Kapff, Sixtus Carl von - Predigt am 7. deutschen evangelischen Kirchentag zu Frankfurt a. M. den 23.9.1854, Abendgottesdienst

Kapff, Sixtus Carl von - Predigt am 7. deutschen evangelischen Kirchentag zu Frankfurt a. M. den 23.9.1854, Abendgottesdienst

Christliche Gemeinde, ist es nicht ein eigentümlicher Kontrast, wenn in eine Welthandelsstadt wie diese ein Kirchentag hineintritt mit seinen stillen und, wie es scheint, nur einer jenseitigen Welt zugewandten Werken? Man sagt sonst, dass die eine Hälfte der Welt von dem nichts weiß, was die andere treibt und tut, ob das nicht auch der Gedanke manches Bürgers dieser Stadt gewesen ist, der in diesen Tagen aus Neugierde in die Pauls-Kirche getreten! Dennoch ist die Losung der geschäftigen Weltkinder keine andere als die der Männer des Kirchentages, ja bei Weitem sogar ist es ein Wort des Herrn, das sie als ihre Lebenslosung im Munde führen: „ich muss wirken, dieweil es Tag ist die Werke des, der mich gesandt hat“? Ja, wirket nur, ihr Einen wie ihr Andern, die Werke des, der euch gesandt hat, aber wirket sie in dem rechten Sinne! So lasst denn die Lebenslosung des Herrn, in ihrem wahren Lichte betrachtet, den Gegenstand unserer heutigen Abendandacht sein.

Vernehmet die Worte der heiligen Schrift Joh. 9, 1 - 4.

Und Jesus ging vorüber, und sah einen der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn, und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser, oder seine Eltern, dass er ist blindgeboren? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern, sondern, dass die Werte Gottes offenbar würden an ihm. Ich muss wirken die Werte des, der mich gesandt hat, so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann.

Auf ein Dreifaches werden wir bei diesem Text hingewiesen:

  1. auf die Betrachtung der Veranlassung dieses Wortes des Herrn;
  2. auf den Sinn, in dem er es als seine eigene Lebenslosung gebraucht;
  3. auf den Sinn, in dem es unsere Lebenslosung werden soll.

I.

Die Veranlassung gibt dem Herrn ein Bedenken der Jünger, ein Bedenken, das schwer auf manchem Herzen liegt, und gar manchmal auch unter uns laut wird: „ob denn das Maaß des Kreuzes und der Zuchtruten, das jedem Einzelnen zugeteilt wird, auch das Maaß seiner persönlichen Verschuldung sei?“ Dass es ein solches Gesetz der Vergeltung schon hier auf Erden in der Geschichte der Völker gebe, lässt sich nicht verkennen. Der Grieche Herodot schreibt seine Geschichte als eine Geschichte der vergeltenden Nemesis, und ein anderer Grieche, Diodor, hat den Geschichtsschreiber den Diener der Vorsehung genannt. Deutlicher noch finden wir diese Vergeltung in der Geschichte des Volkes Gottes: so oft Abfall, so oft auch Ruin und fast Untergang des Volks, so oft Treue, so auch Blüthe und Heil. Was Wunder, wenn nun die Jünger auch in dem Leben der einzelnen Glieder der jüdischen Gemeinschaft das Gesetz Gottes wiederzufinden meinen? Aber welch ein weitgreifender Gesichtspunkt, auf welchen sie der Herr vielmehr hinweist! denn ob es wohl wahr ist, dass zuweilen schon in diesem Leben auch in der Geschichte des einzelnen Sünders der Finger Gottes das „irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten“, mit so großen Buchstaben hinschreibt, dass auch der Vorüberlaufende es erkennen kann, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass hier die Zeit der Ernte noch nicht ist, sondern die Zeit des Ausreifens, und dass Gott manchen verdorrten Stamm, der reif zum Verbrennen scheint, nicht bloß drei Jahre wie dort im Evangelium, sondern wohl dreißig und siebzig Jahre stehen lässt, ob er noch Frucht bringen möchte, darum denn auch Kreuz und Ruthen, die über den Einzelnen kommen, keineswegs als das Maaß seiner persönlichen Verschuldung angesehen werden können; wie viel andre und von Menschengedanken ungeahnte göttliche Endzwecke dabei zu Grunde liegen können, das macht uns grade hier die Antwort des Herrn klar: „darum ist er blind geboren worden, damit Gottes Werke an ihm offenbar werden“, er will sagen: damit durch mich Gottes Wunderkraft an ihm offenbar werde. Wer hätte nun von selbst sich einen solchen göttlichen Endzweck einfallen lassen? Wir dürfen aber auch diesen nicht etwa als den einzigen ansehen; wer weiß denn, was durch ein solches blindgebornes Kind an den Eltern selbst, an Verwandten und Freunden für göttliche Endzwecke erfüllt wurden, was an ihm selbst seine Blindheit für seinen inneren Menschen gewirkt hat!

