Krummacher, Friedrich Wilhelm - Israel, vergiß mein nicht!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Israel, vergiß mein nicht!

Predigt über Jesaias 44, 21. 22.

Jes. 44, 21. 22. Israel, vergiß mein nicht. Ich tilge deine Missethat wie eine Wolke, und deine Sünde wie den Nebel; kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich.

Theure Freunde! Nicht manchmal mehr werde ich meinen Mund zu euch aufthun; vielleicht - mit Wehmuth spreche ich es aus - heute über acht Tage zum letzten Mal. Da ist mir's denn, als müßte ich zu guter Letzt noch einmal alle Hebel in Bewegung setzen, um euch, soweit es noch nicht geschah, Dem in die Arme zu führen, außer welchem nun einmal in Zeit und Ewigkeit für euch kein Heil und Friede ist. Ich führe Ihn selbst euch heute vor in einem zwar alten, aber ewig neuen, und ob auch zunächst an Israel, so doch nicht minder an euch gerichteten Worte. Denn der Sohn Gottes ist es, der, noch im Schooße seines Vaters, Jes. 44. durch den Mund des Propheten redet; und seine Worte sind für Jahrtausende gesprochen, und gewinnen je nach Gestaltung der Zeitumstände immer wieder neue Unmittelbarkeit und neues Leben. So auch das überaus ergreifende und herzzerschmelzende Wort unseres Teiles. Seid versichert, der Heiland spricht's in unfern Tagen neu, und auch in unsre Versammlung ruft Er es heute herein. Eine Bitte des göttlichen Friedensfürsten enthält das Wort. Laßt uns dieselbe näher betrachten, und zuerst aus die Veranlassung zu derselben, sodann auf ihren Inhalt, und endlich auf den Nachdruck unsre Blicke richten, der ihr durch das angehängte Verheißungswort verliehen wird. Schaffe der Herr seiner Stimme unter uns Gehör, und gebe Er uns einen Segen, der da bleibet bis in das ewige Leben!

l.

Bittend tritt der Herr vor uns hin, gleich als könnte Ihm, dem Allgenugsamen, um sein selbst willen daran liegen, daß wir Ihn liebten, und liebend Sein gedächten. Aller Sprachformen bedient Er sich, um uns in seine Arme zu locken; aber nicht leere Formen sind's, sondern sein erbarmungsvolles, mitleidiges, und nach unsrer Rettung dürstendes Herz ist dahinter. „Israel“ spricht er, „vergiß mein nicht!“ O hört! Wann ist je eine rührendere, eine herzbewegendere Rede unter dem Himmel vernommen worden als diese? Sollten einem nicht die Augen übergehen bei solchem Klang? Sehet nur, die umgekehrte Welt! An uns wäre es, vor Seiner Thürschwelle im Staube zu liegen, und unablässig unter Thränen zu seufzen: „Immanuel, vergiß uns nicht;“ und statt dessen kommt Er, der Herr der Herrlichkeit, mit solcher Bitte zu uns, die wir längst, ach! welch' eine ganz andere Sprache von Seinen Lippen zu vernehmen verdienet hätten! Und wie laut tönt in unsern Tagen Sein: „Israel, vergiß mein nicht“, wieder daher! Beachtet, in welchem brausenden Chore die Predigt Seines Evangeliums aufs neue die Welt durchschallt! Mustert, wenn ihr's vermögt, die täglich wachsende Schaar der Wächter auf Zions Mauern, die wieder ihr: „Kommt zu Christo!“ schreien. Vernehmt die Siegeskunden, die stets auffallender und wunderbarer sich gestaltend, aus der fernen Missionswelt zu uns her überklingen; und überseht auch nicht die Constellation der Zeit, in welcher immer deutlicher die Zustände sich kenntlich machen, welche die Weissagung des festen prophetischen Wortes als die unmittelbaren Vorläufer der zweiten Zukunft des Herrn zur Zerscheiterung Seiner Widersacher und zur Vollendung Seines Reichs bezeichnet. In jenem Allem vernehmt ihr nichts anders, als Sein: „Israel, vergiß mein nicht!“ Und aus wie Manchem, was der Einzelne erfahren hat und erfährt, klingt es außerdem euch an! Du, über dessen Haupte sich so wunderbarlich eine drohende Gefahr zertheilte; du, der du nach hartem Siechthum zum zweiten Male das Leben dir geschenket und neu gefristet siehst; du, der du umgekehrt dich entschließen mußt, mit dem Gedanken an ein frühes Grab dich vertraut zu machen; du, mit der von Sterbensahnungen umflorten, oder unter andern vielleicht noch schwärzeren Sorgen und bittern Nöthen ringenden Seele; du, der du nach Frieden suchst in aller Welt, und ihn nicht findest; der du Alles hast, was die Welt gewähren kann, und doch, ein innerlich tief geschlagener Mann, wie Kam unstät und flüchtig einhergehst; und nun ihr Verkannten, ihr Vereinsamten, ihr Freundeslosen alle, die ihr um Liebe werbt, um Treue betteln geht, und sie doch nirgend, nirgend findet: ihr Alle, sagt, merkt ihr es denn nicht, Wer vor euch steht, euch huldreich anblickt, und euch aufs dringendste und angelegentlichste in seine Arme lockt? Fürwahr! der Helfer ist's aus aller Noth, der Freund der Sünder. Er suchet, nicht das Eure, sondern euch. Bund und Befreundung bietet er euch an; und was Er in euer Erleben und Empfinden, in euer Freuen und Trauern verkleidet hat, glaubt's, es ist nichts Geringeres, als Sein: „Israel, vergiß mein nicht!“

