Knapp, Albert - Predigt am Adventsfeste

Knapp, Albert - Predigt am Adventsfeste

Text Luc. 17, 20-25.
Da aber Jesus gefragt ward von den Pharisäern: wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: das Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden. Man wird auch nicht sagen: siehe, hier oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch. Er sprach aber zu den Jüngern: Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, daß ihr werdet begehren, zu sehen Einen Tag des Menschensohnes, und werdet ihn nicht sehen. Und sie werden zu euch sagen: siehe hier, siehe da. Gehet nicht hin und folget auch nicht. Denn wie der Blitz oben vom Himmel blitzet und leuchtet über alles, das unter dem Himmel ist, also wird des Menschen Sohn an Seinem Tage seyn. Zuvor aber muß er viel leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.

Der stets wiederkehrende Kreislauf des Kirchenjahrs mit seinen lieblichen Festen und Gottesdiensten, die wir mit Recht als Kleinodien der Seele, als Träger christlicher Ordnung, als Quellen des geistlichen Heils betrachten, erinnert uns allererst an die herzerfreuliche Wahrheit: daß das Reich Gottes noch unter uns ist, und daß der Herr noch immer Lust hat, unter Seinem Volke zu wohnen. Mit gutem Recht singen wir:

Der Herr ist nun und nimmer nicht Von Seinem Volk geschieden; Er bleibet unsre Zuversicht, Und schenkt uns Heil und Frieden. Mit Mutterhänden leitet Er Die Seinen stetig hin und her; Gebt unsrem Gott die Ehre!

Gedenken wir nun heute an das theuerwerthe Wort: daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, Sünder selig zu machen, - so wendet sich unser Blick von selbst auf Seine heilige, seit Jahrhunderten unter uns aufgerichtete Kirchenordnung, auf die edeln Einrichtungen, kraft welcher uns das Evangelium gepredigt, die Sacramente nach Seinem Stiftungswort verwaltet, und die übrigen Mittel des Heils nebst den mannigfachen Geheimnissen der Gottseligkeit ohne Schmälerung mitgetheilt werden. Wir haben demnach die völligste Ursache, uns zu freuen als Bürger eines göttlichen Reichs, und mit geistigen Palmen der Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit unsrem Seelenkönige entgegen zu gehen, der in jeglichem Jahre neu bei uns einzieht. Ja, getreuer, unvergleichbarer Heiland:

Sey hochgelobt den Frommen!
Du kommst; sey uns willkommen
Im Namen unsres Herrn!
Der Herr ist Gott, der Eine,
Der uns erleucht' alleine
Als unser Licht und Morgenstern!

Darum laßt uns aber auch beim Antritt jedes Kirchenjahrs desto tiefer beherzigen, was es sey, dem edeln, ebenso erhabenen als gnadenvollen Reiche dieses Herrn anzugehören, von dessen König schon Salomo weissagt: „Er wird den Armen erretten, der da schreiet, und den Elenden, der keinen Helfer hat; Er wird gnädig seyn den Geringen und Armen, und den Seelen der Betrübten wird Er helfen“ (Ps. 72, 12 ff.). Lasset uns vor allem deß eingedenk seyn, daß dieses Reich ein Reich der rettenden, heilenden Barmherzigkeit ist, das Reich eines aus dem Grabe zum Himmelsthron emporgedrungenen Erlösers, der aber dennoch ein Stellvertreter der göttlichen Gerechtigkeit und Majestät bleiben wird. Lasset uns die Gesetze und Geziemlichkeiten dieses Reichs stets tiefer erkennen, daß es unsern Seelen in ihn, wahrhaftig wohl, und unsere Theilnahme an ihm stets kräftiger und völliger werde!

Ich will unsrem Texte gemäß zu Euch reden: Von der Losung eines redlichen Christen beim Antritt eines neuen Kirchenjahrs: „Lebe dich stets tiefer und inniger in das Reich Gottes hinein!“

Hiezu gehört:

  1. eine wachsende, lebendige Erkenntniß seines geistlichen Wesens;
  2. eine Ausscheidung fremder Dinge, die sich in dieses Reich einmischen wollen;
  3. eine rechtschaffene Vorbereitung auf die größeren Entwicklungen desselben.

l.

