Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Wächterruf.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Wächterruf.

Predigt, gehalten in der Dreifaltigkeitskirche am 21. Juli 1850 und auf Wunsch einer Anzahl von Studenten herausgegeben von Dr. Friedrich Wilhelm Krummacher.

Berlin, 1850. Justus Albert Wohlgemuth. Oberwallstraße Nr. 5.

2. Corinther 5,19.20.
Denn Gott war in Christo und versöhnete die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott vermahnet durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott.

Geliebte in dem Herrn! Weniger, um den großen Lehrgehalt des verlesenen Ausspruchs euch auf’s Neue zu entwickeln, und eine Predigt von dem in Christo vollbrachten Versöhnungswerk euch zu halten, als in einer andern, mehr praktischen Absicht, trete ich diesmal mit diesem Text in eure Mitte. Ich gestehe, neben ihm geht heute ein zweiter in meinen Gedanken her. Es ist der klagende Ausruf des Herrn selbst Joh. 8,37.: “Meine Rede fähet nicht unter euch!“ Je länger je weniger wird Jemand mehr die Anwendbarkeit auch dieses, freilich eine sehr ernste Anklage enthaltenden, Wortes auch auf unsere Berliner Gemeinden in Abrede stellen wollen. Gepredigt, und theilweise auch gehört, wird fort und fort; aber ist es nicht, als würde meist in den Wind gesäet, auf treibende Wasser gebaut, auf einen heißen Stein geträufelt? Wie viel doch giebt sich von gründlichen und nachhaltigen Erweckungen zum neuen Leben in unserer Mitte kund? Man sammelt sich um das entfaltete Panier des Worts vom Kreuz, aber ein entschiedener Fahnenschwur zum Banner Gottes schlägt selten an unser Ohr. Die Rede strömt, gleitet, säuselt, blitzt und donnert daher; aber sie fähet nicht, d.h. sie schlägt nicht an, dringt nicht durch, findet nicht Raum, greift nicht Platz, und bleibt nicht wiedergebährend und erneuernd haften. Woran liegt das? Ich glaube, mancher der wesentlichsten Ursachen dieser betrübenden Thatsache mir bewußt zu sein, und möchte sie, anknüpfend an unsern Text, auch euch zum Bewußtsein bringen. Die erste Ursache ist: Eine unsichere Stellung zum Worte, die ihr einnehmt; eine zweite: Eine Verkennung der wahren Bedeutung unsrer Predigt, die unter euch im Schwange geht; und eine dritte, die Haupt-Ursache: Eine Verblendung über das wesentlichste Bedürfniß jedes Menschen, an der ihr kränkelt. Laßt uns diesen Punkten einige Augenblicke ernster Erwägung widmen. Der Herr aber gönne unserm Worte den Nachdruck seines Geistes.

I.

