Krummacher, Emil Wilhelm - Das zwiefache Schicksal des Gnadenrufes Christi

Krummacher, Emil Wilhelm - Das zwiefache Schicksal des Gnadenrufes Christi

Geliebte in dem Herrn! Es ist eine überaus wichtige Sache, daß wir zu einem klaren, festen, bestimmten Bewußtsein darüber gelangen, wie wir zum Reiche Gottes stehen. Es ist nicht recht, es ist unverantwortlich, ja es ist eine Unbarmherzigkeit gegen unsre unsterbliche Seele, wenn wir uns hinsichtlich unseres Verhältnisses zum Reiche Gottes mit einem dunkeln, schwankenden, oberflächlichen Meinen, mit einem vagen: „ich denke, ich hoffe wohl“ begnügen. Es ist das nicht einmal eines gebildeten, geschweige eines solchen Menschen würdig, der ernst und gewissenhaft durch's Leben geht. Ist es wahr, daß der große Gott in Christo Jesu eine Anstalt zur Errettung und Beseligung der sündigen Menschen gestiftet, - und das zu läugnen wäre ja eine bejammernswerthe, an Wahnsinn gränzende Thorheit, die der ganzen Geschichte der alt- und neutestamentlichen Kirche Hohn spräche - so will und muß ich darüber auf's Reine kommen: „Welches ist mein Verhältniß zu dieser Anstalt? Bin ich auch ein Bürger dieses Himmelreiches und habe ich Theil an den Gütern und Schätzen desselben?“ - Und wenn gar der König dieses Himmelreichs sagt, daß mein Verhältniß hier in der Zeit zum Himmelreiche darüber entscheide, ob ich droben Theil an der Herrlichkeit und Seligkeit der Himmelsbürger habe, so ist es um so weniger zu entschuldigen, wenn ich nicht völlig darüber auf's Reine zu kommen suche, wie ich zum Reiche Gottes stehe. Unser hochgelobter Herr und Heiland hat uns die Entscheidung über diese hochwichtige Sache auf mancherlei Art erleichtert, indem er uns sowohl über das Wesen des Himmelreiches als auch über die Kennzeichen und Merkmale der Bürger desselben die deutlichsten Belehrungen ertheilte. Namentlich sind seine Gleichnißreden an diesen Unterweisungen reich. Eine derselben bilde den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung. Wir lesen sie:

Matth. 21, 28-32.:
„Was dünkt euch aber? Es hatte ein Mann zween Söhne, und ging zu dem ersten, und sprach: Mein Sohn, gehe hin, und arbeite heute in meinem Weinberge. Er antwortete aber und sprach: Ich will es nicht thun. Darnach reuete es ihn, und ging hin. und er ging zum andern, und sprach gleich also. Er antwortete aber, und sprach: Herr, ja ; und ging nicht hin. Welcher unter den zween hat des Vaters Willen gethan? Sie sprachen zu ihm: Der Erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen, denn ihr. Johannes kam zu euch, und lehrete euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. und ob Ihr es wohl sahet, thatet ihr dennoch nicht Buße, daß ihr ihm hernach auch geglaubt hättet. „

Sollen wir sogleich von vornherein die einzelnen Züge dieser Parabel deuten, so haben wir unter dem Manne, der die zwei Söhne hatte, den Herrn, den König des Himmelreichs zu verstehen. Unter den zwei Söhnen kann man zuvorderst die Juden- und Heidenwelt verstehen, so daß die Parabel zunächst eine geschichtliche Bedeutung hat; man kann aber auch die lebendigen Christen und die Namenchristen darunter verstehen, und diese letzte Deutung wollen wir festhalten, weil sie praktisch wichtiger, weil sie für unsere Stellung zum Reiche Gottes bedeutsamer ist. Unter dem Ruf: „mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberge“ verstehen wir den Gnadenruf Jesu Christi zum Eintritt in seine Gemeinde, zum Eintritt in die unsichtbare Kirche. Dieser kostbare Gnadenruf ergeht auch an uns, gel. Zuhörer. Wie aber damals bei den beiden Söhnen, so ist noch jetzt das Schicksal desselben ein zwiefaches. Wohlan, lasset uns das zwiefache Schicksal des Gnadenrufes Christi in seine Gemeine, in sein Himmelreich, näher erwägen. Da werden wir denn sehen:

  1. Wie es bei vielen Nein heißt und hernach doch noch ja;
  2. Wie es bei Andern heißt: ja Herr; aber das Leben spricht: nein!