Nur von demjenigen Endzwecke Gottes spricht der Herr, der durch ihn selbst sich jetzt erfüllen sollte, von dem, der besonders trostreich für ihn war, wie er es auch für euch ist, ihr unverschuldeten Kreuzträger alle. Denn wenn nun auf euer wehmütiges „Herr, warum?“ der Herr vor euch träte und spräche: „darum, mein Sohn, meine Tochter, damit Gottes Werke an dir offenbar werden, darum, damit du erfahrest, was für einen Schatz geistlicher Herrlichkeit Gott in ein solches, nach seinem Willen getragenes Leiden legen kann, damit dein Kreuz selber ein Schauplatz göttlicher Herrlichkeit werde“ - ist solcher Trost nicht ein schmerzstillender Balsam auf eure Wunden? Hat nun der Herr, Geliebte, in diesem Zusammenhange das Wort gesprochen: „Ich muss wirken, so lange es Tag ist“, so erkennen wir auch den Sinn, in welchem Er es zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Wir sehen, was für Werke er meint, zu denen der Vater ihn in die Welt gesandt hat, Werke der Erbarmung an dem auswendigen Menschen muss er meinen, denn ein solches hat er hier vollbracht; aber namentlich das Werk am inwendigen Menschen muss er meinen, denn dass er gekommen sei zu suchen, was verloren ist, spricht er ja als seinen Zweck aus, und auch hier ist es die Seele des Blinden, die er eben durch die leibliche Heilung mit hat heilen wollen. Ist es nicht merkwürdig, wie der Heiland hier und anderwärts auch seine leiblichen Heilungswunder mit seinen geistlichen Werken zusammenbegriffen hat? zum Zeichen eben, dass er nicht bloß als Heiland der Seelen, sondern auch des Leibes erschienen ist; „wir warten auch auf unsres Leibes Erlösung“ schreibt ja Paulus. Das erste aber, was gefallen ist, ist der Geist des Menschen - erst ist die Sünde in die Welt gekommen und danach erst das Uebel und der Tod. So haben wir nun diese einzelnen leiblichen Heilungswunder des Herrn nur als Vorzeichen davon anzusehen, dass wenn sein Geist unsre Geister wird durchdrungen Wen, er dann auch seine Macht beweisen wird am Ende an unsrer leiblichen Hülle. Hier haben wir nur die Erstlinge des Geistes, wenn aber das Pfingsten der Ewigkeit wird gekommen sein in einer vollen Ausgießung des Geistes, dann wird, wie unser Luther spricht, auch die Natur ihr Pfingstkleid anlegen und damit zugleich unsre Leiblichkeit, die ja ein Stück der Natur ist und von ihr genommen.

II.