Wenn ich zuerst von unsicherer Stellung zum Worte rede, so kann ich natürlich nicht an die sichere Stellung der Belialskinder denken, die ihr Urtheil über Gottes Wort in entschiedener und hohnlachender Leugnung desselben abgeschlossen haben. Jene der entsetzlichsten Entartung und Verhunzung anheimgefallenen Geister, welche, bald mit der schauerlichen Ruhe vollendeter Irrwahnsreife, bald mit der Frivolität unsauberer Dämonen, in welche die Säue gefahren, täglich, leider! auch innerhalb der Mauern unsrer Stadt, unter andern unsren Bibelboten versichern, daß ihnen, ich mag nicht sagen, was, lieber sei und höher gelte, als die Bibel und ihr ganzer Christenthumskram, wie sie es nenne, - sie lassen wir hier schon darum außer Betracht, weil unser Wort an dieser Stätte sie ja doch nicht erreichen würde. Möge die innere Mission an dieser verkommenen Art sich versuchen, und die tröstliche Erfahrung machen, daß dieselbe trotz des Kains- und Judasstempels an ihrer Stirn, doch noch nicht rettungs- und hoffnungslos verloren sei. Wir haben euch hier im Auge, die ihr noch auf den Klang der Kirchenglocken lauscht, die ihr noch Sonntag haltet, zu unserm Trost noch mit dem Gesangbuch auf den Straßen euch blicken laßt und das Wort noch hört; aber hier das: “Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort“ nicht mit einem Punktum mehr, sondern mit einem Fragezeichen leset. Nicht, als verneintet ihr; aber zwischen dem Nein und Ja liegen noch allerlei Laute in der Mitte, und unter diesen wählt sich euer armes Herz die seinen. Ach, es hat auch euch, ehe ihr’s gewahr geworden, die riesige Wurfschaufel des Satanas aufgegriffen, und aus der Einfalt des Glaubens euch sichtend herausgeworfen. Erziehung, Schule, Umgang, Lektüre zauberten vor und nach auch euch ein: „Ja, sollte wohl auch Gott - - ?“ auf die innern Lippen. Die Luft dieses Jahrhunderts ist über und über mit Zweifeln angefüllt; und auch ihr tranket und trinkt diese Luft. Den Glauben verleugnende Landtage und Kammer-Versammlungen haben ihres erschütternden und irremachenden Eindrucks auf euch nicht verfehlt. Erschütternder noch wirkte auf euch die Wahrnehmung, daß ja unter je Tausenden zu dieser Zeit kaum Einer mehr glaubt, und daß mit nur seltenen Ausnahmen Alles, Alles, wo nicht die gottesleugnerische Ueberzeugungsstraße eines David Strauß, eines Feuerbach, und wie die Lästerer weiter heißen, so doch die noch platter getretene der sogenannten denkgläubigen und lichtfreundlichen Volksmänner und Zeitagitatoren wandelt. Ach, die Majoritäten machen euch zu schaffen. Zwar wiegt der Glaube eines Mannes, so gelehrt, so geistbegabt, so gedankenkräftig und so lauter, wie wir einen solchen in diesen Tagen aus unsrer Mitte hinweggetragen, unendlich schwerer, als der Unglaube all des windigen Gesindels, von dem ihr euch imponiren laßt; aber er ist vielleicht nur einer eben seines Gleichen, und dieser sind so viele! Die Mehrzahl beherrscht euch, und hält euch arme Leute schmählich gefangen. „Wie viele der Gebildeten“, denkt ihr, „halten noch was von Gottes Wort?“ „Wie viele Professoren, Künstler und namentlich Beamte kümmern sich noch um Predigt und Sakrament?“ Und fangen dieselben auch hin und wieder an, etwas vortheilhafter vom Christenthum zu reden, so deucht euch, sie empföhlen dasselbe nur als einen Zaum und Zügel für den Pöbel, sowie einst im heidnischen Rom aufgeklärte Staatsmänner die Aufrechthaltung des Götterglaubens und Götterdienstes nur aus dem Grunde ernstlichst anzurathen pflegten, weil ohne denselben das Volk aus Rand und Band gerathen würde. Dieses Alles, verpaart mit einzelnen zu euch gelangten philosophischen Schein- und Trugbedenken, hat mählig, wie ein ununterbrochener Tropfenfall den Fels, auch eure Gewißheit durchlöchert. Ihr hört das Wort; aber, gesteht’s nur, nicht ohne Mißtrauen mehr, nicht ohne Argwohn, nicht ohne die stumme Frage: „Ja, ist es am Ende auch wirklich mehr, als Menschenwort und Menschenfündlein?“ –