Schließlich werfen wir denn einen Blick auf die gar scharfe und doch so trostreiche Nutzanwendung des Herrn. Der Herr, dessen Wort die ewige Wahrheit ist, heilige uns in seiner Wahrheit und schenke zu dieser Betrachtung Gnade und Segen!

I.

Aus der Nutzanwendung, welche der Derr an unsere Parabel knüpft, geht, wie wir noch näher sehen werden, hervor, daß der erste Sohn, der in den Weinberg des Herrn eingeladen wird, ein völlig versunkener, gottloser, nichtswürdiger Sünder war, der es vollauf verdient hatte, wohl von des Herrn Angesicht verstoßen und von seinem Himmelreich ausgeschlossen zu werden, den er aber dennoch nach seiner unaussprechlichen Langmuth und Barmherzigkeit in dasselbe einlud. Solche arme, elende nichtswürdige Sünder sind nun auch wir Alle ohne Ausnahme vor Gott, meine lieben Zuhörer, und wenn auch Manche unter uns vor der Ausübung grober Laster und Missethaten bewahrt blieben, so haben sie das nicht sich, nicht ihrer Standhaftigkeit und Tugend, sondern lediglich der freien Barmherzigkeit Gottes, der bewahrenden Gnade zuzuschreiben, welche ihre Erziehung, ihre Lebensverhältnisse so ordnete, daß es bis zu diesem Aeußersten mit ihnen nicht kam. Wenn wir aber bedenken und zu Herzen fassen, wie so gar leichtfertig, wie so ganz ohne Buße zu Gott, ohne Ernst zur Seligkeit wir unsere Straße zogen; wenn wir unsere Kälte und Gleichgültigkeit gegen den Herrn, unsere Widerspenstigkeit gegen seinen Gnadenruf, unsere Trägheit in der Sorge für unsere Seele und dazu unsere sündlichen, unreinen, selbstsüchtigen Gedanken, Neigungen, Begierden, unsere unnützen Worte und die tausendfältigen Begehungs- und Unterlassungssünden in's Auge fassen, deren wir uns schuldig machten, so gehört eine wahrhaft pharisäische Verblendung und Selbstgerechtigkeit dazu, wenn wir nicht eingestehen wollen, daß auch wir recht arme, verdammungswürdige Sünder sind, die auf tausend Anforderungen der göttlichen Gerechtigkeit nicht eines antworten können.

Aber siehe da, auch an unsere verderbten Herzen ergeht der milde Gnadenruf des Herrn. Er will uns nicht links liegen lassen, er möchte und zu seiner Rechten sehen. Durch sein Wort, durch die Predigt des heiligen Evangeliums, durch unzählige Wohlthaten, auch durch Kreuz und Herzeleid, durch andere Menschen wie durch die Stimme unseres Gewissens ruft er uns, und ladet und ein und bittet: lasset euch versöhnen mit Gott! Er verkündet uns und läßt uns verkünden, wie er bereit ist, um seines Blutes und Verdienstes willen nicht nur alle unsere Sünden zu tilgen, unsere Ketten zu zerbrechen und jeglichen Fluch von uns zu nehmen, wie er vielmehr uns eine Gerechtigkeit schenken will, mit der wir fröhlich vor Gott erscheinen können, ja wie er uns zu Kindern Gottes, zu Bürgern des Himmelreichs machen und an allen Gütern, Schätzen und Gaben desselben einen wahrhaftigen und seligen Antheil schenken will. Komm denn, ruft er uns zu, komm mein Kind, gib mir dein Herz und laß meine Wege deinen Augen wohlgefallen, Kehre wieder, du Abtrünniger, so will ich mein Antlitz gegen dich nicht verstellen. Mache dich auf, werde Licht, herzu, herzu zu meiner Gnadentafel, es ist Alles bereit. O, meine lieben Zuhörer, welche Anerbietungen, welch eine Sprache der Liebe, welche Huld und Gnade! Wie so vollen Grund hat der Herr zu sprechen, wie es beim Propheten heißt: Was soll ich doch mehr thun an meinem Weinberge, was ich nicht an ihm gethan hätte?

