Hofacker, Wilhelm - Rede am letzten Abend des Jahres.

Hofacker, Wilhelm - Rede am letzten Abend des Jahres.

Die Gnade unsers HErrn Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen. Mit diesem wohlbekannten altkirchlichen Segensgruß heiße ich euch Alle in dieser feierlichen Abendstunde willkommen. Wir sind das letzte Mal in diesem Jahr in öffentlicher Gemeinde beisammen. Die 365 Tagesbächlein, die in die Thalrinne dieses Jahres zusammenliefen, haben nun sein Strombett voll gemacht, und nur noch einiger flüchtiger Stunden bedarf es, so mündet sich mit dem feierlichen Glockenschlag zwölf der Jahresstrom aus in das weite und unabsehbare Meer der Vergangenheit. Er trägt eine reiche Ladung von dannen auf seinem Rücken; alle unsere Erfahrungen und Erlebnisse, unsere Leiden und Freuden, unsere Arbeiten und unsere Erquickungen, unsere frohen und unsere traurigen Stunden, unsere Kummer- und unsere Wonnethränen gleiten mit ihm dahin, um nie wieder herüberzukehren und auf's Neue aufzutauchen. Wir aber sind um ein Jahr ärmer geworden an unserer irdischen Gnadenzeit, um ein Jahr reicher an Schuld und Verantwortung, um ein Jahr näher gerückt dem Ziele unsers Grabes, näher der Ewigkeit, näher dem Tage der Offenbarung und des Gerichts. Denn unser Leben fähret schnell dahin, als flögen wir davon; es ist wie ein Schatten, der vorüberflieht, wie ein fallendes Laub, das zitternd zum Boden schwankt. Was kann uns trösten bei dieser eiligen Flucht unserer Tage? was aufrichten beim Andenken an die ernste Rechenschaft, der wir entgegengehen? nur die Gnade Jesu Christi, unsers HErrn, der uns al? unsere Sünde vergibt und heilet all' unsere Gebrechen, nur die Liebe Gottes des Vaters, der unsere Zuflucht bleibt für und für, nur die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, der uns in der Einigkeit des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung erhält mit der ganzen streitenden und triumphirenden Kirche und uns als das Pfand unsers himmlischen Erbes versiegelt auf den Tag unserer Erlösung zusammen mit denen, die noch in der Zeitlichkeit auf der Straße des Lebens wallen, so wie mit denen, die als in dem HErrn entschlafen entgegenkommen zur Auferstehung der Todten.

Denn in dem dreieinigen Gott allein ist der Fels zu finden, den die brandenden Wogen der Zeit nicht zu erschüttern vermögen; hier allein das feste und uneinnehmbare Schloß zu gewinnen, dahin der Gerechte läuft und wo er auch beschirmet wird., In ein Heiligthum dieses dreieinigen Gottes sind auch wir hier eingetreten. Darum bleibe ferne Alles, was störend, zerstreuend, weltlich und ungöttlich wäre. Nicht für die Neugierde oder müßige Schauluft, auch nicht für die bloß am Aeußeren klebende geistliche Genußsucht ist dieser Abendgottesdienst bestimmt, sondern für suchende Gemüther, die in der Welt keine Befriedigung, im Vergänglichen keinen Trost, im Sinnengenuß kein Genüge finden, sondern mit frommen Gedanken und Gefühlen, mit erhebenden Gesängen und Gebeten, mit demüthigem Dank und Flehen beim Scheiden des Jahres dem Herrn der Herrlichkeit in's Angesicht sehen und aus seiner Fülle sich sättigen und erquicken und zum neuen Pilgergang sich rüsten und bereiten möchten. Darum sei stille alle Welt vor dem HErrn; der HErr ist in seinem heiligen Tempel.

Gott ist gegenwärtig,
Lasset uns anbeten
Und in Ehrfurcht vor Ihn treten;
Gott ist in der Mitte,
Alles in uns schweige
Und sich innigst vor Ihm beuge.
Wer Ihn kennt,
Wer Ihn nennt,
Schlag' die Augen nieder,
Gebt das Herz Ihm wieder.

Gebet.

I.

