will aber mit Nichten sein, als was einmal ein Commissionsredner sie zeichnen zu müssen glaubte: „ein Vorspiel des großen Gerichts am jüngsten Tage.“ Vielmehr findet sie, wenn einmal verglichen werden soll, ihr treffendstes Gleichniß in der Frühlingsarbeit eines Gärtners, der zwischen seinen Bäumen und Stauden wandelnd der schwellenden Knospen sich freut, die Aeste von Moosansatz und Flechten säubert, die Taubennester aufsucht und zerstört, Auswüchse und wilde Triebe aus den Bäumen wegmerzt, kranke Stämme verbindet, und sterbende, statt ihnen alsobald die Art an die Wurzel zu legen, noch einmal sorgsam umgräbt und düngt, ob sie sich wieder erholen möchten. Hat nun aber der Gärtner diese Generalarbeit des jungen Jahres vollbracht, so schließt er nicht etwa den Garten hinter sich zu, um erst zur Zeit der Erndte ihn wieder zu betreten; sondern besucht ihn alle Tage aufs neue, um die Pflege seiner Pflanzungen unermüdlich fortzusetzen. Leiber! geht nun aber dem Kirchengarten nach dem Visitationswerk diese fortgeführte Pflege in der Regel ab; und darum geschieht es, daß die Wirkung der Visitationen meist nur derjenigen eines Sprühregens in heißen Sommertagen all zu ähnlich sieht, der zwar eine augenblickliche Erfrischung in der Natur hervorbringt, aber nur zu bald wieder spurlos in's dürre Erdreich versickert. Unserer Kirche mangelt ein Amt, - man nenne es Aufseher-, Oberhirten-, Patriarchen-, Bischofs-Amt, oder wie man wolle, - welches, frei von der büreaukratischen Belastung unsrer jetzigen Superintendentur, und übersichtlicheren Sprengeln vorgesetzt, als sie der Leitung unserer Generalsuperintendenten, nicht selten zu deren Verzweiflung, überwiesen sind, seine ganze und ungetheilte Sorge der inneren Hebung und Belebung der Gemeinden zuzuwenden, und namentlich auch den Segen, den die Visitationen wirkten, festzuhalten und weiter zu entfalten hätte. Mit steigender Dringlichkeit macht sich das Bedürfnis) eines solchen Amtes geltend. Unsere Kirchenregierung, wie sie gegenwärtig besteht, ist immer noch eine zu äußerliche. Daß nur auch die Kirchenvisitationen mit der Zeit sich nicht veräußerlichen, und allmälig über die Schablone geschlagen werden! Und daß auch nicht journalistische Ostentation sie entweihe, und als eine Art kirchlichen Schau- und Bühnenspiels sie erscheinen lasse!