Was heißt es: im Reich Gottes stehen? - Das ist für die Meisten noch heute eine sehr dunkle, von ihnen nur schwach und schwankend zu beantwortende Frage, - wie sie vor Alters auch dem Volk Israel, namentlich seinen Lehrern und Führern, ein unauflösliches Räthsel war. „Ein göttliches Königreich auf Erden?!“ - so fragt der natürliche Mensch, der nur auf das Sichtbare siehet, und dessen innere Augen für die Geisterwelt, für unsichtbare, ewige Dinge verschlossen sind. - „Ein göttliches Reich schon in dieser Welt?“ fragt der Weltsinn; „wir dächten, es wäre genug, übergenug, in ein göttliches Reich dort drüben zu kommen, wenn der Tod uns hier unsre Leiber und Wohnsitze zerstört! - Man sollte uns nicht immerfort an die unsichtbare Welt ermahnen, da wir ja in der gegenwärtigen so viel Nöthiges und Erwünschtes zu thun haben!“ - Ja, also redet der irdische Sinn, der weder die Bedeutung der Menschenseele, noch den erhabenen Ernst der Ewigkeit mit ihren Gesetzen kennt. Wenn von einem Gottesreiche die Rede wird, rechnet er lieber auf jede Revolution und einen einzelnen stürmischen Landtag, - als daß er sich diese Frage von dem heiligen Gott und aus Seinem Wort erwiedert wünschte. Von bloßen Welt-Entwicklungen will er das Reich der Glückseligkeit haben, nicht von seinem Gott, dem himmlischen Erbarmer, von keinem Heiland, bei dem freie Gnade gilt. So meinten es auch die Zeitgenossen des Herrn; von einer Umkehrung zeitlicher Verhältnisse, von bürgerlicher Abschüttlung eines Jochs, von weltlichem Einfluß und Wohlergehen erwarteten sie die Ankunft des göttlichen Reiches, und eben daher einen Messias, der ein Welteroberer, ein Schlachtenheld und prangender Erdenfürst seyn sollte.

Selbst die Jünger Jesu nahmen die Frage vom Reiche Gottes anfänglich in zwar milderem, doch noch fleischlichen Sinn, und ihr Gedanke gieng nicht über ein weltlich verherrlichtes Volk Israel hinaus. Die große Verheißung eines geistlichen Reiches, das unsichtbar, aber erneuernd und heiligend durch die Welt hindurchgienge, und dessen Siegesfahnen und Burgen im Grunde der Geister stehen sollten, - war ihrem Blicke vor lauter zeitlichen Erwartungen lange genug verborgen. Diese Meinung wurde jedoch zuerst durch den Tod Jesu Christi, dann furchtbarer durch die Tempelverbrennung und den Sturz Jerusalems, dann durch die Zerstreuung des Volks Israels in alle Lande, am kräftigsten aber durch dir Ausgießung des Heiligen Geistes und die selige Neugeburt der Herzen widerlegt. Wahrlich, als Jerusalem verbrannt war, der Berg Zion wie ein verkohltes Greisenhaupt dastand, und Juda gleich einem verwelkten Blatt vom Sturme geweht durch alle Zonen der Erde dahin flog: da konnte sich einer Seele damaliger Zeit der Spruch Christi vergegenwärtigen: „das Reich Gottes kommt nicht mit äusserlichen Geberden!“ - Und als der Heilige Geist ehemalige Fischer und Zöllner durch die Nationen hintrieb, um ihnen mit Predigten, Wundern, Liebeswerken, Leiden und Thränen den gekreuzigten Heiland zu verkündigen, - als sie sich bei diesem großen Geschäft als ein Fegopfer der Menschen und ein Schauspiel der Welt behandelt und endlich zum Martertode geführt sahen, - als ihnen und ihren tausend Genossen auf der Erde nur noch ein Scheiterhaufen oder ein Block zur Enthauptung oder sonst eine Trübsal in Christo übrig blieb: da mochten sie sich, vom heiligen Geiste getröstet und gestählt, oft des Worts ihres göttlichen Meisters erinnern: „Das Reich Gottes ist inwendig in Euch!“