Ach, euer Herz ist nicht gewiß. Mein Gott, sollte sich denn der Geist dieses Worts nicht mächtiger an euch erweisen, als aller Unglaube um euch her; dieses Wortes, das, wo ihr es angreift, in jedem Capitel schon, geschweige in dem Ganzen seines Wunderbaues, überall den Stempel seines erhabenen Werkmeisters, das unverkennbare Gepräge seines göttlichen Ursprungs vorkehrt? Sollte nicht schon jener bekannte naive jüdische Einwurf: „Glaubt auch irgend einer unsrer Obersten an ihn?“ durch seine Lächerlichkeit von allem Einfluß gebildeter und ungebildeter Kopfschüttler euch frei gemacht haben; und mehr noch die Wahrnehmung euch davon befreien müssen, daß die verneinenden Geister theils die Bibel, die sie verhöhnen, gar nicht kennen, theils ihr feind sind, weil sie durch sie in ihrem Fleisches- und Sündendienste sich nicht gestört sehen wollen, theils aus allerlei vorgefaßten abgeschmackten Meinungen, z.B. daß kein persönlicher Gott sei, daß Wunder nicht geschehen könnten u.s.w., die Bibel verwerfen, und dafür ohne Frieden, ohne Hoffnung, ohne höheres Leben dahin gehen? – Und ich bitte euch, wie erbärmlich erscheinen die scharfsinnigsten Bestreiter der Wahrheit, Zeugen gegenüber, wie ein Paulus, Petrus, Johannes! Wie nichtsbedeutend die raffinirtesten Widersprüche, gegenüber dem überwältigenden Eindruck eines Johannis-Evangeliums! Wie ohnmächtig die wohlberechnetsten Angriffe, gegenüber dem Machtbeweise, welcher in der bis zu dieser Stunde fortgehenden buchstäblichen Erfüllung der biblischen Weissagungen ruht; und wie kaum der Rede werth die ausgesuchtesten Einwendungen, gegenüber der Wunderthatsache der durch das Evangelium theilweise schon eingetretenen Welterneuerung! Um was ich euch bitte, theure Brüder, ruhet nicht, bis ihr eine klare und feste Stellung zu Gottes Wort gewonnen habt. Schwingt über eine Menschenwelt euch empor, deren Sinne verblendet und zerrüttet sind. Besteigt die stille Höhe vorurtheilsfreier Beschaulichkeit; versenkt euch selbstständig forschend in die Weisheitschachte dieses Buches; träumt nicht, phantasirt nicht, nein, denkt, seid nüchtern, wie die Männer nüchtern waren, die, getrieben vom heil. Geiste, dies Buch geschrieben haben; nehmt als Prüfstein das Herzensbedürfniß eines Menschen mit euch, der nun einmal nicht leugnen kann, daß er vor dem Gesetze Gottes ein Sünder sei; und kehrt euer Auge dem Lichte der Ewigkeit zu; betet um einen Strahl der Erleuchtung aus der Höhe; betet nur ehrlich, kindlich, zuversichtlich, und was gilt’s? Bald ruft ihr: „Land!“ Bald fühlt ihr euern Fuß auf festem Grunde ruh’n. Bald ist eures Schwankens ein ewiges Ende. Und mit Petro frohlocket ihr: „Wir haben ein festes prophetisches Wort;“ mit Paulo: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben!“ Freudig besiegelt ihr den Ausspruch unseres Textes: “Gott hat unter uns aufgerichtet dieses Wort;“ und wir, wir klagen nicht mehr, daß unsre Rede unter euch nicht fahe. Sie fähet, sie fällt wie Thau vom Hermon in euer Herz, sie blitzt wie Licht vom ewigen Altar durch eure Seele, und wird zum festen Stab in eurer Hand, zur hellen, sichern Leuchte eurer Füße.

II.

