Hofacker, Wilhelm - Am Palmsonntag, 2. Predigt

Hofacker, Wilhelm - Am Palmsonntag, 2. Predigt

Die große Leidenswoche ist angebrochen, die Woche, darin eine ewige Erlösung erfunden, unsere Versöhnung auf den Felsen des Verdienstes Christi gegründet, und durch den Herzog unserer Seligkeit dem .gefallenen Sündergeschlechte die Pforte des Paradieses wieder geöffnet worden ist. Wer kann die Wunder der Liebe Gottes würdig preisen, die in diesen Tagen geschehen sind? Welche Woche im Laufe der ganzen Weltgeschichte läßt sich dieser Charwoche an die Seite stellen? Höchstens eine einzige, -die große Schöpfungswoche am Anfang der Zeit. Wie dort der Allmächtige das gebietende Wort sprach: „es werde Licht,“ so ließ Er aus der Dunkelheit der Leiden und des Todes unsres Bürgen abermals Sein Licht über uns aufgehen mit wunderbarem Gnaden-Glanz und eine versöhnte Welt stand vor Seinem Blicke da, neugeschaffen in Christo, dem Gekreuzigten, zur Ehre Seines großen Namens. Wie dort der Schöpfer des Himmels und der Erde am siebenten Tage ruhte und beim Blick auf Alles, was Er in's Leben gerufen, sagen konnte: „siehe! es ist alles sehr gut;“ so konnte der anbetungswürdige Wiederhersteller unsers Heils beim Anbruch des großen Sabbaths ruhen von Seiner Leidensarbeit und Sein königliches Haupt mit dem Worte zum Tode neigen: „Es ist vollbracht!“ Ja, wie dort den HErrn der Heerschaaren alle Morgensterne lobten, und der große Chor seliger Geister in ein allgemeines Schöpfungs-Halleluja einstimmte, so können nun wir mit der Menge vieler tausend Engel, mit der Gemeinde der Erstgebornen, mit der Schaar der vollendeten Gerechten in das Loblied auf den Versöhner einstimmen: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichthum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Heilig sei uns deßhalb diese große Leidenswoche! Heilig jeder Schritt und Tritt, den Jesus darin gethan; heilig jedes Wort, das Er scheidend uns zurückgelassen, heilig das Andenken an die schwere Last unserer Schuld, die Er getragen und an das große Werk unserer Versöhnung, das Er vollendet hat. Er selber aber sammle uns aus aller Zerstreuung, damit wir diese Woche in heiliger Stille durchleben und unter Seinem Kreuze wohl erwägen, was es Ihn gekostet hat, bis wir erlöset wurden. Sein Geist helfe uns das Wort von Seinem Tode uns so zu eigen machen, daß wir, wie wir in einem unserer Kirchengebete bitten, dadurch erweckt, bekehrt, gestärkt, weiter geführt, ja zum ewigen Leben erhalten werden.

Text: Luk. 23, 24-31.
Pilatus aber urtheilete, daß ihre Bitte geschehe, und ließ den los, der um Aufruhrs und Mords willen war in's Gefängniß geworfen, um welchen sie baten: aber Jesum übergab er ihrem Willen. Und als sie Ihn hinführeten, ergriffen sie einen, Simon von Cyrene, der kam vom Felde; und legten das Kreuz auf ihn, daß er es Jesu nachtrüge. Es folgete Ihm aber noch ein großer Haufe Volks, und Weiber', die klagten und beweineten Ihn. Jesus aber wandte sich um zu ihnen, und sprach: Ihr Tochter von Jerusalem, weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst, und über eure Kinder. Denn siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren, und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüste, die nicht gesäuget haben. Dann werden sie ansahen zu sagen zu den Bergen: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Decket uns! Denn so man das thut am grünen Holz, was will's am dürren werden?