Von der Veranlassung wollten wir zuvörderst reden, aus welcher der Herr jene zärtliche Bitte an uns richte; und in der That, Veranlassung zu derselben bietet sich Ihm in einer Zeit, da, wie in der heutigen, in weiten Kreisen kaum Jemand so vergessen ist wie Er, in nur zu reicher Fülle dar. Zwar ist man nach Seinem Namen genannt; aber wessen gedenkt man nicht herzlicher, als Sein? Man ward sogar auf Ihn getauft; aber an was mag man weniger gern erinnert sein, als hieran? Welche Menschenmassen kann man reisend zu dieser Frist durchziehen, ehe man nur ein Mal Ihn nennen, geschweige mit liebender Verehrung Ihn nennen hört! In wie vielen Gesellschaften kann man sich bewegen, ehe man eine antrifft, in der es nicht durch den herrschenden Ton verpönt ist, mit Ernst und Wärme von Ihm zu reden! Wüßte ich doch Niemanden in weiter Welt, dessen man in solcher Allgemeinheit sich zu schämen pflegte, wie Seiner. Wo ist ein menschlicher Irrstern, für dessen Jünger man nicht lieber gelten möchte, als für Jesu Jünger? In wie vielen Hunderten Seiner Kirchen gar wird Er von Seinen eigenen Dienern verleugnet wie ein abgethaner Mann, und im besten Falle nur noch mit einem Confucius, einem Sokrates, und anderen Weisen der altersgrauen Vorzeit, die freilich von den neueren weit überboten seien, in einer Reihe genannt! Und wo wir einmal Seine und Seines Wortes Suprematie und Majestät wollen geltend machen, erregen wir Sturm gegen uns, und wecken, wie wir's ja kürzlich erst bei Gelegenheit unsrer letzten Bußtagspredigt reichlich erfahren haben, das alte Geschrei wieder auf: „Hinweg mit diesem! Wir wollen nicht, daß Er über uns herrsche! - Groß ist die Diana der Epheser!“ - Wie denn, daß der Herr nicht Anlaß haben sollte, in eine solche Zeit der Verleugnung und des Abfalls Sein: „Israel, vergiß mein nicht!“ hinein zu rufen, und um so lauter und nachdrucksvoller es hinein zu rufen, je ungestümer mit der Stimme des Lügenvaters und seiner verneinenden Legionen diejenige der abziehenden, betäubenden und zerstreuenden Welt zusammenbraust, und zum Entgegengesetzten räth! O, dieses Gewirre und Geschwüre, das in Tausenden von Lockungen und Aufforderungen zu zeitlichen Ergötzungen und Vergnügungen sonderlich auch euch, die Bewohner dieser Stadt, umgiebt! Was ist es, als, in Worte umgesetzt, ein chorartig, von allen Seiten euch bestürmendes: „Vergeßt, vergesset Ihn?“ Dann dieses unendliche Durcheinanderfluthen der Menschen, namentlich in den gegenwärtigen Monden, auf Ausflügen, auf Reisen, in Bädern und auf andern Tummelplätzen der eiteln Lust, wie läßt es nur noch irgend Raum für den ernsteren Gedanken an das Heil unsrer unsterblichen Seele? Der Herr aber möchte solchen Raum so gern beschaffen, und setzt dem betäubenden Getümmel, in dem wir uns bewegen, in unendlicher Gnade und Erbarmung Sein: „Vergiß mein nicht“ entgegen. Ach, die wüsten Wogen, mit denen wir treiben, trügen uns ja so unaufhaltsam wie unvermerkt, und in immer schnellerer Strömung, dem Grabe, der Ewigkeit, dem Gericht, und, ohne Jesu Huld, der Hölle zu! - Der Herr sieht es, und ruft mit mütterlicher Liebessorge. „Israel, vergiß mein nicht!“ Und er gewahret ein Mehreres noch, denn dies. Die Zeitlage sieht Er, in der wir uns befinden, und die Zukunft, die vor unserer Thüre ist. „Die Zukunft?“ fragt ihr stutzend; „welche Zukunft?“ - Nun freilich, die Welt ist wohl stille in diesem Augenblick, und die Oberfläche der Völker gleicht einem ruhigen Meeresspiegel. Aber lassen wir uns nicht täuschen! Da drunten gährt's, und grauenhaste Kräfte arbeiten, wühlen und rüsten in der Tiefe. Ungeheure Gegensätze mehr als einer Gattung, aber in dem des Antichristenthums wider das Christenthum als in ihrem Centrum zusammentreffend, haben den Höhepunkt ihrer Spannung erreicht, und an friedliche Ausgleichung und Auseinandersetzung ist nicht mehr zu denken. Nach Gottes Wort und der Signatur der Zeit steht ein Kampf bevor, wie ihn die Welt noch nicht gesehen: ein Kampf einer antichristischen Welt, die schon vorhanden ist, mit der christlichen; ein Kampf der Hölle und ihrer Rotten mit dem Reiche Gottes in allen Ordnungen desselben; ein Kampf auf Leben und Tod, Seitens des Widerparts geführt mit der Mord- und Brandwaffe, und mit Waffen der Bezauberung, der Verführung und des kräftigen Irrthums. Millionen unserer Widersacher sind zu diesem Kampfe mit dem entsprechenden Geiste schon getauft, welcher ein Geist ist der Erbitterung gegen alles Bestehende, der Auflehnung gegen jede Schranke, der äußersten Pietätslosigkeit, der Lästerung der Majestäten, ein frecher, zuchtloser, fleischlicher, auf alles Uebersinnliche verzichtender Geist. Der Teufel hat sein Pfingsten bereits gehalten, und zum Erstaunen ist's, bis in welche entlegene Winkel hinein seine höllische Lauge sich ergossen hat, und das christliche Bewußtsein bis auf die letzten Spuren hinwegätzt. Aber auch der Herr, der das schauerliche Wetter kommen sieht, ist rüstend auf dem Plane, ruft die Seinen zu den Fahnen, und wirbt um neue frische Mannschaft. „Israel, vergiß mein nicht!“ Hört, Freunde, so lautet sein Werberuf. Wie er so beweglich und dringend uns antönt! O neigen wir ihm Ohr und Herz! Wen der beginnende Kampf nicht schon geborgen findet, der wird während des Sturmes sich schwerlich mehr bergen. -