Als Er, der heilige Meister, einst auf Jacobs Brunnen saß, sprach Er zur Samariterin: „Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge (Garizim), noch in Jerusalem werdet den Vater anbeten; aber es kommt die Zeit und ist schon da, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit.“ - So hat Er's auch hinfort ganz treulich erfüllt und gehalten. Seine Kirchen in der Christenheit bleiben vor Ihm geweiht und heilig, - und die verschiedenen Orte, da Seine und Seines Vaters Ehre bei den Gemeinden wohnt, haben Ihn zu ihrem königlichen Beschützer. Aber Sein eigentlicher Thron steht nicht eigentlich in der Aussenwelt, sondern in dem Grunde der Herzen. Er, der König der Geister, will in den Seelen Seinen Wohnsitz sich bauen und in den Gemüthern Seine Residenz, wie Er verheißen hat: „Wer Mich liebt, den werde Ich lieben, und Mich ihm offenbaren.“ Er lehret uns wohl Seine äusserlichen Heiligthümer, wenn sie nach Seiner Vorschrift gebaut und evangelisch verwaltet sind, mit Andacht ehren und besuchen, - aber Er bindet sich nicht an sie, wie schon Salomo zu Jehovah sprach: „Wie konnte ein irdisches Haus dich umschränken? Siehe, die Himmel aller Himmel können Dich nicht versorgen!“ Er verbindet sich nunmehr ebenso gut mit einem bußfertigen Herzen im Staube, vermählt sich still mit einer nach Gnade weinenden Seele, weiht sich die ärmste Hütte, darin ein Gläubiger wohnt, zum salomonischen Tempel, und richtet darin hinter den Augen der Welt den goldenen Tisch mit den Schaubroten, den siebenarmigen Leuchter des Gebets, das Rauchfaß kindlicher Lobpreisung auf, und führt die gläubigen Seelen selbst mit Seiner durchgrabenen Hand in das Allerheiligste hinein, dort vor dem entwölkten Gnadenthron, den Er mit Seinem eigenen Blute besprengt hat, zu nehmen Gnade um Gnade.

O wie süß ist diese Botschaft, wenn man sie richtig erwägt! Sie geht auf den innersten Seelengrund, und verbindet die Bedürfnisse der Gewissen mit den äusserlichen göttlichen Anstalten des Heils. Keine Religion gewährt uns dieses, wie Jehovah und Christus, die Eines sind, in der Person des Heilandes. - Glaube du getrost an den Sohn Gottes, und laß Seine sichtbaren Gottesdienste dich durch den Vorhang der Aussenwelt zu Ihm hineinführen! Laß dir die verschiedenen Mittel des sichtbaren Gottesreichs, das du nicht als eine Weltprovinz ergreifen wirst, dazu dienen, daß Er selbst in dir geboren und durch die Liebe in Dir, als die Freudenpalme der Ewigkeit, eingewurzelt und gegründet werde, - ja, daß du ein Herzensgenosse jenes inneren Reichs werdest, welches ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist!“ - Dann geschiehet an dir geistlich viel herrlicher, ja, auf ewig dauernde Weise, was dereinst im Passah, im Pfingst- und Laubhüttenfest an den Tausenden in Israel segnend vorüberging; - der Herr wird selbst das Abendmahl mit dir halten, und du mit Ihm, - der Heiland wird Sein Pfingstfest in Dir mit verborgenen Flammen der Liebe feiern, und Sein Erndtefest wird der Heilige Geist nicht mit dir halten unter verwelklichen Lauben, sondern Gott wird deine Krone, und die geglaubte Barmherzigkeit wird der grünende Lorbeer deiner gesegneten Stirne seyn, auf welche Gott selbst einen Namen schreibt, den Niemand kennt, als wer ihn empfähet. Was einst von aussen in heiligen, stummen Bildern geschah, um Seelen eine Vorbedeutung zu geben, wird sich in dir selbst, ohne, örtlichen Zwang, überall, wie bei Jakob wiederholen, der da sprach: „Ich habe Gott geseh'n, und meine Seele ist genesen!“