Unser heutiger Passionsabschnitt vergegenwärtigt uns die Verurtheilung des HErrn zum Tode und Seinen Vollendungsgang nach Golgatha. Manchen sauren Schritt und Tritt hatte der Heiland auf Seiner beschwerlichen Lebens- und Leidensbahn bereits gethan: - jetzt kam der letzte, aber zugleich der schwerste. Gleich einer drückenden Last lag es auf der Seele des HErrn, als Er ein paar Wochen vor Ostern zu Seinen Jüngern sprach: „Auf! laßt uns hinaufgehen nach Jerusalem!“ Denn Er wußte wohl, was Ihm dort bevorstand, und es war Ihm bange auf die Leidenstaufe, die an Ihm vollendet werden sollte; - aber jetzt sollte Er in schrecklicher Wirklichkeit erfahren, was Er damals nur geahnt, jetzt im tiefsten Schmerzgefühl empfinden, was Er damals nur bebend von Ferne vor sich gesehen. Wer beschreibt die Schauer, die am Vorabend Seiner Leiden über Seine Seele giengen, als Er in das nächtliche Dunkel von Gethsemane hineintrat, wo Seine Seele betrübt war bis in den Tod, weil Er nun den Kelch trinken sollte, den der Vater nicht von Ihm nehmen konnte? - aber jetzt, da Er das Kreuzesholz nach Golgatha trug, sollte Er ihn leeren bis auf den letzten Tropfen, leeren bis auf die unterste gallenbittere Neige, also, daß Sein geängstigter Geist zagend ausrief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Auch das, was Seinem Todesgang unmittelbar vorangieng, Seine Gefangennehmung und Seine Verhöhnung, Seine Geißelung und Verurtheilung schloß des Schmerzlichen unbeschreiblich viel in sich; das Schmachvollste, das Erniedrigendste, das Peinigendste aber sollte doch jetzt erst an Ihm vollzogen werden, Er sollte an das Fluchholz erhöht, und in langsam verzehrender Qual als ein Schauspiel der Leute und als ein Eckel der Welt einem entehrenden Tode entgegenschmachten. Der Leidensgang nach Golgatha war deßwegen unzweifelhaft der Weg zum Schwersten und Bittersten unter Allem, was Er erfuhr. Aber um so reicher ist er auch für uns an Lehre, Trost und Erbauung.

Wir betrachten daher: Den ernsten Todesgang Christi nach Golgatha

  1. als Spiegel heilsamer Lehre,
  2. als Fundgrube friedsamen Trostes,
  3. als Verpflichtungsgrund zu williger Nachfolge,
  4. als Warnungstafel vor Schuld und Verantwortung.

I.