Von dem frommen Erzvater Abraham wird uns in der heiligen Geschichte (1 Mos. 12, 8.) erzählt, er habe bei seinem Eintritt im Lande Kanaan, wohin er auf besonderen Befehl Gottes aus Mesopotamien sich übergesiedelt hatte, für die glückliche Führung und die treue Bewahrung, die ihm zu Theil geworden, vor dem HErrn einen Altar erbaut und gepredigt von seinem großen Namen. Auch sonst auf jeder neuen Station seines vielbewegten Wanderlebens errichtete er einen solchen Denkstein und pries die Treue und Barmherzigkeit des HErrn, die segnend, bewachend und beschirmend sich an ihm verherrlicht hatte. Sind nicht auch wir, meine Lieben, bei einem Jahresschlüsse zu einem ähnlichen Geschäfte verpflichtet und aufgerufen? Auf einer neuen Station unserer Wallfahrt sind wir da angelangt, eine nicht unbedeutende Strecke unseres Pilgerweges zur Ewigkeit haben wir zurückgelegt: sollte ein besonnener Wanderer nicht still stehen und einen Altar der Andacht und frommer Einkehr aufrichten dem höchsten Gott, der Schild und Schirm gewesen ist und sein Angesicht hat freundlich über ihm leuchten lassen? Fühlt sich der Christ auch nicht geradezu von innen heraus besonders dazu angetrieben, - schon die Welt, die ungläubige, die leichtsinnige Welt, in deren Mitte er lebt, muß ihn hiezu auffordern. Säumt sie ja doch nicht in ihrem Theil bei' jedem Jahresschluß dem Gott, dem sie huldigt, dem Götzen, dem sie dient, einen Altar der Anerkennung aufzubauen, den die nichtige Unterhaltungssucht zu bekränzen, das Wohlleben und die Ueppigkeit zu umkreisen, die Leichtfertigkeit und Genußsucht zu umgaukeln und zu umschwärmen pflegt, einen Altar, von dem hinweg gar Viele mit benebelten Sinnen, mit einem wüsten Kopf und mit einem noch verwüsteteren Herzen in einem Zustande sinnlicher Betäubung und geistiger Abstumpfung in das neue Jahr hinübertaumeln, statt vom Morgenglanz der ewigen Gnadensonne, die nun auf's Neue wieder über unserm Haupt aufgehen will, sich beleuchten und bestrahlen zu lassen. So macht's der Christ nicht, in dem etwas aufgegangen ist von der Klarheit Gottes im Angesicht Jesu Christi. Er weiß etwas Besseres zu thun. Auch er baut einen Altar, aber der Herr der Herrlichkeit ist's, dem er ihn aufrichtet, der Weihrauch des Gebetes ist's, den er darauf anzündet, die Lobopfer des Dankes sind es, die er darauf darbringt! Es dringt ihn, Gott zu geben, was Gottes ist, und Ehre Dem, dem allein die Ehre gebührt, seine Gelübde zu bezahlen und des HErrn Ruhm zu verkündigen. Und sollte Einer unter uns seyn, der nicht beim heutigen Jahresschluß auch in seinem Theile Ursache und Grund hiezu genug vor sich fände? Es ist wahr, das verflossene Jahr (1843) ist für Manche unter uns ein schweres und hartes, ein sorgenvolles gewesen. Der Herbstsegen hat beinahe ganz, der Erntesegen dem Ergebniß nach zur Hälfte gefehlt, und manche Einwohner unsrer Stadt und unsers Landes haben zuweilen ängstlich gefragt: was werden wir essen? was werden wir trinken? womit sollen wir uns kleiden? Auch in unserer späteren Erinnerung wird sich der sorgenvolle, schmerzliche Zug, der im Antlitz des Jahres 1843 zu lesen war, wohl nicht verwischen und verlieren. Aber ist den Sorgen und Beschwerden dieses Jahres nicht auch der offenbare oder verborgene Segen, die allgemeine und besondere Hülfe treulich zur Seite gegangen? Ich will nichts sagen von dem allgemeinen Landesfrieden, den wir nun in's neunundzwanzigste Jahr genießen dürfen und den die Meisten so dahin nehmen, als ob sie ihn gepachtet hätten, als ob er ihnen nie mehr entrissen werden könnte, während er doch nur ein, geliehenes Gut und eine unverdiente Gabe der herzlichen Barmherzigkeit Gottes ist; ich will nichts sagen von dem trefflichen und günstigen Gesundheitszustand unserer Stadt, die, sonst häufig ein Sitz schleichender Fieber und Krankheiten, vor allen diesen Heimsuchungen Gottes in diesem Jahre beschützt worden ist; ich will nichts sagen von der Bewahrung vor Feuersgefahr und anderem öffentlichen Unglück, das der treue Hüter Israels, der nicht schlummert und nicht schläft, ferne von uns gehalten hat: - abgesehen von alle dem hat nicht ein jeder Hausvater und jeder Bewohner unserer Stadt Veranlassung genug, beim heutigen Jahresschluß aufzublicken zu dem Geber aller guten und vollkommenen Gaben, der seine milde Hand vor uns nicht zugeschlossen und seine Güte nicht von uns zurückgezogen hat?