Alle äusseren Anstalten der Kirche haben nur dann einen wahrhaftigen Werth und dauernden Segen, wenn Christus Sein Reich innerlich in uns ausrichtet und eine Gestalt in den Herzen gewinnt. Der Besuch des Gottesdiensts ist eine löbliche Sache; was aber kommt dabei heraus, wenn unser Herz nicht ein geistlicher Tempel des Herrn wird, worin er Seine Gottesnatur offenbaren und verklären kann? - Die Feier des heil. Abendmahls ist etwas Edles und Unentbehrliches; aber was hilft sie, wenn wir Ihn, den Menschensohn, der an unsrer Thüre klopft, nicht einlassen, daß Er innerlich Sein Abendmahl mir uns halten kann, und wir mit Ihm? - Eine tüchtige Kirchenverfassung mit weisen Gesetzen und frommen Ordnungen gehört gewißlich zu den Kleinodien eines Volks, aber was frommet sie auf den Tag der Ewigkeit, wenn ihre äusseren Formen nicht zu Geist und Leben in uns werden, und wir dem heiligen Geiste nicht verstatten, das Reich Jesu Christi mit Seiner heitern Gerechtigkeit in uns zu bauen und zu vermehren? - Auf Seine Person deutend, konnte einst Jesus bezeugen: „hier ist mehr, denn der Tempel!“ Denn Seine Menschheit war die allerheiligste Behausung Gottes im Geist, vor welcher zuletzt das äusserliche Wesen des Alten Testamentes mit all seiner irdischen Tempelpracht in Asche versank. - Gleicherweise verhält sich's mit uns. Ein einziges von Christo ergriffenes Herz, und wenn es einem Taglöhner gehörte, ist von höherem Werth, als der prachtvollste Dom, worin das Wort und Leben Jesu nicht wohnt, - und eine einzige, Ihm ganz anhängende Seele, - wäre sie auch gering und verachtet in dieser Welt, - ist vor Ihm köstlicher, als hundert glänzende und Berühmte Gelehrte, von welchen die Wissenschaft Seines Wortes und die Fortpflanzung Seines inneren Reiches nur lau betrieben wird. - Wollen wir in das Reich Gottes hineinwachsen, und nicht zu den verdorrenden Pflanzen darin gehören, so handelt es sich darum, daß wir stets inniger und kindlicher in die Gemeinschaft Jesu Christi eindringen, damit Sein Heiliger Geist die tiefsten Falten unsres Gemüths mit Seinem neubelebenden Athem durchwehe und reinige, und darin das Wesen der Gnade und Wahrheit wachsthümlich entfalte. Dieses Ziel halte sich unser Herz beim Beginn des Kirchenjahrs mit erneuerter Buße und Andacht vor, - dann wird unser ferneres Kirchenleben ein Gedeihen im Reiche Gottes seyn.

II.

Bei solchem Sinne werden wir auch am gewissesten die vielen unreinen Kräfte und Irrthümer ausscheiden, die sich in dieses Reich fort und fort einzudrängen suchen. Bei unsern gläubigen Vorfahren galt es von der Reformation her nicht nur als eine besondre Pflicht, sondern auch als ein Ruhm, in der christlichen Lehre gesund, rechtgläubig und auf dem prophetisch-apostolischen Grunde lauterlich auferbaut zu seyn. Unsre Voreltern hatten hierin Recht, denn sie hatten eine lange, traurige Erfahrung vor sich: daß, wo schlecht gelehrt wird, da auch übel gelebt wird. Auch galt ihnen die Kirchenzucht noch weit höher, als uns Neueren, bei welchen dieser heilsame Zaun beinahe völlig durch Uebergriffe der weltlichen Gewalt zusammengerissen ist. Doch trägt die Kirche Christi noch immer genug göttlicher Kräfte in sich, um, wenn es ihr Ernst ist, den Irrthum in Lehre und Wandel auszuscheiden, - denn sie hat noch das Wort Gottes und die Verheißung des Heiligen Geistes, also zwei Waffen, denen, wofern sie richtig und furchtlos gebraucht werden, kein äusserer Feind widerstehen kann.