Der Gerichtsspruch war geschehen. Pilatus, nachdem er lange gezögert, und bald so, bald anders dem Drängen der Hohepriester und Schriftgelehrten auf schleunige Verurtheilung zu entschlüpfen gesucht hatte, gab endlich von Menschenfurcht überwältigt nach. Das Todes-Urtheil wurde von ihm gefällt und die Kriegsknechte ließen nicht lange auf sich warten, um es mit kaltblütiger Strenge in Vollzug zu setzen. Die ganze Stadt Jerusalem war in stürmischer, fluthender Bewegung. Das Ausserordentliche des Vorgangs hatte eine zahllose Menge Menschen herbeigelockt; Alles drängte sich in den volkreichen Gaffen. Wer das blutige Schauspiel der Kreuzigung mit anzuschauen Bedenken trug, suchte wenigstens den Todeszug an sich vorüberschreiten zu sehen. Welch' ein Anblick aber bot sich dem Beschauer dar! Der HErr der Herrlichkeit im bunten Getümmel der Volksmenge, von Soldaten und Häschern umringt, mit der Dornenkrone auf dem Haupte, mit dem Kreuzesholze auf dem Rücken, die Missethätersstraße nach Golgatha wandelnd! Wie erschütternd und ergreifend mußte der Anblick für alle diejenigen sein, denen noch ein menschliches Herz in der Brust schlug, wie erschütternd und ergreifend namentlich für diejenigen, welche kaum noch ein paar Tage zuvor Zeugen Seines festlichen Einzugs in Jerusalem gewesen waren, vielleicht sogar bei demselben thätig mitgewirkt hatten! Ihn, den sie am Tage der Palmen als König von Israel, als längst erwarteten Messias zu den Thoren der Hauptstadt hereingeleitet hatten, Ihn führt man jetzt als todeswürdigen Verbrecher mit Schmach und Schande bedeckt zu den Thoren Jerusalems wieder hinaus. Ihm, vor dem sie eben erst die Kleider auf dem Weg ausgebreitet hatten, damit das Thier, das Ihn trug, seinen Fuß nicht an einen Stein stoße, Ihm legen sie jetzt den Kreuzesblock auf den verwundeten Rücken, damit Er ihn selber hinaustrage zur grauenvollen Schädelstätte. Ja Ihn, den sie mit heiligen Lobpsalmen begrüßten, dem sie entgegenjauchzten: „Hosianna dem Sohne Davids, gelobet sei, der da kommt im Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe;“ - Ihn stoßen sie nun als Auskehricht hinaus vor die Stadt, einem Frevler gleich, der keinen Theil habe am heiligen Volk der Erwählung, keinen Theil am Tempel und Opfer, keinen Theil an den Testamenten der Verheißung. So schnell hat sich das Blatt gewendet; so bald ist die Ehre in Schande, das Lob in Tadel, die Beglückwünschung in Lästerung, die Freundschaft der Welt in Feindschaft und Verfolgung übergegangen! So unerwartet wurden die grünsprossenden Ehrenzeichen des Palmtags in das Blut des purpurroten Charfreitags getaucht!

Dieser Vorgang, meine Freunde, kann für uns ein Spiegel heilsamer Lehre werden. An einem schlagenden Beispiele, an der Behandlung der Person Jesu Christi selbst können wir abnehmen, wie wetterwendisch und veränderlich das Wesen dieser Welt ist, wie bald ihre Gunst in Mißgunst umschlagen und sie statt Frieden und Freude die Dornen des Verlustes und der Trauer bieten kann. Nichts auf dem ganzen weiten Erdenrund steht fest und unbeweglich, am wenigsten fest aber die Gunst der Welt und des irdischen Glückes. Da ist etwa einer, der heute noch dem Glück in dem Schooße sitzt; er genießt allenthalben Auszeichnung, Ehre, Liebe und Freundschaft; man bewundert ihn, man beneidet ihn sogar, und siehe! ehe er sich's versteht, fährt ein Blitz hernieder aus heiterer Himmelshöhe, die Weltgunst ist zerstoben, sein Glücksgebäude ist zertrümmert, und zu spät erst wird ihm's klar, daß er die Ruhe und den Frieden seiner Seele auf den Triebsand menschlicher Laune gebaut hat, statt auf den dauernden Felsengrund unverrückbarer Gottesgnade. Da ist ein Anderer, der frisch und munter mit Wagen und Pferden im Glanz und Reichthum zu den Thoren der Stadt hereinfährt, er rasselt im Stolz und Uebermuth am Armen und Bedrängten vorüber, verschließt vielleicht Herz und Hand der Pflicht des Mitleids und opfert Tag für Tag nur dem stummen Götzen fleischlicher Selbstsucht; aber wie bald ist es geschehen, daß er im engen Sarge auf dem schwarzen Todtenwagen in langsamem und leisem Zuge zu den Thoren der Stadt wieder hinaus und dahin geführt wird, wo alles Fleisch dem Gesetze der Verwesung anheimfällt, und kein Ansehen der Person gilt. Da ist ein Dritter, dessen Glücksumstände beschränkter sind, dem aber doch das Auge strahlt beim Anblick seines wohlerworbenen, bescheidenen Besitzthums; er pocht auf seine eigene Weisheit und Geschicklichkeit, auf seine Kunst und seinen Verstand; das Rad der Betriebsamkeit und des Gewerbfleißes ist bei ihm in sausendem Schwung; er trägt sich mit stets neuen Planen und weitschichtigen Entwürfen: aber ehe er noch recht zu sich selbst kommt, ergeht der Gottes-Spruch an ihn: in dieser Woche, in dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und weß wird sein, was du gesammelt hast?