2.

Was will aber das: „Israel, vergiß mein nicht?“ Freilich, ein Mehreres, als man auf den ersten Anblick denken möchte. Kurz ist der Zuruf, aber reich an Inhalt. Das ihm beigefügte: „Kehre Dich zu mir,“ deutet ihn aus und ergänzt ihn. Mit einem flüchtigen Angedenken an den Herrn, mit einer Aufnahme seines Bildes in den Spiegel der Phantasie, mit einer Bewahrung seines Namens in Mund und Gedächtniß ist ebenso wenig der Aufforderung desselben schon entsprochen und unser Heil geschafft, als mit einem bloßen Jasagen des Verstandes zu dem, was die Kirche von Ihm lehrt, mit einer Sonntagsaufwartung, dieser Kirche, Seiner Stiftung, abgestattet, oder mit einer äußerlichen Betheiligung an den Thätigkeiten, welche die Ausbreitung Seines Reichs bezwecken. Auf dem „mein“ in dem „Vergiß mein nicht“ ruht der Nachdruck. Wie dieses süße Bittwort innigste Liebe zu uns, als zu Individuen, athmet, so beansprucht's auch wieder unsrerseits persönliche Liebe zu dem persönlichen Christus. Nun aber wächst eher wohl eine Rose aus einem Stein, als diese Liebe aus dem Boden unserer Natur. Nein, diese Himmelsblume entfaltet sich nicht in uns, bevor wir im innersten Wesensgrunde eine große, nur durch die Macht des Heiligen Geistes zu bewirkende, Umwandlung erfahren haben. (Es ist dies jedoch zunächst keine Umwandlung, in Folge deren ein Sünder zu einem Heiligen, wohl aber eine solche, wodurch ein Pharisäer zu einem armen und gebeugten Sünder wird; keine Wiedergeburt ist's, kraft welcher ein Ohnmächtiger zu einem Starken sich erhöht, sondern eine solche, in der ein vermeintlich Vermögender sich zu einem Hülfsbedürftigen und Armen erniedrigt sieht. Freilich ist's ein bittrer Kelch, dem Richterspruche des Gesetzes Gottes über uns Recht geben, und unser ganzes Leben als ein in Gottentfremdung verbrachtes verdammen zu müssen; aber wer diesen Kelch entschlossen leert, thut damit Anderes nichts, als daß er der Lüge den Abschied, der Wahrheit die gebührende Ehre giebt. Hart allerdings geht die Nöthigung uns an, das schmeichelnde Bewußtsein, zu den guten und gottwohlgefälligen Menschen zu zählen, mit einem beschämenden Zöllner- und Schächerbewußtsein zu vertauschen; aber wer sich dazu entschließt, vertauscht bei Licht besehen nur einen, elenden Wahn mit der Anerkennung dessen, was in Wirklichkeit besteht. Es muß dahin kommen, Brüder, Schwestern, daß wir aus unserm natürlichen Traumleben erwachen, bevor, und dann zu spät, die Posaune der Ewigkeit daraus uns wecken wird. Geschehen muß es, daß wir endlich davon abstehn, unsre unermeßliche Verschuldung vor Gott Ihm wie uns selbst zu verhehlen, und der Anerkennung der zwar zermalmenden, aber nur zu tief begründeten, und aus den Tafeln Sinais, wie aus unserm ganzen Leben herauszulesenden Wahrheit uns zu entziehen, daß wir in uns selbst durchaus verloren sind, und unter dem göttlichen