Wie viel an der Ausscheidung solcher unreinen Kräfte, die bald in drohender Feindschaft, bald mit verstellten Lockungen auftreten, gelegen sey, - zeigt uns der Heiland hier auf eine sehr eindringliche Weise. Er deutet uns an, wie all jene irrthümlichen Richtungen und Gesinnungen vorzüglich im fleischlichen Sinn ihren Sitz haben, der das göttliche Reich unter unzähligen Vorwänden fort und fort zu etwas Aeusserlichem und Weltlichem machen will, und darüber die inneren Bedürfnisse versäumt, und das geistliche Leben schwächt oder gar ertödtet. - Wie wenig bei dieser Gesinnung erzielt wird, beweist jenes Hosianna-Rufen am Tage, da Jesus in Jerusalem einzog. Damals war die Stadt Gottes von einem Freudentaumel bewegt, - aber jene feurige Wallung dauerte, einzelne stille Seelen abgerechnet, nur kurze Zeit. Als die Menge sah, daß ihr kein weltlicher Messias erschienen, ja, daß der Rabbi Nazareth von den amtlichen Behörden verhaftet und verurtheilt sey, verwandelte sich das milde Hosianna schnell in den blutdurstigen Schrei: „kreuzige ihn!“ - Sie maßen das Reich Gottes mit dem Maaßstabe der Sichtbarkeit und des weltlichen Ansehens, und es ist denkbar, daß Viele den Heiland auch darum zum Tode forderten, weil sie sich in ihrer fleischlichen Erwartung so stark getäuscht sahen. Wie Christus hier sagt, so sprachen sie: „siehe hier! siehe da!“ - Hätte Er ihnen irdische Freiheit, Gold, Ehre, Weltgenuß mitgebracht, hätte er den pharisäischen zähen Sauerteig, mit dem man seit unfürdenklicher Zeit so viele Ehren und Würden zusammenleimte, in alter Ruhe gelassen, ja, dann hätte man Ihn geliebt und willkommen geheißen, denn dann wäre dem alten Unwesen, worin eine Hand die andere wäscht, auch vollends ein himmlisches Siegel aufgedrückt worden! Das aber wollte der Menschensohn nicht, und darum hat Ihn die Welt gekreuzigt.