Als wir im verwichenen Jahre zu euch kamen, begegnete uns die ziemlich weit verbreitete Befürchtung, die Commission mochte in der Absicht erschienen sein, die in eurer Stadt bestehende Union wieder zu sprengen, und euer Kirchenthum konfessionell zu restauriren. Aber schon meine Sendung konnte euch zum Zeichen dienen, daß dem Kirchenregimente ein solcher Gedanke, zumal, wie er euch vorschwebte, durchaus ferne lag. Zur Vollziehung einer förmlichen Lehr-Einigung ist es bei euch nie gekommen. Euer Anschluß an die Union beschränkte sich lediglich auf die eurerseits abgegebene Erklärung, daß ihr die Unterschiede der beiden evangelischen Bekenntnisse nicht für so wesentlich erachtetet, um darin einen Grund zu finden, den Reformisten die sakramentliche Gemeinschaft mit euch, den Lutheranern, zu versagen. Wem aber fällt es ein, diesen euern Grundsatz euch anzufechten? Dem Kirchenregimente sicher zu allerletzt. Von eurem ursprünglichen Bekenntniß aber, der augsburgischen Confession, habt ihr euch niemals auch nur in sofern losgesagt, als ihr von demselben auf irgend einen sogenannten formulirten symbolischen Consensus übergetreten wäret; gewiß, weil ihr von der wohlbegründeten Anschauung ausgingt, dieser Consensus sei schon vorhanden, indem die Augustana, namentlich die Ausgabe vom Jahre 1540, den gemeinsamen Grund schon bilde, auf welchem die melanchthonisch gerichteten Reformisten Deutschlands von Anfang an mit euch zusammenständen. Haben die reformirten Familien, die seit Jahren euren Gemeinden sich einverleibt, diesen ihren Anschluß an euch etwa in der Voraussetzung vollzogen, sie träten in eine bekenntnißlose Kirche, so war dies ein großer Irrthum, worüber ihr sie aufzuklären habt. Eure Anhänglichkeit an die Union ist aber Zeuge, daß ihr darüber einverstanden seid, es gehöre die das Abendmahl betreffende dogmatische Bestimmung, durch welche das augsburgische Bekenntniß vom Jahre 1530 im zehnten Artikel von der später durch Melanchthon selbst revidirten, und gleich jener zu kirchlicher Autorität gelangten, Ausgabe von 1540 unterscheidet, lediglich der menschlichen Schule, nicht aber der biblischen Theologie an. Ihr braucht dies nur zu erklären, und die Reformisten, die sich ja den in der Verfassung und dem Kultus grade eurer Gemeinen sonderlich scharf ausgeprägten lutherischen Typus längst gefallen ließen, werden sich so wenig wieder von euch trennen wollen, daß sie sich, falls sie nicht im rationalistischen Abfall vom Evangelium 'stehen, nur noch inniger, weil auf kirchengeschichtlicher Grundlage, mit euch vereinigt fühlen werden. So erschiene denn bei euch die Union in gesunder, vollendeter, gottgewollter Gestalt, als eine auf kirchengeschichtlicher Basis ruhende, bekenntnißtreue, und in den lauteren Urgrund der Reformation wieder eingepflanzte. Oder will man etwa bei euch von kirchlichem Bekenntniß überhaupt nicht mehr, und die Pastoren lediglich auf die Heilige Schrift verpflichtet wissen? Fürwahr, in diesem Falle wüßte man bei euch nicht, was man thäte, und gäbe sich als Kirche auf, die Gemeinen aber der Lehrwillkühr der Prädikanten preis. Eine Kirche ohne ein die Schrifterklärung normirendes Bekenntniß wird binnen Kurzem der im 80. Psalm geschilderte, seines Zauns beraubte Weinberg sein, den „Alles berupft, was vorüber geht“, und der von „den wilden Säuen zerwühlt, und von den Thieren des Feldes abgefressen wird.“ Was sollte euch aber bestimmen können, den heiligen Zaun, der seit 300 Jahren euer Kirchenthum umfriedigt, hinweg zu reißen? Erweitern, um die Reformirten in eure Gemeinschaft aufzunehmen, könnt und dürft ihr ihn; denn an einer Stelle ist er, wie gesagt, elastisch, wie denn auch der Mann selbst, der einst das heilige Gehege der augsburgischen Confession im Namen des Herrn pflanzte, diese seine Elastizität selbst anerkannt und dargethan hat. Ein Protest aber gegen jenes Bekenntniß stände, von welcher Seite er immer kommen möchte, einem Proteste gegen den Kern des Evangeliums gleich, und gäbe das Signal zur Auflösung der Kirche.

Geliebte Brüder! Während unsrer Anwesenheit unter euch wurde öfter die Frage angeregt, über welche sich in neuester Zeit ein so ernster Kampf entsponnen hat, ob es sich gezieme und ohne Nachtheil für die kirchliche Wirksamkeit geschehen könne, daß ein Geistlicher dem Freimaurerorden angehöre. Ihr glaubtet dringende Veranlassung zu haben, diesen Gegenstand zur Sprache zu bringen, und so viel ich mich erinnere, waret ihr ziemlich einmüthig geneigt, auf mancherlei Erfahrungen gestützt, jene Frage zu verneinen. Ich meines Theils kenne den Freimaurerorden nach seinen letzten Tendenzen nicht, und maße mir darum auch kein Urtheil über denselben an. Erst vor Kurzem gab in einer namhaften Stadt unsres Vaterlandes bei einer festlichen Gelegenheit ein Superintendent die öffentliche Erklärung ab: „Bei uns erzeigen sich die Freimaurer sämmtlich als Feinde der Kirche und des Evangelium’s.“ Von einer andern Stadt dagegen, Bremen ist's, weiß ich, daß dort unter den Logenbrüdern die gläubigsten, kirchlichsten, und in jeder Beziehung vortrefflichsten Männer sich befinden. Es scheint der Bund somit nach der religiösen Seite hin eine gewisse Indifferenz zu behaupten, und ein Rahmen für allerlei Bilder zu sein. Ist er aber mir eine gesellschaftliche Vereinigung, deren Hauptzweck in wechselseitiger Hülfleistung und Erheiterung, und nebenher auch in Linderung fremder Noth besteht, was mag dann gegen ihn eingewandt werden? Nicht einmal das Eine, daß er dem christlichen Prinzip der „allgemeinen Liebe“ nicht entspreche. Denn auch diese gestattet laut 2. Petr. l, 7 neben sich eine „besondere“ oder „brüderliche Liebe“, nur daß freilich als Gegenstände der letzteren nur die „Kinder des Lichts“ zu denken sind. Was aber dennoch den Geistlichen entschieden abhalten sollte, den Freimaurereid zu leisten, sind folgende drei Erwägungen, die euch, lieben Brüder, nicht eben fremd und neu erscheinen werden.