Unsere Rede fähet nicht! – Wie kommt’s? Eine zweite Ursache finde ich in dem Umstande, daß man die hohe und ernste Bedeutung unsrer Predigt verkennt. Daß dies geschieht, erhellt schon aus Aeußerungen, wie wir sie täglich selbst aus dem Munde sehr wohlmeinender Glieder unsrer Gemeinden vernehmen müssen. So spricht man unter Anderm: „Wir schicken sonntäglich unsere Kinder zu Ihrer Kirche.“ – Und Ihr? fragen wir. „Wir wurden auch in unserer Jugend ernstlich dazu angehalten.“ – „Und jetzt?“ – Da stutzen die Leute und sehen uns verwundert an; und es tritt deutlich zu Tage, daß sie Predigt und Gottesdienst nur als ein Stück des Elementar-Schulunterrichts betrachten, den sie mit den Kinderschuhen abgethan. Doch wir reden hier von denen nicht, die sich der Kirche entziehn; wir reden von euch, ihr Lieben, wie wir zu euch reden. Warum geht man insgemein zum hause des Herrn? Bald, um einer „nicht übeln Sitte“ zu genügen. Erbärmlicher Beweggrund! – Bald, um Andern ein Beispiel zu geben. Wohlfeiles Beispielgeben! – Gebe man doch Beispiel in andern Dingen! Bald, um Gott einen Dienst zu tun. O Pharisäerwesen mitten in der Christenheit! – Bald, um, wie man es nennt, seine „Andacht zu verrichten.“ Sonntagsandacht und Wochen-Weltdienst! – Bald, um in angenehmem Rührspiel eine Stunde sich gemüthlich zu ergötzen. – Also die Kirche ein geistliches Theater! – „Das war eine schöne Predigt!“ sagt man im günstigsten Falle. „Meine Augen waren thränennaß!“ Man sagt’s, und meint, so habe der Gottesdienst seinen höchsten Zweck erfüllt. – „Wir“, fahren Andre darein, „waren in Maria Stuart, in Egmont u.s.w., und haben noch inniger geweint;“ – und unsre Frommen stehn verdutzt, und wissen jenen nichts zu erwidern, zum Zeugniß, daß sie mit ihnen so ziemlich auf gleichem Niveau und Boden religiösen Bedürfnisses und Bewußtseins stehen. Ha, ein Prophet würde Stricke zur Geißel flechten, und an diesen Kirchenleuten die bekannte Tempelreinigung erneuern! – Ein Jeremias würde rufen: „so spricht der Herr: Was sollen mir eure Neumonde, Feiertage und Sabbather? Thuet hinweg von mir das Geplärr eurer Lippen, eurer Augen Drehen, und das Wasser eurer Thränendrüsen! Ich mag dieser Opfer nicht!“

Ach, wie beschämend es auch sei, ich will es nicht in Abrede stellen: unser Stand, der Stand der Geistlichen, hat selber viel dazu beigetragen, daß solche entwürdigende Anschauungen von Gottesdienst und Predigt und deren Zwecken in so weitem Umfange Platz gegriffen haben. Es hat namentlich in dem letzten halben Jahrhundert gar viele Histrionen, Gaukler, Effektkünstler und Thränenjäger unter uns gegeben, die sich darob mit Gott werden abzufinden haben. Doch das entschuldigt euch nicht, die ihr euch verführen ließet, den Ernst des Amtes seiner unwürdigen Träger halber aus den Augen zu verlieren. Und ihr Bewohner dieser Stadt seid in dieser Hinsicht vor manchen andern Gegenden noch großer Vorzüge gewürdigt worden. Der Anblick auch wahrhaft würdiger und ernster Zeugen ward euch so gar selten nicht gewährt. Es boten ihn euch mehr als eine Kanzel eurer Gotteshäuser, mehr als ein Lehrstuhl eurer berühmten und gesegneten Hochschule. Ja, es wird euch auch angerechnet werden, daß länger als dreißig Jahre hindurch ein Mann unter euch gewandelt hat, wie der, dessen sterbliche Hülle wir unter vielen Thränen in verwichener Woche zu Grabe trugen. Freilich war zu den Stätten, wo sein gesalbter Mund sich öffnete, der Zugang euch versagt; und in eurem Gotteshause leuchtete euch nur sein liebes, klares Antlitz. Aber erbaulich war auch dieses schon; und der Ruf von ihm kam in vielen Kunden von seiner Inbrunst zu dem Herrn, von seiner aufopfernden Liebesthätigkeit für nothbedrängte Brüder auch zu euch, sowie auch für euch in vielen Einladungsschriften zu euren Bibelfesten, und in andern kernhaften und lieblichen Büchlein seine geistgetaufte Feder geschrieben hat. Ein Johannes wohnte in ihm in eurer Mitte, ein Mann, der mit seinem Leben und seiner ganzen Erscheinung viel mächtiger noch von Jesu zeugte, daß in Ihm das Leben sei, als mit seinem begeisterungsglühenden Worte; freilich ja ein eifernder Donnerssohn, wie sein apostolisches Vorbild, wider die verneinenden Geister und die frevelnden Verwüster des Heiligthums; aber den Aufrichtigen und Heilsuchenden ein Friedensbote, der sie, ehe sie sich’s versahn, mit sanfter Hand in das Lager mit hereinzog, das er selber einnahm: er war der Jünger, der an Jesu Brust ruhete. Aus weiten Fernen her, selbst über die Fluthen des Oceans, sind Schmachtende nach Licht und Frieden hierhergekommen, nicht um an den Kunstschätzen eurer Stadt, sondern um an diesem eurem köstlichsten, lebendigen Schatze sich zu weiden; und wie haben sie ihn still gesegnet, als sie wieder von hinnen zogen, und wie segnen sie ihn heute noch, und werden ihn ewig segnen, ihn, der so Viele zur Gerechtigkeit gewiesen hat. Und unter euch wohnete der Mann, dessen Name auf den Erinnerungstafeln des Reiches Gottes nie erbleichen, geschweige erlöschen wird. Euch stand er zunächst, als euer Mitbürger, als euer Kirchengenoß und als werkthätiges Mitglied eurer christlichen Vereine. Theilweise hörtet ihr von ihm fast täglich durch die begeisterte Jugend, die zu seinen Füßen saß und euch umgab. Ihr saht den Stern seines Lebens in herrlichem Glanze auf-, ihr saht ihn friedsam – untergehn? nein, nur am irdischen Horizont erbleichen, um an einem andern nur um so herrlicher ewig fortzustrahlen. Er ward entrückt in die Wolke jener Zeugen, deren die Welt nicht werth war. Möget ihr einst deß würdig befunden werden, daß ein Leben, wie das Leben August Neander’s unter euch seinen Kreislauf durchmessen durfte! Daß sein Wanderzelt unter euch gestanden, angerechnet wird es euch Berlinern als ein besonderes Gnadenmittel, wie weiland es den Babyloniern angerechnet wurde, daß ein Ezechiel, wie den Athenern, daß ein Paulus unter ihnen weilete.