Aber was ist nun das Schicksal dieses Gnadenrufes? Man sollte sagen, die armen, zerrütteten Sünder begrüßten mit zitternder Freude diesen Ruf der Liebe, sie strömten schaarenweise hinzu und sanken mit dem Gebete: Herr Jesu, mach' mich doch auch selig! zu seinen Füßen nieder. Aber nein, so verhält es sich nicht. Wie in der Parabel der erste Sohn trotzig und frech erwiderte: „Ich will es nicht thun!“ so treten auch heutzutage Tausende in seine Fußtapfen. Ich will nicht, das ist die Sprache derer, welche den fleischlichen Lüsten dienen, die ihnen unendlich lieber sind als das Himmelreich. Ich will nicht! So heißt es bei denen, welche den materiellen Interessen, dem Jagen nach irdischem Besitze fröhnen, während sie endlich doch Alles, was der Erde angehört, verlassen müssen. Ich will nicht, so sprechen ferner die aufgeblasenen Werkgerechten, denen das Wort: Buße, Wiedergeburt, Bekehrung einen abscheulichen Klang hat. Ich will nicht! So reden alle diejenigen, welche ohne triftige Entschuldigung die Kirche versäumen, das Wort Gottes verachten, die man nie beim heiligen Abendmahle erblickt. Ich will nicht! Das ist die Sprache derer, die in fleischlicher Sicherheit auf dem breiten Wege dahintaumeln, ohne jemals die ernste Frage aufzuwerfen: Was muß ich thun, daß ich selig werde? Wie werde ich fluchfrei, sündenfrei, straffrei, wie erlange ich die Gnade Gottes und die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt!

Ja, so lange wir uns nicht gründlich zum Herrn belehren, sprechen wir fort und fort: ich will nicht. Aber vernehmet, wie es weiter heißt: Darnach reuete es ihn und ging hin. So geschah es auch bei dem verlorenen Sohne, als er fern vom Vaterhause in sich schlug und sprach: ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu meinem Vater sagen: „Vater, ich habe gesündigt in dem Himmel und vor dir, ich bin hinfort nicht werth, dein Sohn zu heißen. Er blickte zurück in sein bisheriges Sündenleben, er blickte hinauf zu dem Gott, den er beleidigt, er schaute in sein Herz, das er verwüstet, er dachte an die Seinigen, denen er schweren Kummer bereitet und ein schlechtes Beispiel gegeben hatte, er schaute vorwärts auf Grab, Tod, Gericht und Ewigkeit - da faßte ihn ein unaussprechliches Leid, da mußte er Wehe über sich schreien, da fühlte er das strafende Gewicht der Lockungen, Wohlthaten und Langmuthbeweise, die er empfangen; in tiefem Schmerz zerbrach sein Herz, es reuete ihn, er ging hin in den Weinberg, in welchen die Liebe ihn rief. O wohl uns, m. Fr., wenn es dahin auch mit uns kommt, wohl uns, wenn wir nicht mehr leichtfertig über unser Verhältnis zum Herrn und zu seinem Reiche hinwegdenken können, wohl uns, wenn es uns Centnerschwer auf unser Herz fällt, daß wir so lange, so viele Jahre in Trotz oder in kalter Gleichgültigkeit sprachen: ich will nicht! Verloren, verloren ist unser Leben, wenn nicht dieses „Darnach“ in dasselbe eintritt.