Zuvörderst ist es mit dem Wesen des evangelischen Hirtenamtes nicht wohl verträglich, daß der Pastor Brüder und Genossen habe, mit denen er sich näher verbunden wisse, als mit den lebendigen Gliedern der Kirche Christi überhaupt und seiner Gemeinde insbesondere. Nach dem Vorbilde seines Herrn und Meisters, der nach dem fragenden Ausruf: „Wer ist meine Mutter? Wer sind meine Brüder?“ unter Hindeutung auf seine Jünger das bekannte Wort sprach: „Siehe da, das ist meine Mutter, das sind meine Brüder: denn wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, derselbe ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter“, soll auch er ein heiligeres und engeres Band nicht kennen, als das mit den Nachfolgern des Lammes ihn verknüpft. Nimmermehr werden diese ihm ein volles Vertrauen schenken können, so lange sie sich sagen müssen, daß er einer noch viel engeren Verbrüderung angehöre, als diejenige, in der er mit ihnen stehe. Ja, wenn sie erwägen, daß jene Verbrüderung principiell nicht einmal auf dem Grunde des Offenbarungsglaubens und des Herzensverkehrs mit Christo ruhe, muß ihnen dann nicht die Versuchung nahe treten, an der Aechtheit seiner christlichen Gesinnung überhaupt irre zu werden, indem er ihnen als ein Mann erscheint, dem das Geheimniß der „Gemeinschaft der Heiligen“ fremd und verschlossen blieb? Sie werden sagen, und nicht mit Unrecht: „Ein christlicher Seelenhirte muß ganz seiner Heerde angehören. Der rechte Freimaurerorden ist der große, göttliche Bruderbund der Gläubigen. Mit dem baue der Pastor den Tempel des Herrn, lerne und lehre er Weisheit, übe er Liebe und sei er seine Feste!“

Eine zweite Erwägung, welche die Theilnahme des Geistlichen am Maurerwesen wenigstens höchst bedenklich erscheinen läßt, ist folgende. Zu den wesentlichsten Bedingungen einer erfolgreichen Pastoralen Wirksamkeit gehört es, daß dem Pastor überall in der Gemeine das Bewußtsein begegne, er sei ein durchaus aufrichtiger, grader und lauterer Mann, der seinen Kirchkindern ohne irgend einen Rückhalt sein theuerstes, höchstes und heiligstes Besitzthum mittheile. Die Gemeine sieht das zunächst zu den Aposteln gesprochene Herrnwort: „Was euch in's Ohr gesagt wird, das prediget von den Dächern“ als maaßgebend für alle evangelischen Prediger an, und verlangt von diesen als von „treuen Haushaltern über die Mysterien Gottes“, daß sie auf dem Gebiete der höheren Wahrheit kein Geheimniß haben vor den ihrer geistlichen Pflege überwiesenen Seelen, sondern Angesichts derselben jeden Augenblick mit Paulus bezeugen dürfen: „Wir haben euch nichts verhalten, daß wir euch nicht verkündigt hätten den ganzen Rath Gottes!“ Nun aber hat ein freimaurerischer Geistlicher in der That Geheimnisse vor seiner Gemeine, und zwar solche, die er den „Profanen“, d. h. den der Ordensbrüderschaft nicht Angehörigen unbedingt vorzuenthalten sich eidlich verpflichtet hat. Vielleicht behauptet er, daß diese Geheimnisse dasjenige, was Allen zur Seligkeit zu wissen noth thue, gar nicht berührten. Vielleicht erklärt er gar, daß die Mysterien seines Ordens überhaupt auf dem religiösen Gebiete nicht, sondern nur auf dem gesellschaftlichen lägen, und überdieß an und für sich unerheblich seien. Versicherungen dieser Art werden jedoch nicht ausreichen, das erschütterte Vertrauen der Gemeine wieder gründlich zu heilen. Diese wird vielmehr, wenn auch nicht gradezu dem Argwohne bei sich Raum geben, daß ihr Prediger für seine Person eine andere Ueberzeugung hege, als die er ihr kirchlich vorzutragen pflege, doch schwer über den Gedanken hinauskommen können, daß er eine exoterische Weisheit für das „Volk“, und eine esoterische für sich und die Ordensbrüder kenne.