Ach wie unvorbereitet ist gewöhnlich dann das Menschenherz bei einer plötzlichen Veränderung! Wie wird es überrascht, wenn das Blatt auf einmal sich zu wenden beginnt! Nie bald ist es dann aus dem erträumten Himmel des Leichtsinns und der Gottvergessenheit in die Hölle des Mißmuths und der Verzagtheit hinabgestürzt! So war es bei Jesu nicht, den wir Seine dornenvolle Leidensbahn heute ziehen sehen. Innerlich war Er ganz derselbe, als Er wie ein gemeiner Verbrecher zu den Thoren Jerusalems hinausgeführt wurde, der Er zuvor gewesen war, als sie Ihn im Triumphe in die Stadt hineingeleitet hatten. Umrauscht vom Beifall und Hosiannaruf der Menge hatte Er Thränen im Auge über die Blindheit Israels, das nicht bedenken wollte, was zu seinem Frieden dient; und jetzt als der Verstoßene Seines Volkes war Er so stark in Gleichmuth und heldenmüthiger Fassung, daß Er noch Worte der Ermahnung und Zurechtweisung an die weinende Menge der Frauen richten konnte. Die Ehre bei den Menschen machte Ihn nicht stolz, ihr Haß und ihre Bitterkeit nicht verzagt; denn Sein Geist ruhte im Rathschluß der göttlichen Weisheit und Liebe; Sein Angesicht war nach Oben gerichtet, und mit getrostem Sinne konnte Er sprechen: „Lasset sie doch so ferne machen, es muß also gehen! wie würde sonst die Schrift erfüllet?“ Ueber der Welt hatte Er Seine Stellung eingenommen; darum lag sie auch, während sie ihren größten Triumph über Ihn zu feiern meinte, bereits als eine überwundene und besiegte zu Seinen Füßen.

Wie viel könnten auch wir hierin von Ihm lernen! Aber freilich gleichmüthig und ruhig beim Wechsel der irdischen Dinge kann nur derjenige sein, der das Bleibende und Unveränderliche ergriffen, und durch einen festen und lebendigen Glauben im Reiche des Geistes und der unsichtbaren Güter sein Bürgerrecht erlangt hat. Nur wer gewurzelt ist in Gott, dem Ewigen und Unvergänglichen, und wer eingesenkt ist in den unverwelklichen Stamm, in Christum, der das Licht und Leben der Welt ist, behält in allen Stücken und Lagen ein getrostes und gefaßtes Herz. Ein solcher nur lernt das Geheimniß der Weisheit, in guten Tagen zu haben, als hätte er nicht, zu besitzen, als besäße er nicht, zu genießen, als genöße er nicht, und am bösen Tage zu entbehren, als entbehrte er nicht, zu verleugnen, als verleugnete er nicht, ja sogar zu sterben, als sterbe er nicht; denn er vermag Alles durch den, der ihn mächtig macht, Christus. Alles ist sein Eigenthum, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige, es sei das Leben oder der Tod; denn nichts vermag ihn zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem HErrn. Er spricht im Glauben: Kein Urtheil mich erschrecket, Kein Unfall mich betrübt, Weil mich mit Flügeln decket Mein Jesus, der mich liebt.

II.