Werke der erbarmenden, der erlösenden Liebe an dem auswendigen und an dem inwendigen Menschen sind es also, zu denen der Vater ihn gesendet hat, und die er unablässig tut, so lange es Tag ist. Welch‘ ein Eindruck nun, wenn man das Wort, welches die Losung dieses in Liebesdurst sich verzehrenden Herzens war, diejenigen auf die Lippen nehmen sieht, die in ihrem Rennen und Jagen vom Morgen bis zum Abend keinem andern Gotte dienen sieht, als ihrem eigenen Mammon! Was ist das für ein niederschlagender Eindruck, wenn man etwa so am Hafen einer großen Weltstadt steht, vor der Geschäfts- und Arbeits-Hitze, vor den turmhohen Warenballen, vor dem Walde von Segeln, den belasteten und entlasteten Schiffen, und sich nun fragt: wem dienen diese Werke vom frühen Morgen bis an den späten Abend, der Liebe oder dem Mammon? O, sie brauchten ja nicht notwendig bloß weltliche Werke zu sein, diese wie alle anderen Berufsgeschäfte, sie könnten ja auch als Werke der dienenden und erlösenden Liebe geübt werden. Denn das Werk des Handelsstandes wie alle anderen bürgerlichen Geschäfte, dienen sie nicht dazu die Schranken des Lebens zu erweitern, den Menschen von den Banden der Natur mehr zu befreien und menschliches Wohlsein zu befördern? Aber freilich, die rechten Werke erlösender Liebe sind das nicht, auch wenn sie im Geiste dienender Bruderliebe geübt werden. Dem Menschen wohler und wohnlicher auf Erden zu machen, dazu können sie dienen, aber die Tränen der Menschheit stillen und ihre Wunden heilen, das können sie nicht. Den Umfang derjenigen Werke erlösender Liebe, die das können, der Christenheit nachdrücklich in's Gedächtnis zu rufen, das ist eine der Aufgaben, welche dieser Kirchentag erfüllt, so oft er jährlich in einer der deutschen Städte sein Zelt aufschlagen darf. Wie mancher Bürger dieser Stadt, der ihn bis jetzt noch gleichgültig zusieht, der, wenn er in dem Lichte ihn betrachtete, und zurufen würde: willkommen Brüder, ihr habt ein gutes Werk zur Hand genommen! An euch will ich mich richten, ihr, die ihr so gern euch die Volksfreunde nennen hört, wenn etliche von euch die Neugierde hierhergeführt hätte, die ihr ganz anderen Rednerbühnen sonst zu lauschen pflegtet, meinet nicht, dass wir Freunde der Kirche jedes der Worte, die damals von dort gehört worden, mit Vergessenheit bedecken möchten. Und wenn wir alle anderen in ewige Vergessenheit zu begraben Grund hätten, Ein Zuruf, der damals so laut erscholl, ist uns Freunden der Kirche unvergessen geblieben, der Zuruf, dass das vergessene Volk in seinen Nöthen unserer bedarf, ja dass es ein Anrecht an uns hat, denn es ist unser Fleisch und Blut, und, was ich hinzusetze und was noch mehr sagen will: es sind unsre Miterlösten in Christo. Mögen viele von Denen, denen das Vergessen dieses Zurufs am gefahrbringendsten ist, ihn wieder vergessen, gerade die Kirche hat sich ihn seit jenen Tagen zu Herzen gehen lassen. Viele ihrer Diener haben erkannt, dass es mit der Schulweisheit nicht mehr geht, dass es mit dem Predigen in den Kirchen nicht mehr genug ist, dass Altar und Kanzel zu hoch sind, um die Kirchenflüchtigen und Kirchenverächter von da zu erreichen, dass die Liebe neue Kanäle graben und neue Pforten auftun muss zu den harten Herzen. Wie du, gnadenreicher Menschensohn, auf den Heerstraßen und in den Hütten, unter den Hurern und Ehebrechern dich finden ließest, so fangen auch deine Diener an, sich wieder auf den Straßen, in den Hütten und Handwerkstätten sich finden zu lassen. Seht her, ihr Volksfreunde, die ihr diesen Namen mit Wahrheit tragt, jeder Kirchentag ist ein neuer Bund unter denen, die dem Volke Deutschlands aus seinen Nöthen helfen möchten - aber auf andere Weise freilich als die meisten von euch das wollen und meinen. Denn wir sind Menschen, die das Wort der Schrift in seiner Wahrheit erkannt haben, dass die Sünde der Leute Verderben ist, und dass nicht Uebel und Tod zuerst in die Welt gekommen, sondern zuerst die Sünde, und daraus alles Uebel und alle Nöthe. Darum wir auch nicht von Außen her die Schäden der Menschheit heilen wollen, sondern von Innen heraus, nicht mit Salbe und Pflaster, sondern durch Buße und Glaube. O, seid ihr es denn nicht inne geworden, wie alles Drehen am Zeiger des Uhrwerks nichts hilft, so lange das Werk nicht geheilt ist? dass der Mensch, Haus und Familie, nicht gesund werden kann, so lange das Herz faul ist! Was sind alle Almosen und Wohltaten, die man in die Hütten der Armen hineinträgt, gegen die Wohltat, ihnen einen lebendigen Gott und einen Erlöser von allem Uebel zu bringen. Wer das erkannt hat, der schlage die Hand mit ein mit den hier versammelten Freunden der Kirche; es ist fürwahr ein gutes Werk, an das wir die Hand gelegt haben!

III.