Fluche liegen. Wir dürfen uns gegen den Eintritt eines solchen Wendepunkts in unser Leben nicht länger sträuben. Wir müssen die göttliche Anklageschrist wider uns hinnehmen, ob uns das Herz darüber bräche. Um unsre bisherige Ruhe wird es allerdings geschehen sein, und um wie so manches Andere sonst. Thränenbrod giebt es jetzt, statt Freudenmanna, wie es einst einem Simon, einer Magdalene, und tausend Anderen, die jetzt das große Hallelujah singen, gebrochen ward; und Wehen, Aengste und Sorgen stellen sich bei uns ein, wie das arme Herz sie bis dahin nie noch kannte.

Was thut es aber? Durch diesen Jordan gehts dem gelobten Lande zu. Daß zu den dunkeln Gästen, die mit Sack und Asche zu uns treten, nicht auch die Verzweiflung sich geselle, dafür ist gesorgt. Nicht lange werden wir kummervoll auf der Armensünderbank gesessen haben, so wirft vor unserm innern Auge ein Mann den Schleier ab, der an Erhabenheit und Holdseligkeit zugleich nicht seines Gleichen hat. Ach, siehe, eine Dornenkrone auf Seinem Haupt, und sein Gewand purpurn, und wie in Blut getaucht! Wir fragen: „Wie heißest Du?“ - Er antwortet: „Immanuel.“ - Wir: „Warum ist denn Dein Gewand so roth?“ Er: „Ich trat die Kelter alleine und war Niemand mit mir!“ - Wir: „Wer hat Dich so verwundet?“ - Er: „Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden, und Mühe mit deinen Missethaten!“ - Wir: „Wozu nahest du?“ - Er: „Ich bin euer Retter und ist außer mir kein Heiland. Kehret euch zu mir, denn ich erlöse euch!“ - Und o, wie wundersüß und selig wird dieser Zuruf jetzt durch unser Innres klingen! Wie werden wir diesen theuerwerthen Mann nunmehr willkommen heißen, und in seine Arme fliegen! Es ist ja Keiner im Himmel und auf Erden außer Ihm, der uns der Hölle entreißen und von der Verdammniß uns erlösen könnte. „Nimm uns, nimm uns!“ schreit Alles jetzt, was in uns ist. „Dein, - keines Andern mehr, wollen wir sein, und wollen's bleiben. Nimm uns in Deine Heilands-, in Deine Retterpflege!“ Wir rufen's, und von nun an ist der große Sünderfreund unsres Lebens Mittelpunkt, unsre einige Hoffnung, unsre ganze Liebe und Begierde. Von nun an begreifen wir es nicht mehr, wie man ohne Ihn sein, ohne Ihn leben könne. Von nun an läßt unser Auge nicht mehr ab, nach Ihm zu schauen, unser Herz nicht mehr, nach Ihm zu dürsten, unser Wille nicht, Ihm Unterthänigkeiten zu schwören; und so erfüllt sich denn in uns durch Seine Gnade der Inhalt Seines Zurufs in unserm Texte: „Israel, vergiß mein nicht! Kehre dich zu mir!“ Ach, er braucht das dem nicht mehr zuzurufen, dem die Petrusthräne vom Auge thaut, der mit dem Zöllner im Winkel des Tempels steht, oder mit Saulus, seiner Schuld und des Fluches Gottes sich bewußt, wie ein zertretner Wurm am Staube liegt. Hier sind Ihm die Pforten hoch und weit gemacht, und Herberge, Thron und Ruhestatt Ihm bereitet.