Von jenem theuren und unvergeßlichen Manne wieder zurück auf uns, ist ein großer und weiter Sprung, und ich weiß kaum Steg und Weg dahin zu finden. Aber das Amt baut hier die Brücke. Wie wir auch persönlich zusammenschrumpfen gegen jenen, wir arme Sünder; - freilich wollte auch er nie etwas anders sein, doch sind wir’s mehr; - wer wir auch seien in uns selber, wir gebrechlichen Werkzeuge, wir ungetreuen Knechte; Eins stellt uns doch auch jenem Manne wieder gleich: es wurde uns dasselbe Zeugniß anvertraut. Vermöge dieses Auftrags ist uns ein Ansehn beigelegt, so groß, daß es durch keine Titel, durch keine menschlichen Würden, noch der Art etwas vermehrt und gesteigert werden kann. indem wir hier vor euch stehn, stehn wir nicht da in unserm eignen Namen, noch aus Menschensendung; sondern uns umstrahlt der Glanz einer höhern Mission. Unser Berufsbrief trägt das Siegel des Allerhöchsten Cabinetes. Dem Amte nach kam ein Moses, da er vom Berge Sinai herabstieg, ein Samuel, da er heraustrat aus der Hütte zu Silo, nicht höher her, als wir. Wie könnte man solenner kommen, als im Namen des Herrn, und in seiner Bestallung? Und so erscheinen wir. Wir sind laut unserm Texte, freilich nicht Propheten, nicht Apostel, ach, nicht einmal Vorbilder der Herde in Allem, wie wir es sein sollten; aber nichtsdestoweniger bei all unserm Elend “Botschafter an Christi Statt“, berufen, Christi Lehrthätigkeit auf Erden fortzusetzen, und “Gott ist es, der durch uns vermahnet.“ Das ist unsre Stellung, unsre Würde. Unser Amt ist nicht ein Ding, davon man nach Belieben halten, und das man gebrauchen dürfte, wozu man wollte; sondern eine Veranstaltung Gottes ist’s zu eurer Seelen Rettung. Hört ihr uns nicht, die Träger Seines Wortes, so hört ihr Gott nicht; verwerft ihr uns, so habt ihr Gott verworfen. Entspricht unsre persönliche Haltung unserm Amte, wohl uns, zweenfacher Ehren sind wir werth. Entspricht sie nicht, dann wehe uns; aber ihr seid darum nicht gerechtfertigt, wofern ihr uns verachtet. Zu euch heißt es einst: „Ich sandte euch meine Boten;“ und am jüngsten Tage spielen wir für euch, selbst dann, wenn, was Gott in Gnaden verhüten wolle, für unsre Personen wir gerichtet und verworfen würden, eine entscheidende Rolle. Aus diesem Gesichtspunkt, dem einzig wahren, seht uns an. Seht in uns die, wenn auch nur hölzernen, Wegweiser zum Heil, die Gott euch aufgepflanzt; seht in uns die, wenn vielleicht auch seelenlosen, Trompeten, durch welche Gott sein: „Wache auf, der du schläfst, stehe auf von den Todten!“ euch zuruft; seht in uns die, wenn auch noch so zerlumpten, Fahnen, mit welchen Gott euch zu den blutgenetzten Bergen winket, von wannen alle Hülfe kommt. So thut, und es wird euch diese Stätte nicht mehr in Gestalt einer menschlichen Rednerbühne unter vielen andern erscheinen. Die Wolke des Heiligthums wird sie umschatten, und es wird euch sein allsonntäglich, als lagertet ihr vor Horeb oder Garizim, Ebal oder Tabor. Und wäre auch die Predigt gebrechlich und arm, ihr wisset dann: das Amt ist Gottes. Unsre Rede wird nun fahen. Spiel und Spaß sind zu Ende; ein hoher heiliger Ernst trat an ihre Stelle, und die Stätte geistlichen Amüsements und unnützen Rührspiels ward zu einem Orte, wo der Allmächtige nach Sündern fragt, und seine Hand ausstrecket, sie ewig zu erretten.