Die Arbeiten und Berufswerke, die uns unter seinem Segen gelungen sind, die leichtern und schwerern Amts- und Familienlasten, die er uns tragen half, die mancherlei Sorgensteine, die er bald da, bald dort aus unserm Wege hinweggewälzt hat, die Kummernächte, die er, der große Nothhelfer und Tröster, öfter über unserm Haupte entweder ganz zerstreut, oder wenigstens mit seinem milden Trostlicht erhellt und erheitert hat, - all' das ruft uns auf: einen Denkstein aufzurichten und darauf zu setzen: Bis hieher hat der HErr geholfen, gebt unserm Gott die Ehre! sein heiliger Name sei hochgelobt!

Es ist bei Manchem durch's Gedränge gegangen, aber die Hand des HErrn hat hindurchgeführt; es hat Manchem unter uns das Herz geblutet, aber der heilende Balsam des göttlichen Trostes ist nicht ausgeblieben; es hat mancher Belastete nach Erleichterung, mancher Leidende nach Linderung, mancher Sterbende nach Erlösung von allem Uebel geseufzt, der HErr aber hat jenes Trostwort wahr gemacht:

Wenn die Stunden
Sich gefunden.
Bricht die Hülf mit Macht herein,
Und dein Grämen
Zu beschämen,
Wird es unversehens seyn.

Und wenn wir nun hiezu rechnen die geistlichen Segnungen, die uns zugeflossen sind, den Segen des Worts und der Sakramente, die wir so reichlich genießen durften, die unzähligen Mittel zur Erbauung zu Hause und in der öffentlichen Gemeinde, insbesondere bei den schönen Festen, die Geduld, womit der HErr uns getragen, die Treue, mit der Er uns nachgegangen, die Weckstimmen, wodurch Er uns zu sich gezogen, die Erquickungen, die Er uns zugetheilt, die Züchtigungen, womit Er auf unser Heil uns gewiesen, die Ermunterungen, womit Er unsre Trägheit gespornt, die Hoffnungen, womit Er uns Schwachheit aufgerichtet, - wahrlich, da müssen wir sagen: groß und herrlich ist der HErr in allem seinem Thun, wer kann all' die großen Thaten Gottes ausreden und all' seine löblichen Werke preisen?

Für all' diesen Reichthum der göttlichen Treue und Barmherzigkeit hat ein sündiges und beflecktes Menschenkind keine würdige und ebenbürtige Gegengabe in Bereitschaft; das Einzige, was ein solches geben kann, ist der schwache Dank seines Herzens, das matte Lob seiner Lippen. Dieses wenigstens wollen wir dem HErrn, unserem Gott, nicht vorenthalten. „Es ist ein köstlich Ding, dem HErrn danken, und lobsingen Deinem Namen, Du Höchster, des Morgens Deine Gnade und des Nachts Deine Wahrheit verkündigen“ (Psalm 92,2.3.). „Darum danket dem HErrn, denn Er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich“ (Psalm 106,1.).

Ach ja, wenn ich überlege
Mit was Lieb' und Gütigkeit
Du durch so viel Wunderwege
Mich geführt die Lebenszeit,
So weiß ich kein Ziel zu finden,
Noch die Tiefen zu ergründen:
Tausend, tausend Mal sei Dir,
Großer König, Dank dafür.

Gesang.

II.

„HErr, habe ich Gnade gefunden vor Deinen Augen, so gehe nicht an Deinem Knechte vorüber“ (1 Mos. 18,3.). Diese demüthige und herzliche Bitte ist einst über die Lippen des nämlichen frommen Erzvaters geflossen, der in frommer Dankbarkeit dem HErrn Altäre der Anbetung errichtete und predigte von seinem Namen vor Fremden und Hausgenossen. Ein himmlischer hoher Besuch sollte ihm zu Theil werden in seiner Hütte; die Freundlichkeit und Leutseligkeit unseres Gottes und Heilandes sollte ihm erscheinen, ein Lichtstrahl aus dem Antlitz dessen sollte ihn beglänzen, von dem Johannes sagt: wir sahen seine Herrlichkeit als die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater voll Gnade und Wahrheit. Natürlich war, daß seine demüthige und bußfertige Seele eines solchen Besuchs sich gänzlich unwürdig achtete; sprach er doch zum HErrn: ich habe mich unterwunden, mit Dir zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin, - demungeachtet ließ er den HErrn nicht, Er segnete ihn denn!