Ist aber unsere Reue rechter Art, besteht sie nicht bloß in momentanen Empfindungen und sentimentalen Rührungen, in rasch aufsteigenden und eben so rasch wieder verfliegenden Gefühlen, zeigt sich als eine vom Geiste Gottes gewirkte, lebenskräftige Reue, dann geliebte Zuhörer, bleibt man nicht liegen und stehen, wo man liegt und steht, man geht hin in den Weinberg, um zu arbeiten, zu wirken für den Herrn, für sein Reich, für die Brüder, ja dann geht eine durchgreifende Umwandlung mit dem Menschen vor, er wird ein anderer; das ganze Dichten und Trachten des Menschen wird verwandelt, die ganze Verwaltung des von Gott ihm angewiesenen Lebensberufes wird eine andere, es kommt nun Geist, Salz, Wurze und Weihe, es kommt die rechte Treue und Gewissenhaftigkeit hinein; man wandelt vor Gott, man trachtet am ersten nach seinem Reiche, und hieß es früher: „ich will nicht, will das Wort Gottes nicht hören und lesen, ich will nicht beten, so heißt es jetzt: Ach, daß mein Leben deine Rechte mit ganzem Ernste halten möchte, daß jeder Pulsschlag ein Dank, jeder Odem ein Lobgesang wäre!“ Aufopfern möchte man sich mit Leib und Seele in dem Dienste des Herrn und stets möchte man wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist. O seliges Schicksal des Gnadenrufes Christi, wenn es dahin mit uns kommt. Ach ja, dahin leite uns Alle der Herr und König des Himmelreiche!

II.

Doch sehen wir weiter zu, was in unserm Texte geschrieben steht. Es ist noch ein anderer Sohn da, an den ergeht derselbe Ruf von dem Herrn des Weinbergs: „Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberge.“ Sehen wir zu, welches Schicksal bei diesem der Gnadenruf Christi hat. Der erste sprach resolut heraus, ohne Umschweif: Ich will nicht! Dieser thut fromm, er nennt den Namen des Herrn; ja Herr! Aber siehe, trotz seiner Frömmigkeit geht er doch nicht hin.

Nun, Geliebte, was meint ihr wohl, welche Classe von Menschen mochte es sein, die der Herr bei der Schilderung dieses zweiten Sohnes im Auge hat? Es liegt auf der Hand, es sind diejenigen, die wohl Herr, Herr sagen, aber nicht von fern den Willen des Vaters im Himmel thun; es sind die todten Namenchristen, es sind Leute, die in keiner bewußten Opposition gegen das Reich Gottes stehen, die vielmehr dem Worte Gottes und dem Glauben der Väter vollen Beifall schenken und sich einer regelmäßigen Kirchlichkeit befleißigen. Sie haben den Katechismus wohl inne, kennen die Bibel und wissen eine nicht kleine Menge von Sprüchen derselben auswendig. Sie sagen: ja Herr, wenn es heißt: Thue Buße und glaube an das Evangelium; sie sagen: ja Herr, wenn es heißt: Eilet und errettet eure Seele; und wenn sie eine Predigt hören, in welcher von der unerläßlichen Nothwendigkeit der Wiedergeburt, von der Uebergabe des Herzens an den Heiland, von dem Absagen der Welt und ihrer Lust, von dem Kampf wider Sünde, Tod und Teufel die Rede ist, so heißt es bei ihnen allemal: ja Berr! Aber dabei hat es denn auch sein Bewenden. Daß die erkannte Wahrheit ins Herz dringe, daß sie in dem Herzen bewahrt bliebe und den innern Menschen umgestaltete, daran ist nicht von ferne zu denken. Man bleibt, was, wo und wie man ist und steht in dem Wahne, als ob man mit diesem elenden, oberflächlichen ja sagen den Anforderungen des Christenthums vollkommen Genüge geleistet hätte. Ach seht, von solchen Jabrüdern und Jaschwestern, die ohne alles geistliche Leben, eingehüllt in den Mantel einer selbstgemachten pharisäischen Frömmigkeit, der christlichen Wahrheit beistimmen und Herr, Herr sagen, während sie nicht von ferne den Willen des himmlischen Vaters thun und damit beweisen, daß auch kein Funken des himmlischen Gnadenlebens in ihnen brennt, ist die Welt voll. Ja, ja sprechen Unzählige zu den ernstesten Wahrheiten, aber sie rühren sich nicht von der Stelle, sie sind und bleiben kahle Bäume, und wie auch der Herr des Weinbergs um sie grabe und dünge, wie er auch mit dem Messer der Trübsal sie zu reinigen beflissen sei, sie bleiben, was sie sind, bis es endlich unwiderruflich von ihnen heißt: „hauet sie ab, was hindern sie das Land?“