Es war kein Wunder, daß den Frauen, die sich herzugefunden hatten, um den Todeszug mit anzusehen, die Augen übergiengen über dem erschütternden Schauspiel, das ihnen sich darbot. Denn was gewahrten sie? Eine bleiche blutende Todesgestalt, in die Gewalt der Sünder überantwortet, unter die Mörder und Uebelthäter gerechnet, zitternd unter dem Kreuzesbalken, zusammenbrechend unter der schweren Last, mit dem Blute besprengt, das Ihm von dem dornengekrönten Haupte und von dem gegeißelten Rücken träufelte. Wahrlich, sie sahen den Sohn Gottes in der Tiefe einer Erniedrigung, vor der uns zu schwindeln beginnt. Ist es möglich, fragen wir, diese abgehärmte wankende Leidensgestalt ist der mächtige Herold der Wahrheit, der kurz zuvor noch Worte der Wahrheit und des Friedens in die Herzen von Tausenden gerufen? das ist der Held und Fürst des Lebens, der kaum noch vor ein paar Tagen am Grabe des Lazarus stand, und mit starker Hand ein bereits verschlungenes Opfer dem Rachen des Todes entriß? das ist der Schöpfer aller Dinge, das ewige Wort, der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit, der Sohn der Liebe, der bei dem Vater Klarheit hatte, ehe der Welt Grund gelegt war?

Ja, meine Lieben! so tief ist der Eingeborne herabgestiegen, Er ist gehorsam worden bis zum Tod, ja bis zum Tode am Kreuz. Geduldig und sanftmüthig läßt Er über sich ergehen, was die Rohheit und die Arglist der Sünder über Ihn verhängt; Er läßt sich verhöhnen und verspeien, geißeln und mißhandeln, beladen und binden, bis die Kraft Ihn verläßt und Sein gemarterter Leib in der Todesschwachheit, die Ihn umfängt, ermattet zusammenbricht. Still und ergeben läßt Er sich zur Schlachtbank führen, und thut Seinen Mund nicht auf vor denen, die Ihn peinigen und tödten, und das Alles in dem lautersten, demüthigsten Gehorsam gegen Seinen himmlischen Vater und in der reinsten, aufopferndsten Liebe gegen Seine Brüder. Wo ist ein Gehorsam, wie Sein Gehorsam? wo eine Liebe, wie Seine Liebe? Blicket hin auf jenen gebeugten Wanderer, der mit dem Kreuze beladen nach Golgatha zieht! Kennt ihr die Last, die Ihm auf dem Rücken liegt? Es ist meine und eure, ja der ganzen Welt Sünde! Unsere Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten und durch Seine Wunden wir geheilet würden. Er ist in unsere Stelle eingetreten, hat mit priesterlicher Liebe unsere Uebertretung auf Sich genommen, und als das von Ewigkeit her versehene Opferlamm trägt Er nun unsere Schuld hinauf an das Kreuz. Die kostbare Frucht dieses ernsten Todesganges aber, den Er an unserer Statt zurücklegt, was ist sie anders, als unsere Versöhnung mit Gott, unsere Verpflanzung in das Reich der Gnade und Barmherzigkeit? Die Straße zum himmlischen Heiligthum ist nun für Sünder und Verlorne wieder geebnet, der Zugang zu dem Gnadenstuhl unseres Gottes wieder aufgeschlossen. Er wird mit Schmach und mit Hohn bedeckt, auf daß wir mit Ehre und Preis gekrönt werden können.

Er wird mit unserem Fluch beladen, auf daß wir in Ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. Er wird als ein Verworfener zum irdischen Jerusalem hinausgestoßen, auf daß wir Erb- und Hausgenossen - Recht empfiengen mit allen Heiligen in der Stadt des lebendigen Gottes. Er wird von rohen Sünder-Händen gebunden und zum Tode geschleppt, auf daß wir einst, von Engeln und seligen Geistern umgeben, mit Friede und Freude einziehen können zu den Thoren des himmlischen Jerusalems. Aus Seiner Erniedrigung fließt unsere Erhöhung, aus Seiner Verachtung unsere Ehre, aus Seinem Tod unser Leben, aus Seiner Verstoßung unsere Einsetzung in alle Güter und Rechte des Reiches Gottes.