So geht es durch alle Jahrhunderte der Kirchengeschichte. Je geistiger und erneuernder Jesus Christus auf den Grund der Gewissen dringt, um daselbst einheimisch und ein Herr Seines Reiches zu seyn, desto heftiger braust die alte Hefe in den ungöttlichen Gemüthern auf, desto zorniger und listiger sträubt sich die Welt dagegen, desto stärkere Bollwerke thürmt sie empor. Der Weltsinn, auch in der Christenheit, läßt den Kindern Gottes nichts unangefeindet, nichts unverkümmert. - Aeusserlich, herrschend, bequem, ansehnlich, berühmt, - so will er das Reich Jesu wohl etwa dulden, denn dann ists eben auch ein weltliches Reich, auf das man mit Fingern weisen, dessen man sich rühmen, von dem man sagen kann: „siehe hier, siehe, da!“ - So hat der Feind die Kirche schon oft nach ihren mehreren Theilen gestaltet, und je mehr es ihm gelingt, desto eitler, geistloser und elender wird sie; das weiß er wohl. - Aber den Geist Jesu, der ein Feuer anzündet auf Erden, der frei hervorbricht, der ohne Ansehen der Person richtet und wirkt, - den kann er nicht leiden; das Regiment dieses Königes in den Herzen verschmähet er. Prächtige Münster und Thürme hat Ihm das Mittelalter erbaut, und allmittelst Seine lebendigen Zeugen mit Feuer verbrannt. Viel edle Vorsätze und Anregungen hat man in Seinem Namen begonnen, und wenn der Weltgeist dabei saß, kam meist nur eine ärmliche, verkrüppelte Frucht zum Vorschein, weil die Selbstsucht und der ungläubige Hochmuth als ein giftiger Mehlthau auf himmlische Blüthen fiel, ja, weil man im Geiste begann, und im Fleisch vollendete! - In hohen Aemtern und Winden zu sitzen für Christum, wird für ein Glück geachtet, - aber wie oft war der Heilige Geist von solchen Versammlungen fern, wie der Morgen vom Abend, - und wie schwere Versuchungen bringt noch immerfort der Weltgeist denjenigen, die zugleich geistlich gesinnt und zugleich weltlich seyn sollen! Die Gefahr ist in vielfachen Verhältnissen jederzeit diese, daß man nach beiden Seiten schielen und zween Herren huldigen soll. Das Reich Gottes gehet die Herzen an, denn darin wirkt der lebendige Gott; aber der Weltgeist mischt sich immerfort in's Geistliche hinein, und spricht: Wenn es nur äusserlich wird, wenn es nur, auch unter künstlichen Ränken, menschliche Geltung und Würdigung empfäht, daß man sich, wenn gleich mit verwundetem Gewissen, zufrieden geben und sagen kann: „siehe hier, siehe da!“ dann ists genug! - Das ist aber nicht genug, sondern nicht einmal recht angefangen! Wenn nur die Kirche einigen Schimmer hat, dann läßt es der Weltgeist auf sich beruhen, und übergeht unzählige Mißstände und Fehler. Er weiß sich zu helfen, damit es schlecht bleibe, weil er die Menschen fürchtet, und das Bessere ohnehin nicht von Herzen will, und unter diesem Joche der Aussenwelt verbringen Viele die besten Tage ihrer Gnadenzeit ohne bleibende Frucht für den Himmel. - Sie arbeiten Viel, und es gilt doch im Himmel zuletzt wenig oder nichts, weil sie die heiligen Sachen des Reiches Gottes nach bloßer Weltgefälligkeit behandelt, und dadurch den unverrücklichen Herzenssinn Jesu Christi verleugnet haben.

Er ist ein innerlicher Heiland, und besorgt die Herzen, er siehet auf sie nach ihrem innersten Flehen und Bedürfniß. Darum hat Er Sein geistiges Reich auch zu allen Zeiten nur durch freithätigen Kampf emporgeführt und im Sieg erhalten. - Nichts ist eigensinniger, als ein hoffärtiger Verstandesirrthum, der in Würden sitzt. Luther, der Held, hätte viele Bittschriften einreichen müssen, wenn er die Reformation der verfaulten Christenheit hätte nach dem Styl seiner Zeit vollführen wollen. Innerlich war der Heiland bei ihm, darum brach seine Flamme des Glaubens auch unverhindert empor, - und wenn wir es wüßten, wie viele weltliche Schreiben und Ansinnen dieser Mann mit seinem heiligen Gottessinn sieghaft übersprungen hat, so würden wir uns wundern, und es tiefer fühlen, daß nur durch freie, gläubige Abwerfung des Irrthums ein bleibendes Siegspanier in der Kirche des Herrn sich erheben kann. - Es gilt, entschieden, wenn auch mit Mäßigung, wider das Wesen der Welt aufzutreten; es gilt, ohne Menschenfurcht gegen ungöttliche und halbherzige Dinge in der Kirche sich erklären, die nur solange als erträglich und ehrenhaft bestehen können, als die lautere Wahrheit nicht frei dagegen auftritt. Es gilt, hier geistliche Waffen der Ritterschaft zu führen, damit der Geist unverkümmert zu seinem Recht gelange, und, wenn auch unter herberem Kampf und ernster Geduld, den weltlichen Irrthum in Lehre und Wandel vom Element der einen, unvergänglichen Wahrheit ausscheide.