Sind wir am Abend dieses letzten Tages im Jahre nicht in gleicher Lage? Soll unser Uebertritt aus dem alten in's neue Jahr in der That und Wahrheit für uns gesegnet und erquicklich seyn, wahrlich, dann muß uns besuchen der Aufgang aus der Höhe, der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit, der, in dessen Namen all' unser Heil steht in Zeit und Ewigkeit, dann muß er, der helle Morgenstern, als milder Abendstern in unsre Nacht hereinglänzen; sonst irren wir Alle in Finsterniß und Schatten des Todes, und unsre Füße finden den Weg des Friedens nicht.

Daß wir eines solchen gnadenreichen Besuchs höchst bedürftig, aber zugleich auch höchst unwürdig sind, wer wollte das leugnen? Der Kaufmann, der seine Jahresrechnung schließt, pflegt die Bilanz zu ziehen; Soll und Haben wird gegeneinander abgewogen und das Facit, das Ergebniß, gezogen; - darf's bei dem Kaufmann, der die eine gute, kostbare Perle des ewigen Lebens gewinnen will, anders seyn? Gewiß nicht. Zwar gibt es Viele, die an ihrem Lebensbuch Blatt für Blatt in unbegreiflicher Sorglosigkeit umzuschlagen pflegen, Sollen und Haben in noch unbegreiflicherer Sicherheit aufwachsen lassen und jeden Blick auf ihre Jahres- und Lebensrechnung sorgfältig zu vermeiden suchen. Aber was wird das Ende seyn? Johannes, der Seher des neuen Bundes, sagt: „Und ich sahe die Todten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und die Bücher wurden aufgethan und ein anderes Buch ward aufgethan, welches ist des Lebens. Und die Todten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern nach ihren Werken (Offenb. 20,12.).“ Denn einmal muß der Sünder Rede stehen, einmal muß er de n Blick auf sein Lebensbuch heften, einmal muß er gerichtet werden von Dem, deß Name heilig ist, und dessen Augen sind wie Feuerflammen.

Die Welt kommt einst zusammen
Im Glanz der ew'gen Flammen
Vor Christi Richterthron,
Da wird sich's offenbaren,
Wer die und jene waren,
Sie kennt und prüft des Menschen Sohn.
Der Greul in Finsternissen,
Das Brandmal im Gewissen,
Die Hand, die blutvoll war,
Das Aug' voll Ehebrüchen,
Das frevle Maul voll Flüchen,
Das Herz des Schalks wird offenbar.
Wer schminkt sich da geschwind?
Wen kann die Lüge schützen?
Was wird ein Werkruhm nützen?
Da sind wir Alle, wie wir sind.

Wem, meine Lieben, sollte nicht das Herz im Leibe erzittern vor dem Ernst der Rechenschaft, dem wir entgegengehen? Wer sollte nicht eilen, seine Seele zu erretten und sich richten zu lassen in der Zeit, damit er nicht gerichtet wird am großen Tage der Ewigkeit? Es ist freilich kein angenehmes und erquickliches Geschäft, in die Tiefe der eigenen Brust hinabzusteigen und hier genaue und unparteiische Hausdurchsuchung zu halten. Auch kommen da so ernste und gewichtige Gewissensfragen zum Vorschein, daß Jeder unter uns mehr oder minder schamroth seine Augen niederschlagen und rufen muß: HErr, gehe nicht in's Gericht mit mir; denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht!