Freuet euch dieser Friedensbotschaft, ihr Armen im Geist, ihr angefochtenen und blöden Gewissen! Hier ist eine Fundgrube göttlichen Trostes. Es ist oft ein hartes Gedränge, in das die Seele geräth, wenn das Gesetz seine Stimme gegen uns erhebt und das Schuldregister unserer vergangenen Tage vor uns entfaltet wird. Da kann auch in begnadigten Kindern Gottes noch mit erneuertem Ernst der beängstigende Zweifel sich erheben, ob es denn gewiß sei, daß sie Theil haben an der Auferstehung der Gerechten, daß ein fröhlicher Eingang in die Stadt des lebendigen Gottes ihnen sich aufthun, und ihre Stelle ihnen angewiesen werde in der Versammlung der Heiligen im Licht und der Auserwählten Gottes. Denn wie der Posaunenton des jüngsten Gerichts tönt es oft in unsere Ohren: „wisset ihr nicht, daß die Ungerechten werden das Reich Gottes nicht ererben? Nichts Gemeines soll hineingehen in die Stadt des lebendigen Gottes, sondern die geschrieben sind im Lebensbuch des Lammes.“ Wie schwach wird da oft der Glaube, wie kleinmüthig unser Herz! Die Sonne des Heils scheint uns unterzugehen und Schrecken und große Finsterniß wollen uns überfallen. Aber Heil uns! wir kennen nun Einen, der durch Seinen verdienstlichen Ausgang aus der Welt der lebendige Weg zum Vater für uns geworden ist. Wer diesen Weg betritt, wird nicht straucheln, wer Ihm nachgeht, wird nicht irren; denn wer an mich glaubt, spricht Christus, kommt nicht in's Gericht, sondern Er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Ja um jenes blutenden Wanderers willen, den wir auf der Straße nach Golgatha erblicken, ist nun nicht nur jeder Gang Seiner Gläubigen auf Erden gesegnet und geheiliget, sondern auch ihr Todesgang selbst in eine selige Friedensfahrt verwandelt. Mag auch, wenn sie wirklich ihn antreten müssen, Gedränge von Aussen und von Innen, Kampf und Noth aller Art ihren schmachtenden Geist umgeben, mag von hinten der Verkläger unserer Seele sie verfolgen, zur Rechten und zur Linken die Berge ihrer Sünden sich aufthürmen und vor ihnen die tiefen Wasser des Todes rauschen, dennoch haben sie die göttliche Vollmacht, getrost ihre Straße zu ziehen; trockenen Fußes will der an das Ufer des ewigen Lebens sie hindurch bringen, der mit Seinem vollgültigen Opfer Alle vollendet hat. O wie viele Pilger der Erde, die arm in sich selbst, aber reichlich getröstet im Blick auf den weltüberwindenden Todes- und Siegesgang ihres himmlischen Bürgen und gedeckt durch den Schild Seines Verdienstes in die Todesstraße eingetreten sind, haben im Glauben an Ihn den Staub der irdischen Welt freudig von ihren Füßen geschüttelt, und sind an Seiner Hand von dem Kampfplatz der Zeit zum Mitgenuß Seiner Herrlichkeit friedsam emporgedrungen! Ob sie schon wandelten im finstern Thale, so fürchteten sie doch kein Unglück; Er war bei ihnen, Sein Hirtenstab tröstete sie. Denn

Das Lamm, am Kreuz gestorben,
Hat Fried' und Heil erworben,
Nun heißt bei Seinen Schafen
Das Sterben ein Entschlafen.
Sie geh'n nicht als Verbrecher
Zur Strafe vor den Rächer,
Sie geh'n nur hin und liegen
Wie Streiter nach den Kriegen.

III.