III.

Wie würde aber erst vollends unsre Rede fahen, wenn ein drittes Hinderniß nicht wäre, das hemmendste von allen! Eine dritte Ursache der geringen Einwirkung unseres Wortes liegt in der Unbekanntschaft unserer lieben Zuhörer mit dem allerdringendsten Bedürfniß des menschlichen Herzens. O sagt mir, meint ihr denn immer noch, es thue nichts mehr euch noth, als etwas religiöse Anregung, als etwas sittliche Förderung, und ein wenig Trost und Ermuthigung, die Lasten des Lebens zu tragen? Brüder, wozu hätte es dann der unermeßlich großen Veranstaltung Gottes bedurft in Sendung, ja in blutiger Hinopferung seines eingebornen Sohnes? Versöhnung, Versöhnung hieß und heißt das schreiendste Bedürfniß der gefallenen, mißgestalteten, gottentfremdeten Kreatur; und hätte Gott, der Heilige, das Licht, in welchem keine Finsterniß, ohne Mittlerthum und Opfer begnadigen wollen, seine Gnade wäre zum Schwert geworden, womit er sich selbst zum ewigen Tode verwundet, ja zum Gift, womit er sein eigenes Dasein aufgehoben hätte. Ach, erkennest du es denn immer noch nicht, wer, trotz aller Umgehänge menschlicher Gerechtigkeit, an Gottes Maaß gemessen du bist? O zerbrich doch einmal die Schaale und dringe auf den Kern; fahre doch einmal aus der gefälschten Menschenwaage heraus, und laß dich wägen in der Waage des Heiligthums! Du elender Mensch, Selbstsucht athmend, wo du gehst und stehst, abgestorben dem göttlichen Leben bis auf’s Mark, ohne Liebe zu Gott, ohne Lust an seinem Gesetz, ohne Himmelssinn; fleischlich, eigenwillig, durch und durch verlogen; störrig dem Herrn in die Zügel beißend, und überdies mit welcher Unzahl einzelner Sünden und Vergehungen, sei es der That, sei es des Worts, sei es der Anschläge und Begierden, besudelt und beladen! Und Du wagst zu hoffen, ohne Weiteres einst Zulaß zu finden in die seligen Vorhöfe Dessen, der dir sagen lässet: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem, der ist es ganz schuldig;“ und der dir zuruft: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, der an mir sündigt?!“ – Vermessener, das Wahnsinnigste begehrst du, das je in eines Menschen Herz gekommen: daß nemlich um deiner Beseligung willen der Himmel einstürze, die ganze Ordnung Gottes zusammenbreche und die Feste seines Thrones, Gerechtigkeit und Gericht, zergehe! Nein, Vermittlung und Versöhnung vorab, oder – und hätte Gott das größte Interesse der Liebe, dich zu retten, das Interesse seiner Ehre würde ihn nöthigen, dich zu verdammen. Doch Heil uns, wir wissen, die Versöhnung ist vollbracht. „Gott war in Christo“, tönt es in erhabenem, geheimnißvollem Feierklang aus unserm Test zu uns herüber, „und versöhnete die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen (d.i. den Sündern) ihre Sünden nicht zu.“ Wem denn? - Ihm, Ihm. „Ihn“, heißt es später, „machte er für uns zur Sünde.“