3.

„Israel, vergiß mein nicht!“ O, laßt es wiederklingen, dieses holdselige Bitt- und Nöthigungswort des Herrn, in euern Herzen! Oder muß, damit es diesen Wiederhall bei euch finde, noch ein stärkerer Nachdruck es begleiten, als es ihn schon in sich selber trägt? Nun, so wird auch dieser ihm verliehen, und zwar durch die ihm angehängte herrliche Verheißung: „Ich, der Herr, tilge deine Missethat wie eine Wolke, und deine Sünde wie einen Nebel. Ich erlöse dich!“ Hört, hört! Wo ist je eine süßere Botschaft in der Welt erklungen, als diese? Die Missethat eine „Wolke!“ - Ja wohl, gleich einer Wetterwolke, schwarz und düster, hängt sie Verderben brütend über unserm Haupte. Unser Gewissen hört von ferne schon in ihr die dumpfen Donner grollen, und ängstet sich heimlich, dem unstät flatternden Vogel vergleichbar, wenn ein Ungewitter aufzieht. Ach wohl, die Missethat eine „Wolke,“ die uns den Himmel verdeckt, das Angesicht Gottes vor uns verhüllt, ja scheidend zwischen uns und Gott sich aufthürmt, und für deren Blitze es einen Ableiter nicht giebt, außer dem einen, der, in Kreuzgestalt, vom Blute des Gerechten roth, auf Golgathas Gipfel sich erhebt. - Die Sünde ein „Nebel!“ Freilich ja, ein Nebel, der drückend und erstickend das Herz umzieht, und in dem die Pflanzen des Friedens und der wahren Freude nicht gedeihen. Ein „Nebel“ die Sünde, der jede tröstliche Aussicht uns verbaut, und in dessen grauer Umschleierung der sorglose Wanderer schauerlichen Abgründen entgegenschreitet. - Unter jener „Wolke,“ und diesem „Nebel“ gehen wir Alle. - Doch siehe, da steigt die Sonne herauf! Was ward aus dem Gewölk? Im Nu ist es zertheilt. Wo blieb das Nebelmeer? Zerronnen ist's, und wo es graute, ruht eine schimmernde Perlensaat auf Blatt und Blume. - Herzerquickendes Bild! - Wer ist die Sonne, die Gleiches im Bereich der geistigen Dinge zu Wege bringt? Ihr singt: „Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ, und was mich fröhlich machet, ist, was im Himmel ist;“ und ihr singt recht. Das hat Er sich erstritten in Seinem blutigen Kampfe, daß Er Alle, die sich mit wahrhaftiger Hingebung in Seine Arme werfen, vollkommen rein, schuldfrei und untadelig sprechen kann; und der Vater oben spricht besiegelnd dazu sein Amen. Von Stund an, da du in Wahrheit der Braut im Hohenliede ihr herziges: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein,“ nachsprechen kannst, ist die Wolke über deinem Haupte weg, und ein versöhnter Gott neigt dir traulich und mit Wohlgefallen vom Stuhle der Majestät herab sein Gnadenscepter. Von dem Momente an, da das andre Wort der Sulamithin: „Ich halte Ihn, (den Mann der Schmerzen), und will Ihn nicht lassen,“ das deine wird, ist der Nebel zerflossen, der dein Herz beklemmte, der Friede Gottes dir zum Geleit gegeben, und eine Aussicht zum Entzücken bis ins Innerste des Heiligthums hinein dir eröffnet; und statt der Thauesperlen ergießen sich Dank- und Freudenthränen aus deinen Augen! - Vergebung der Sünden! - Inhaltsschweres Wort! Aller Güter, die uns hienieden werden können, köstlichstes! Kronjuwel im reichen Kranz der Schätze, die Christus uns erstritten! - Vergebung der Sünden! Mit diesem Kleinod allein kommen wir schon durch, wenn alles Andre uns auch entzogen würde. Denn in dem Bewußtsein, daß Christi Gerechtigkeit vor Gott uns schmücke, liegt zugleich dasjenige mit einbeschlossen, daß wir Gott zum väterlichen Freund, Seine Gnade zur zärtlichen Begleiterin, und, einer endlichen vollkommenen Erlösung gewiß, Seinen Himmel zur Landungsküste und zur Heimath haben. Was einem Stephanus unter den Steinwürfen seiner Mörder das Angesicht leuchten machte wie eines Engels Angesicht, was einem Paulus in grausiger Kerkernacht zum Preis und Lobgesang die Zunge löste; was einem Johannes, dem verbannten, die einsame Insel zu einem trauten Friedensparadies verklärte: der Genuß der Sündenvergebung im Blute Christi war es. Und wisset, unter Vorhaltung dieses unvergleichlichen Gutes zur Verstärkung seiner Lockung, spricht der Herr in unserm Texte Sein herzgewinnendes „Israel, vergiß mein nicht!“ Wie sollte nicht aus unsern Seelen als Echo ein freudiges: „Vergesse ich dein, so werde meiner Rechten vergessen immer und ewiglich!“ Ihm entgegentönen?