Von der Welt sollen wir kein Heil für unser inneres Leben erwarten. Mag sie mit ihrer eingebildeten Weisheit, oder mit ihrer selbstgelobten Gerechtigkeit, mit ihrer Kunst oder ihren Freiheitsversprechungen erscheinen: sie verkümmert stets den vollen Sieg und Genuß des Lebens Christi, und vermengt die Wahrheit mit willkürlichem Irrthum; es läuft bei ihr zuletzt meist nur auf Aeusserlichkeiten, ungesegnete Zeitmeinungen, irdische Behaglichkeit und eitle Menschenehre hinaus, - auf ihr altes Losungswort: „siehe hier, siehe da!“ - Uns aber soll, wofern wir dem Herrn anhängen, nichts anziehen oder begeistern, als was einfältig und demuthsvoll mit Seinem lauteren Wort übereinstimmt, was zu kindlicher Erbauung in Ihm, zu lebendiger Förderung des Glaubens und der Liebe dient, und, wenn auch öfters in geringer Gestalt, doch in der keuschen Aehnlichkeit Seiner himmlischen Gesinnung einhergeht. Je tiefer wir diesen Sinn der entschiedenen Einfalt in uns aufnehmen, desto schärfer werden unsre geistlichen Sinne zur Unterscheidung des Guten und Bösen, des Aechten und Nichtigen werden, - desto kräftiger werden wir den Irrthum in jeglicher Gestalt von uns abwehren, desto tiefere und gesündere Wurzeln werden wir treiben im heiligen Grunde des neuen, ewigen Testaments.

III.

Hiebei haben wir aber dann auch Ursache, auf die sichtbare Entwickelung, jenes Reiches uns mit Zucht und Furcht vorzubereiten, wie es denn ein Grundzug der Kinder Gottes ist, die Erscheinung ihres Herrn lieb zu haben. - Christus wird sichtbarlich wiederkommen, wie Er gen Himmel gefahren ist.

Von dieser Seiner Zukunft zu Erlösung der Gläubigen und zu herrlicher Aufrichtung Seines Reiches auf Erden ist schon viel, wenn gleich oft in bester Meinung, geträumt und falsch prophezeit worden. Im Jahre 1000 nach Seiner Geburt erwartete man mit großer Bewegung Seine sichtbare Wiederkunft, so daß die damaligen Landesordnungen sich theilweise ganz überwälzten, und ein Schauer durch unzählige Herzen drang. - Auf solche und ähnliche Erwartungen, die sich je und je, bis aus die neueste Zeit wiederholt haben, gehet Sein Wort: „Es wird die Zeit kommen, daß ihr begehren werdet zu sehen“ einen Tag des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.“ - Gleicherweise bezeichnet Er diese voreilige Hoffnung im Gleichniß von den zehn Jungfrauen, die, als um Mitternacht das Geschrei: „der Bräutigam kommt!“ verlautete, zwar aufstanden, dann aber, als er verzog, wieder einschliefen. Manche Seele, die blos auf die äussere Erscheinung des Herrn hoffte, und dabei keinen inneren Kern in sich pflanzen und reifen ließ, ist durch eine flüchtige Erschütterung eine Weile lang wachsam und fromm geworden, dann aber, als ihre zeitliche Erwartung nicht eintraf, allmählig wieder lau und verblendet in das Gewühl dieser Welt hinabgesunken. Es wird viel Vorlautes über das sichtbare Kommen des Herrn geredet, was keinen gehörigen Grund in der Bibel hat, und die Gemeinde Christi, die jedenfalls weiß, daß uns der Tod immer nahe steht, soll sich dadurch nicht irre machen, noch zu schwärmerischer Einseitigkeit hinreißen lassen.