Wenn wir da gefragt werden: wie hast du gelebt, im Fleisch oder im Geist? wem hast du gedient, Gott oder der Welt? für was hast du gearbeitet, für die Zeit oder für die Ewigkeit? wie bist du mit den Deinen gewandelt, im Frieden oder im Streit? wo hast du Schätze gesammelt, auf Erden oder im Himmel? wie hast du deine Gnadenzeit benützt, zum Rückschritt oder zum Fortschritt? wie hast du deine unsterbliche Seele behandelt, zum Leben oder zum Tod? - wahrlich, da könnte das Zünglein in der Wagschale gar leicht auf die Seite der Finsterniß neigen und die Wagschale des Lichts zu leicht erfunden werden. Und wenn dann der Hausvater gefragt wird: bist du deinem Hause wohl vorgestanden und den Deinigen ein Vorbild gewesen im Glauben, in der Gottesfurcht, in der Friedfertigkeit, in der Mäßigkeit, in der Keuschheit? Und wenn die Hausmütter gefragt werden: hast du das apostolische Wort im Auge und im Herzen gehabt: die Frau wird selig seyn, wenn sie bleibet im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung sammt der Zucht (1 Tim. 2, 15.)? hast du deine Hausgenossen priesterlich auf dem Herzen getragen, deine Kinder durch Zucht und Vermahnung zum HErrn gewiesen und dein Gesinde im Geist dessen behandelt, der gekommen ist, nicht um sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben zu geben zur Erlösung für Viele? Und wenn der Jüngling gefragt wird: hast du dich deiner Jugend gefreut, aber als vor dem HErrn? hast du geflohen die Lüste der Jugend? hast du die Reinigkeit deines Leibes und deiner Seele bewahrt und deine Jugendkraft und deine Jugendblüthe Dem geheiligt, der dich einst wird über all' dem vor Gericht fordern (Pred. 11,9.)? Und wenn die Jungfrau gefragt wird: hast du deine edle Zeit nicht vertändelt, nicht verschwatzt? hast du dich geschmückt mit Kleideranlegen und Goldumhänge n und Haarflechten, oder geschmückt mit dem innern Schmuck, dem verborgenen Menschen des Herzens, welcher ist köstlich vor Gott (1 Petr. 3, 3. 4.)? Und wenn die Kinder endlich gefragt werden: seid ihr gehorsam und unterthan gewesen euren leiblichen Eltern und Pflegern? habt ihr das heilige Kind Jesus vor Augen gehabt und wie Er zugenommen an Alter, an Weisheit, an Gnade bei Gott und den Menschen? - Ach, wie manche Versäumniß, Befleckung, Sünde, Uebertretung und Schuld wird dann zu Tage kommen, die größer ist, als wir gedacht haben, und die uns über's Haupt geht!

Wer kann diese Schuld uns abnehmen, damit wir sie nicht hinüberschleppen in's neue Jahr? wer uns reinigen und waschen von unserer Missethat? wer ist der, der Hülfe thut? Das bist Du, HErr, alleine.

Ja, meine Lieben, sein Blut allein ist's, das uns reinigen, seine Gnade allein, die uns heilen, sein Besuch allein, der uns trösten kann. Darum kommet vor sein Angesicht: den Bußfertigen ist er hold. Auch wir sollen Gnade finden vor seinem Angesicht; auch vor uns wird Er nicht vorübergehen, - auch uns wird Er zeigen sein Heil, und wir sollen noch am Abend dieses Tages Ihn von Angesicht zu Angesicht erblicken und bekennen dürfen: meine Seele ist genesen!

Gesang.

III.

„Ich bin ein Fremdling unter euch; gebet mir ein Erbbegräbniß bei euch“: so sprach Abraham, der Vertraute der Rathschlüsse Gottes zu den Kindern Heth dort in der Nähe von der alten Stadt Hebron (1 Mos. 23, 4.). Seine geliebte Sara war ihm gestorben, und er suchte für sie ein Ruheplätzlein, das er erb- und eigenthümlich sein Besitzthum nennen könnte. Vom ganzen Lande Kanaan, das doch der HErr ihm und seinem Samen verliehen hatte, konnte er keinen Schuh breit Landes sein Eigenthum nennen; er war ein Pilgrim und Fremdling drinnen ohne bestimmten Wohnsitz: mit einem Erbbegräbniß begnügte er sich für sich und seine Nachkommen. O heiliger Fremdlings- und Pilgrimssinn, der keine bleibende Stadt hienieden haben, aber nur um so fester dort eingebürgert seyn will, wo die Stadt des lebendigen Gottes ist, wo die Wohnungen des Höchsten sind, wo der HErr den Seinen eine Stätte bereitet hat, und wo sie bei Ihm seyn sollen allezeit. - Wollen wir beim heutigen Jahresschluß den frommen Abraham nicht auch hierin zum Muster und Vorbild uns erwählen und seine bescheidene Genügsamkeit uns aneignen?