So schlage es denn mächtig und siegreich in euch durch, das große herrliche Bittwort des göttlichen Friedensfürsten! Von manchem Flecke eures vergangenen Lebens tönt er zu euch herüber, der holde Ruf. In manches Denkmal an eurem Pilgerwege hat Er das Wort mit eigner Hand hinein geschrieben. Von unzähligen Stätten sieht es euch an, wo Er eure Thränen getrocknet, eure Wunden euch geheilt. Ja, in euren Namen, der an die Taufe euch mahnt, ward es hineingewoben, und mit unauslöschlichen Zügen leuchtet's von dem heiligen Orte zu euch herüber, wo ihr, an eurem Einsegnungstage einst, die Hand zum feierlichsten Fahnenschwur erhobt. O, es töne euch nach das „Israel, vergiß mein nicht,“ bis es euer Herz gefunden, und euch für die Ewigkeit mit ihm verknüpft hat! Und ward Er unser, theure Brüder! so verstumme auch dann das Wort in unserm Innern nicht! Am Morgen, am Mittag und am Abend, bei unserm Tagewerke, bei jedem Unternehmen, in Leid und Freud, und allerwege, klinge es uns an das „Israel, vergiß mein nicht! Und namentlich, wenn die Tage nahen, von denen wir sagen werden: „Sie gefallen mir nicht;“ wenn unsre Sonne sich neigt, und jener Abend hereingraut, nach welchem ein Erdenmorgen uns nicht mehr grüßen wird: o dann vornehmlich schalle es mit verdoppeltem Nachdruck zu uns her das „Israel, vergiß mein nicht!“ Im Anschauen des Schönsten der Menschenkinder, und mit Ihm und in Seiner Gemeinschaft überwinden wir schlechthin Alles. Doch daß jener Zuruf unserm Gedächtnisse nur gegenwärtig bleibt, das alleine thut's noch nicht. Wie leicht vergessen wir des Herrn wieder, selbst Angesichts der holdseligsten Mahnungen, die von Seinem Munde gehen, wenn Er uns nicht zugleich neben Seinem Worte mit Seinem erinnernden und lebendig machenden Geiste zu Hülfe kommt. So werden wir denn gar wohl daran thun, Seine zärtliche Bitte umzukehren, sie an Ihn zu richten, und einzustimmen in das Gebetlein des alten Dichters, und immer auf's neue in dasselbe einzustimmen:

Vergiß mein nicht, sonst möcht ich Dein vergessen!
Ach, wer kann diese Liebe ganz ermessen,
Daß Du in mir und ich in Dir soll sein?
Wie sollt' ich nicht an Dich, Du an mich denken,
Da Du Dich willst in mich, und mich in Dich versenken?
Nein, nein, Du wirst mich ewiglich, mein Licht,
Vergessen nicht! Amen.

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