Ein dritter Abmahnungsgrund für den Geistlichen vom Eintritt in den Freimaurerorden liegt in dem göttlichen Berufe, dessen Träger der Geistliche ist, und in dem unvermeidlichen Conflikt, in welchen seine freimaurerische Stellung mit seiner ersten und wesentlichsten Amtspflicht hineingerathen wird. - Der Maurerorden rühmt von sich selbst, daß, wo er in seiner Bundes - Eigenschaft vereinigt sei, „jeder Unterschied des Ranges, Standes und öffentlichen Berufs zurücktrete, und in den Bundesbrüdern nur noch der Mensch dem Menschen gegenüberstehe.“ Schön mag dies sein, und auch für einen Professor, Soldaten, Regierungsrath, Polizeimann u. s. w. nichts Verfängliches haben. Ein Amt aber soll und darf nach Gottes Ordnung auch nicht einmal momentan cessiren: das Amt des Geistlichen, des Botschafters an Christi Statt. Wer damit betraut ist, trägt's von Gott zu Lehen, daß er es führe und übe, wo er geht und steht, „es sei zur Zeit, oder zur Unzeit.“ Auch nicht vorübergehend steht es ihm zu, von seinem Posten abzutreten, und dergestalt seiner Würde und seines Berufs sich zu entkleiden, daß er aufhöre, Seines Herrn Sache zu vertreten, das Panier der geoffenbarten Wahrheit aufzupflanzen, und mit dem Takte, aber auch mit der Entschiedenheit, die der Heilige Geist lehrt, Buße und Glauben predigend auf die Rettung der Seelen zu denken, die er um sich her noch in der Irre wandeln sieht. Nein, ihm ist es nicht gestattet, jemals den Talar, mit dem ihn Gott belehnte, abzulegen. „Aber dann“ werdet ihr sagen, „paßt er ja für den Manrerorden nicht!“ - Dies wollte ich euch eben fühlbar machen. Tritt er aber dennoch ein, so wird er schwerlich der Gefahr entgehen, bald hie bald dort den Namen und die Sache seines Herrn zu verleugnen. Wie Mancher scheiterte schon an dieser Klippe! Entrinnt er aber jener Versuchung, und vergiebt seiner amtlichen Stellung nichts, so möge er abwarten, ob man ihn ferner dulden, oder ihm andeuten wird, daß sein Verhalten dem Geiste des Bundes, in den er sich habe aufnehmen lassen, widerspreche.

Doch genug von dieser Sache! So weit entfernt ich bin, Prediger, die dem Maurerorden angehören, verurtheilen zu wollen, so dringend möchte ich ihnen doch im Interesse des Reiches Gottes rathen, dieser Verbindung zu entsagen. Ich zähle zu meinen Freunden mehrere treue Zeugen des Evangeliums, die Maurer sind. Wollte ich aber behaupten, daß ihre sonderbündlerische Stellung keinen beeinträchtigenden Einfluß auf ihre kirchliche Wirksamkeit äußere, so würde ich mich an der Wahrheit versündigen. Sei der Maurerorden ein noch so wohl zu rechtfertigendes Institut, so ziemt es doch dem Geistlichen, daß ihm die Bundesgenossenschaft genüge, die er als „die Gemeinschaft der Heiligen“ bekennt. Ein ausdrückliches Gebot untersagt ihm allerdings auch den Beitritt zu der Maurerverbrüderung nicht, aber hier hat er das Wort des Apostels sich anzueignen: „Ich habe es Alles Macht; aber es frommt nicht Alles!“ -

Mit freudigster Theilnahme höre ich von dem allseitigen Fortschritt zum Bessern, der sich auch in euern Gemeinen kund giebt. Große Ursach habt ihr, namentlich dafür Gott zu preisen, daß das Zeugniß von Christo mit wachsender Entschiedenheit von euern Kanzeln euch antönt. Weil denn die evangelische „Posaune“ immer „deutlicheren Ton“ bei euch giebt, so unterlasset auch ihr nicht, euch zu „rüsten.“ Nehmet immerdar zu in dem Werke des Herrn. Fahret fort, „in der Gottseligkeit“ auch eine warme und werkthätige Liebe für die Mission, und namentlich auch für die Mission in China darzureichen! Erachtet es für eine große Ehre, die euch darin widerfährt, daß binnen Kurzem ein junger Theologe aus eurer Mitte durch unsern Dienst mit dem offnen Evangelienbuch nach jenem entlegenen Todtenfelde abgehen wird und helft ihm durch eure Fürbitten wie durch eure Gaben die Anker lichten. Laßt euch „zum Eifer reizen“ durch das Exempel einer theueren Jungfrau, die mir in diesen Tagen, - nicht zum ersten Male, - aus ihren Mitteln für die Zwecke der China-Mission 150 Reichsthaler sandte. Was die Bessarabier gethan haben, ist Etlichen unter euch vielleicht ebenfalls kund geworden. Der Herr unser Gott vergelte euch gnädiglich jedes Opfer, das ihr fröhlichen Herzens Seiner großen Sache weiht! Ihr aber wachset in der Gnade und Erkenntniß unsere, Herrn und Heilandes Jesu Christi. Demselbigen sei Ehre nun und zu ewigen Zeiten! Amen.

Die Sabbathglocke

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