Nun geht es um den Antheil des Einzelnen an dieser Versöhnung. Lässest du das Kreuz allein und einsam stehn auf seinem Hügel, so stehst du auch allein am jüngsten Tage ohne die Fürsprache seines Blutes. Wird dir nicht für deine Person die allgemeine Versöhnung auf dein reumüthig zerflossenes Herz versiegelt, so gehst du unversöhnt, wie jener Schächer zur Linken, neben dem Kreuz verloren. Steigst du nicht durch das enge Pförtlein herzgründlicher Bekehrung in das Schifflein Christi mit hinein, so segelt’s ohne dich nach Jerusalem, und Angesichts des wiedereröffneten himmlischen Ruhehafens sinkt deine Barke zu ewigem Untergange. Gelangst du nicht dazu, mit der Hand des Glaubens, der todte Herzen lebendig macht, vom Fruchtbaum des Mittlerthums Christi auch dir dein Theil zu brechen, wehe, so verdirbst du in unendlichem Hunger und Kummer unter jenes Baumes grünen und reichbeladenen Zweigen. Versöhnt also bist du erst durch Christi Blut, wenn du persönlich in Christi Lebensgemeinschaft eintratst, und so bleibt, trotz der vollbrachten thatsächlichen und objectiven Versöhnung, noch voller Raum für die fortgehende Bitte: „Lasset euch versöhnen mit Gott.“

Und o wie süß, wie engelharmonienreich würde namentlich diese unsre Rede zu eurem Ohre dringen, wie lieblich wären euch unsre Füße auf den Bergen, wie herzlich würdet ihr uns als theuerwerthe Friedensboten willkommen heißen, wenn ihr, ernüchtert aus dem Pharisäerrausche, des Einen euch bewußt geworden wäret, was euch, so wahr der Herr lebt, und so wahr er hinausstoßen wird in die äußerste Finsterniß, wer einst kein hochzeitliches Kleid an hat, vor Allem, Allem noth thut. Jetzt aber ist es vor euren Augen verborgen, und darum geschieht es, daß unsre Rede unter euch nicht fähet.

Ich schließe mit einem unaussprechlichen Gefühl des Schmerzes. Mit den Empfindungen eines Landmanns schließe ich, der vor seinem verdorrenden Saatfelde steht, und doch den Wolken nicht gebieten kann, daß sie regnen. Doch auch nicht ohne tröstende Hoffnung schließe ich. Ihr hört doch noch das Wort, und das Wort hat seine großen Verheißungen. Das Wort soll nicht leer zurückkommen, wie der Schnee und der Regen nicht leer zurückkommt. Das Wort soll ausrichten, wozu es der Herr gesendet hat. Zudem kenne ich ja Einen, dem an eurer Rettung und Seligkeit noch unendlich mehr gelegen ist, als uns. Er ist es selbst, in dessen Namen wir hier Panier aufwerfen: der Herr, der Heiland der Welt, der Seligmacher Jesus Christus. Zu dessen Gnade versehen wir uns auch für euch, heute wie gestern, und morgen wie heute des Allerbesten, und schließen, wenn einerseits betrügt, nichtsdestoweniger mit einem hoffnungsfrohen: Hallelujah! Amen!

Druck von Johann Caspar Huber in Berlin, Neu-Cöln a.W. Nr. 19.

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