In Bezug auf diese Werke erbarmender Liebe dürfen und sollen wir mit des Heiland Wort zu andern Brüdern sprechen: „ich muss wirken, dieweil es Tag ist, die Werke des, der mich gesandt hat, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“; aber Ein Werk erbarmender Liebe ist darunter, in Bezug auf welches Er das nicht mit uns spricht: das Werk erbarmender Liebe an uns selbst. Was hülfe es dem Menschen, dass er der ganzen Welt sich erbarmte, so er doch kein Erbarmen hätte mit seiner eigenen Seele? Und solche grausame Thoren gibt es - vielleicht selbst mitten unter uns. Die Macht des Selbstbetruges ist beim Menschen unbeschreiblich. Wie über ihre eigenen Schoßsünden sich manche dadurch beruhigen, dass sie dieselben an andern desto härter strafen, so gibt's ja auch manchen, der nur darum-so eifrig an den Seelen Anderer arbeitet, um damit sich von der Arbeit an seiner eigenen Seele loszukaufen. Auch wollen wir's uns nicht verhehlen, dass, wie neben jeder Kirche der Teufel seine Kapelle baut und kein Licht ist, neben dem nicht sein Schatten herliefe, dass solche Kirchentage selbst in der Hinsicht für manche ihre Gefahr haben, die Gefahr, das erste und vornehmste Werk erbarmender Liebe, zu dem Gott uns in die Welt gesandt hat, zu vergessen, das der Erbarmung an unserer eigenen Seele. O, und wenn auch diese gesegneten Tage die Liebeswerke an unsern Brüdern uns aufs neue an's Herz legen, Brüder, lasst es uns nicht vergessen: das erste und nächste Geschäft, zu dem wir in die Welt gesandt sind, ist doch, unsre eigene Seele zum Tempel Gottes auszubauen. Das Werk, zu dem ein jeder von uns im nächsten und eigentlichsten Sinne in die Welt gesandt ist, ist's ein anderes als ein Mensch Gottes zu werden? Ist's das Werl nicht auch, welches, während alle anderen Werke der Erbarmung, die wir tun können, von Umständen und Verhältnissen abhängig sind, von allen Umständen und allen Verhältnissen unabhängig ist, das Werk, das auch in bitterster Armut und auf langwierigstem Siechbette sich vollziehen lässt, ja gerade da am gedeihlichsten und gesegnetsten vollzogen wird? Ist es nicht das Werk, bei welchem mit einem verdoppeltem Zentnergewicht das Wort in die Seele fällt, „denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“? Auch im Reiche Gottes gibt es ein zu spät, die Hochzeitgäste waren geladen, die Thüren zum Hochzeitmahl des Sohnes standen offen, die Stunde drängte, - was du in der Zeit verloren, bringt keine Ewigkeit mehr ein! Dieses ersten aller Werke, wozu der Vater uns in diese Welt gesandt hat, will wahrlich kein Kirchentag euch vergessen machen durch die Mannichfaltigkeit der Liebeswerke an andern, die er vor euch ausbreitet. Ist doch alle Arbeit an anderen Seelen in dem Maße nur gotteskräftig als der Arbeiter an der eigenen Seele gearbeitet hat; ist doch der Ernst der Heiligung das Salz an allen Opfern unserer Liebe. O, wie ein göttlicher Saft fließt der Geist der Treue, in dem eine Seele an sich selbst gearbeitet, auch in alle ihre Werke ein. Nicht vergeblich steht geschrieben: „Gott sahe den Abel an und sein Opfer, denn, wie Luther spricht, hätte der Abel nichts getaugt, so hätte es auch nicht sein Opfer.

Darum, ihr Christen- und Kirchenfreunde, auch zu dem Werke seien diese Tage ein neuer Anstoß, uns selber immer mehr auszubilden zu einem Tempel des Herrn. Das Salz der eigenen Heiligung auf die Opfer unserer Liebe! „Ich muss wirken die Werke, zu denen mich Gott gesandt hat, dieweil es Tag ist“ - an wem? an wem? An mir selbst zuerst, erst dann an allen Andern. Mit dankbarer Anbetung weilt das Auge solcher Christen, die vor mehr als dreißig Jahren noch in der Zeit gestanden, wo die lebendigen Christen in Deutschland nur als vereinzelte Bäume auf weiten Feldmarken hin zerstreut zu sehen waren, auf solchen Zusammenkünften, wo sie als ein grüner Wald zusammengeschart stehen. O Herr, das hast du an uns getan, du hast uns wachsen lassen in die Breite, lass uns auch wachsen in die Tiefe! Tue auch das andere noch, sende das Feuer vom Himmel herab in diese zusammengescharten Christenhaufen, dass sie heilige Opfer werden, dir gesalzen zum Dienste! Amen.

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