III.

Seht, von dieser Gattung waren auch die Zuhörer unsers Herrn, denen er zunächst die Parabel unseres Textes erzählte. Es waren die jüdischen Hohenpriester und Schriftgelehrten, die sich auf ihre umfassende Erkenntniß, auf ihr Wissen, auf ihr Herr! Herr! sagen viel zu gut thaten, die aber vom göttlichen Licht und Leben durch aus keine Erfahrung hatten, vielmehr bei all ihrer pharisäischen Werkheiligkeit, wie das so häufig der Fall ist, im tiefsten Grunde ihres Herzens Feinde des Herrn Jesu, Feinde seines Evangeliums waren. Auf die Frage des Herrn: „Welcher unter den Zween hat des Herrn Willen gethan?“ mußten sie zwar antworten: der Erste, allein wahrscheinlich fühlten sie gar nicht einmal, daß sie damit über sich selbst den Stab brachen. Damit ihnen aber die Augen über ihre Stellung zum Reiche Gottes aufgehen möchten, so fügte nun der Herr eine Nutzanwendung hinzu, von der man freilich hatte denken sollen, daß sie ihnen durch Mark und Bein gedrungen wäre. Wahrlich, sprach er, wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen, denn ihr. Johannes kam zu euch, und lehrete euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und ob Ihr es wohl sahet, thatet ihr dennoch nicht Buße, daß ihr ihm darnach auch geglaubt hättet.

Was will nun der Herr mit diesen Worten sagen? Ohne Zweifel Folgendes: ein offenbar gottloser Mensch, der leichtfertig und wüst auf dem breiten Wege dahinstürmt und in bewußter Opposition gegen das Reich Gottes steht, der sogar durch Wort und Wandel spricht: ich will nicht, ich mag nicht lassen von meinen Sünden, ich mag nicht hören von der Nothwendigkeit der Bekehrung, ich will nach meinem Geschmack, nach meinen Grundlagen leben und mag von denen des Evangeliums nicht hören, ein solcher ist am Ende noch zugänglicher und empfänglicher für die Warnungen, Drohungen, Verheißungen und Belehrungen des göttlichen Wortes, mit einem Worte: bekehrungsfähiger als diejenigen, welche bei ihrem todten, heuchlerischen Namenchristenthum, bei ihrer eingebildeten Frömmigkeit, bei ihrem mechanischen Nachsprechen und gottesdienstlichem Mitmachen in der pharisäischen Einbildung stehen, als wären sie, was sie sein sollten.