Der Herr wird dennoch einmal kommen, wie ein Blitz, der den Himmel vom Aufgang bis zum Niedergang überflammt, und von dieser Erscheinung werden lauter ewige Schicksale, auch die unsrigen, abhängig seyn. Aber, - sprichst du, - warum ist Er denn seit 1800 Jahrhunderten nicht gekommen? ist daher Seine Wiederkehr nicht auch jetzo noch in unabsehliche Ferne hinauszurücken? - Ich antworte dir: meinst du, der Herr, vor welchem tausend Jahre wie ein Tag sind, habe sich verrechnet, als er uns mit brennenden Lichtern und umgürteten Lenden auf Sich warten hieß? - Siehe, wenn wir nicht beten und wachen, verschlingt schon eine einzelne, mächtig auftretende Wendung der Zeiten unser Herz, daß es betäubt und von kräftigen Irrthümern berauscht, sein Heil versäumet und eine Beute des Todes wird. Nur ein ernstlicher Hinblick auf die Wiederkunft Jesu kann uns vor den verderblichen Trugbildern der Zeit und vor stolzweltlichen Erwartungen beschirmen, die nach einigem Schimmer und Lärm in ihr eigenes Nichts zerfahren, und doch so manches arme, betrogene Herz verschlingen. Nur, wer im Blick auf Jesum seine Zeiten durchläuft, wird von der Zeit nicht getäuscht und verführt, und kann freudig auf den Tag der Herrlichkeit hinschauen. Jedenfalls aber bleibt uns, - der Herr säume nun kürzer oder länger, unsre eigene Sterbestunde ganz gewiß, - jener Tag, an welchem die Heiligkeit Gottes uns überflammt und zur Rechenschaft fordert, - jener Tag, der als Weltgericht für die scheidende Seele gilt, und wo nichts uns wichtiger erscheinen wird, als Jesum im Herzen zu haben mit der Kraft Seines versöhnenden Blutes, mit dem Lichte Seines Heiligen Geistes, um bestehen zu können vor des Menschen Sohn. Auch unser Tod ist eine Zukunft des Herrn, die uns vor Seinen Thron fordern. Komme Er, wie und wann Er wolle; genug Er kommt, und mit Ihm Seine Vergeltung, Sein unwiderruflicher Ausspruch über unser ewiges Loos. Daß wir dann bestehen, das, Geliebte, sey und bleibe unsre tägliche Sorge. Um jenes ewigen Reiches willen, wo ein Jahrhundert ein Augenblick ist, lohnet sich's wohl, das brennende Lampenlicht eines redlichen Glaubens festzuhalten und immerfort zu nähren aus der Fülle dessen, welchen Gott gesalbt hat mit dem Freudenöl über all Seine Genossen. Denn mancher Verlorene würde hier gern ein Jahrtausend auf den Knieen liegen, wenn er bei Zeiten eine einzige Gnadenstunde gebetet hätte, - und jedem Himmlischen wird seine durchkämpfte, von Thränen oft so lauge durchflossene Pilgerzeit dort oben nur wie ein Nebel erscheinen, der einen Augenblick einst die goldenen Zinnen Zions umhüllte, dann in die Tiefe sank. - Heilig und hehr ist Gott, unser Herr, Er, der da ist, der da war, der da kommt! Aber aus keinem helleren Auge blickt Er uns an, als aus dem Antlitz Jesu Christi, und die richtende Flamme seiner Majestät mildert sich für die Gläubigen in diesem Gnadenlichte des neuen Testaments. Wer im Blute des Sohns Gerechtigkeit, im Ausfluß des Geistes die neue Natur, zu welcher wir berufen sind, bei Zeiten fand, dem wird der Herr, wann Er kommt, nicht als ein Blitz aus den Wetterwolken des Gerichts, sondern als die holde, unermeßlich herrliche Morgensonne erscheinen, und er wird wandeln im Glanze des ewigen Aufgangs.

Drum, wer wollte sonst was lieben,
Und sich nicht beständig üben,
Dieses Königs Freund zu seyn?\ Muß man gleich dabei was leiden,
Sich von allen Dingen scheiden:
Bringt's ein Tag doch wieder ein!

Schenke, Herr, auf meine Bitte
Mir ein göttliches Gemüthe,
Einen königlichen Geist,
Mich als Dir verlobt zu tragen,
Allem freudig abzusagen,
Was nur Welt und irdisch heißt! -

Amen.

Quelle: Dr. Christian Friedrich Schmid/ Wilhelm Hofacker - Zeugnisse evangelischer Wahrheit, Bd. 3

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