Wenn wir am Markstein eines Jahres stehen und die Todtenhügel zählen, die unter uns aufgeworfen werden, und die schmerzlichen Wunden uns vergegenwärtigen, die innerhalb einer Jahresfrist geschlagen wurden, und die Lücken in's Auge fassen, die der Tod unter Nahen und Fernen gerissen hat, o da wird uns klar, daß im Grunde betrachtet die Erde als nichts weiter anzusehen ist, denn als das Erbbegräbniß der Menschheit. - Von all' dem Ringen und Streben, Bauen und Niederreißen, von all' dem Arbeiten und Lernen, von all' dem Thürmen und Stürmen, von all' dem Morden und Kriegen, das die Millionen vor uns in Bewegung gesetzt hat, bleibt am Ende nichts übrig, als ein großes, weites Grab, das alle Herrlichkeit und Blüthe, alle Macht und Größe, alle Schönheit und Pracht hinabgeschlungen hat; höchstens sind noch in den dauernden Werken, die die Vorzeit auf uns vererbt hat, die kahlen Leichensteine übrig, die die Vergänglichkeit alles Irdischen beurkunden. Wir selber aber mit unserm Lebensacker stehen wie auf einer Begräbnißhöhle der Menschheit; der Boden unter uns ist hohl; er wird auch unter uns einsinken, und auch wir werden in seinen dunkeln geheimnißvollen Trichter hinuntergezogen werden. Und dennoch sind unsere Pläne so weitaussehend? dennoch unsre Bestrebungen so hochfahrend? dennoch unsere Ansprüche an dieses Leben so unersättlich? und warum das? weil uns Abrahams Pilgrimssinn fehlt; weil wir unser Bürgerrecht nicht droben, sondern hier unten gern gesichert haben wollen; weil das Jenseits uns zu ferne liegend, zu dürftig und unsicher vorkommt, das Diesseits dagegen als das allein Sichere und Gewisse und Reelle, allein des Strebens und Ringens werth erscheint, - mit einem Wort - weil wir noch nicht mit Christo gestorben, noch nicht mit Christo auferstanden, noch nicht mit Christo in's himmlische Wesen versetzt sind.

So soll es nicht seyn unter uns, meine Brüder! Mit jedem Jahre, das hinter uns tritt, wird eine der Wurzeln abgehauen, mit der wir im Boden dieser Welt stehen, nur um so fester soll daher unser inwendiger Mensch in dem gesunden Boden des Glaubens seine Wurzel schlagen, aus dem er in alle Ewigkeit keine Versetzung und Verpflanzung mehr befürchten darf. - Mit jedem Jahr, das wir zurücklegen, wird das Hüttenhaus morscher, das uns hienieden zum Zelte und zur Wohnung dient; - nur um so begieriger sollen wir uns deßwegen auferbauen auf den Grund und Eckstein alles Heils, der unbeweglich feste steht, wenn Erd' und Himmel untergeht. - Mit jedem Jahre endlich werden die Reihen unsrer Vordermänner lichter und lückenvoller, indem der Tod in ununterbrochener Folge seine Ernte feiert; nur um so freudiger und entschiedener sollen wir deßhalb uns unter die Fahne Dessen stellen, der die Seinigen zwar in Leiden und Tod, aber auch zum Leben und zur Herrlichkeit führt, und der das große Wort uns zurückgelassen hat: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HErr, dein Erbarmer“ (Jes. 54,10.). Mit diesem Trost im Herzen wollen wir denn hinüberwandeln aus dem alten in's neue Jahr. Mag Freude oder Leid, mag Glück oder Unglück, mag Armuth oder Reichthum, mag Tod oder Leben uns im neuen Jahr beschieden seyn, - das Eine halten wir im Glauben feste: Gottes Gnade weicht nicht, sein ewiger Friedensbund weicht nicht; weder Hohes noch Tiefes, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Tod noch Leben kann und darf und soll uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm HErrn.

An seinen Händen wandl' ich weiter
Und fürchte nicht, was kommen mag;
Wo Sonnen glänzen, ist es heiter,
Und wo Er waltet, ist es Tag.
Er ist mit mir an jedem Morgen,
Wie Er schon gestern mit mir war;
Ihm ist mein Elend unverborgen,
Mir sein Erbarmen offenbar.

Amen.

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