Jene Hohenpriester und Schriftgelehrten hatten gewaltige Heimsuchungen, mächtige Anfassungen erfahren. Johannes der Täufer, dieser feurige Prediger der Buße, diese Donnerstimme Gottes hatte ihnen zugerufen: „Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorne entrinnen werdet? Sehet zu, thut rechtschaffene Früchte der Buße. Denket nur nicht, daß ihr bei euch sagen wollt: Wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch, Gort vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Früchte bringet, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ Solches hörten sie. Die Predigt dieses mächtigen Zeugen, dieses größten unter den Propheten, ging Vielen durchs Herz. Versunkene Sünder schlugen in sich und wurden gläubig. Das sahen sie vor Augen; sie sahen, wie aus Tigern Lämmer, aus Schlangen Tauben wurden, sie sahen diese Bekehrten wandeln auf Gottes Wegen und Früchte der Gerechtigkeit bringen; aber siehe, Alles dieß glitt und prallte an dem ehernen Panzer ihrer dünkelvollen Selbstgerechtigkeit und Sattheit ab, sie glaubten bei dem Firniß ihrer oberflächlichen Erkenntniß und Ehrbarkeit einer Erneuerung im Geiste des Gemüthes nicht bedürftig zu sein, und so gingen diese frommthuenden Jabrüder bei all' ihrer vermeintlichen Weisheit und Frömmigkeit verloren, während die offenbarsten Sünder, Huren und Zöllner, von der Barmherzigkeit Gottes ergriffen und überwältigt, in dessen Arme ihre Zuflucht nahmen, auf welchen Johannes, als auf das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt, mit Fingern hinwies.

O, meine Lieben, ist es denn um das todte Namenchristenthum, am das Herr, Herr! sagen, eine so mißliche, bedenkliche Sache, daß selbst die gröbsten Sünder noch eher für die Stimme der Gnade gewonnen werden, so mögen wir Alle wohl mit heiligem Ernste zusehen, welches Schicksal der Gnadenruf unsers Herrn Jesu Christi in unseren Herzen gefunden. Es gilt eine scharfe und unnachsichtliche Revision unseres ganzen Christenthums, es gilt eine schonungslose Prüfung unseres Innersten vor dem Angesichte des Ewigen. Und wenn das Ergebniß einer solchen gewissenhaften Selbstforschung dahin ausfallen sollte, daß auch unser Christenthum ein solches Ja Herr sagen war, während wir dennoch bis dahin liegen blieben in den Banden des geistlichen Todes, o so müsse unser Herz unruhig werden und nicht eher Ruhe erlangen, als bis die Rube bei uns einkehrt, welche der Herr Jesus denen verleiht, welche, gebeugt über ihre Sünden, aufrichtig und gläubig zu ihm ihre Zuflucht nehmen.

Dürfen wir das? Dürfen wir kommen? Dürfen es auch diejenigen unter uns, die bis dahin empörerisch sprachen: ich will nicht? Ach, ja, Geliebte, sehet nur, wie bei aller Schärfe, welche die ernste Nutzanwendung unserer Parabel enthält, dennoch der Herr auch die Elendesten seine Lockstimme vernehmen laßt, seht, wie aus derselben uns eine Liebeshuld, eine Fülle von Barmherzigkeit entgegenstrahlt, die nicht großer sein kann. sagt doch, Gel., seht ihr nicht, wie der Herr Jesus hier auch denen die beiden Retterarme entgegenbreitet, die in Trotz und Leichtsinn dem Satan dienten, ja, wie er Zöllner und Huren nicht hinausstößt, wenn sie nur in aufrichtiger Buße sich zu ihm wenden. Soll uns das nicht Muth einflößen, auch zu kommen? Oder wollen wir thörichte Jungfrauen bleiben, die wohl Lampen ohne Oel tragen und dem Bräutigam entgegengehn, wohl Christengestalt und Christensprache führen, die aber endlich, wenn der Herr kommt, auf ihr: „Herr, Herr, thue uns auf!“ das kalte und schreckliche Wort vernehmen: „Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht!“ Nein, durchgedrungen! Ernst gebraucht! Aufgewacht! Heraus, heraus aus dem unheimlichen Gebiete des todten Namenchristenthums, hin zum Könige des Himmelreiches, damit auch in unsern Herzen das Himmelreich gegründet werde, welches nicht, wie der Satan es uns vorlügen möchte, melancholische Kopfhänger und uns frische Gesetzesknechte macht, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist ist. Ja, dann werden wir selige Leute schon bei lebendigem Leibe, dann bringen wir Früchte des Glaubens zum Preise Gottes und geben endlich ein in das selige Land, wo die triumphierende Gemeinde nicht aufhört, dem erwürgten Lamme ihre Preisgesänge anzustimmen. Amen.

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