Es ist natürlich, daß dem Heiland der Gang nach Golgatha, schon wenn man blos Seine körperliche Beschaffenheit in's Auge faßt, ausserordentlich sauer und schwer fallen mußte. Seine Kraft war auf's Aeußerste erschöpft und aufgerieben; der heiße Gebetskampf in Gethsemane, die Mißhandlungen der rohen Soldaten und hohepriesterlichen Diener, sowie die erniedrigenden Auftritte vor Kaiphas, Herodes, Pilatus und endlich noch auf Gabbatha hatten nicht nur Sein Gemüth auf's empfindlichste erschüttert, sondern auch Sein Leib war durch die Martern und Plagen, die auf Ihn gehäuft wurden, und namentlich durch den Blutverlust bei der Dornenkrönung und Geißelung bis zur Erschöpfung entkräftet. Darum war es kein Wunder, daß Ihm der schwere Kreuzesblock, der Ihm auf den verwundeten Rücken gelegt wurde, bald zu schwer ward. Matt und todesschwach sank Er unter dieser Last in die Kniee. Dieß veranlaßte die Kriegsknechte, die jeden Aufenthalt in Vollstreckung des Urtheils vermeiden wollten, dem nächsten besten, der ihnen in den Weg kam, das Kreuzesholz aufzunöthigen. Es war dieß, wie die Geschichte sagt, Simon von Cyrene, der vom Felde kam, ein Vater des Rufus und Alexander, die sonst als Glieder der ersten Gemeinde Christi genannt werden. Der Mann wollte jedoch nicht daran, zu diesem Dienst sich herzugeben; er achtete es, wie unter den gegebenen Verhältnissen nicht anders zu erwarten war, für eine Schmach, einem Verbrecher sich gleichgestellt zu sehen und von Seiten der neugierigen Menge vielleicht sogar mit Fingern auf sich deuten zu lassen. Aber dennoch, wenn auch gezwungen, that er dem HErrn auf Seinem letzten Gang diesen Liebesdienst und nachmals, als durch die Auferweckung Christi und die Ausgießung des heiligen Geistes die Ehre des jetzt Verstoßenen gerettet worden war, hatte er wohl keine Ursache mehr, dessen sich zu schämen, daß er gerade durch dieses zufällige Zusammentreffen von Gott zu dem höchsten Ehrendienste erwählt worden war, den er, ohne es zu ahnen, dem HErrn der Herrlichkeit leisten durfte. So war es Ihm ja vergönnt, Seinen Befehl im wörtlichsten und eigentlichsten Sinne zu vollziehen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme das Kreuz auf sich und folge mir!„ Meine Lieben! Wer am Ziele mit Christo zusammentreffen will, der muß schon auf dem Wege zum Ziele Sein Genosse und Begleiter geworden sein. Bis auf den heutigen Tag hat der Nachfolger Christi keine andere Stellung zur Welt, als diejenige war, die der HErr selbst einnahm am Tage Seines Todes. Er soll sterben mit Christo und Seine Schmach tragen. Darum muß Er ausgehen von der Welt, ihr den Rücken kehren und erlediget von dem knechtischen Joch ihrer Dienstbarkeit durch sie hindurchschreiten, als ein freier Bürger des himmlischen Jerusalems, mit dem Wahlspruch im Herzen und auf den Lippen: „ich bin ein Christ, ich suche bessere Welten.“ Mag die Welt auch zusammenlaufen und sich seinen Namen in die Ohren flüstern, theils bedauernd und beklagend, daß Er aus ihren Reihen herausgetreten, theils auch spöttelnd und höhnend, daß Er so thöricht gewesen sei, den Weg des Kreuzes zu erwählen; - das soll und darf Ihn nicht irre machen. Sein Grundsatz muß es bleiben,

Mein Beruf heißt: Jesu nach!
Durch die Schmach,
Durch's Gedräng von Auß' und Innen,
Das Geraume zu gewinnen,
Dessen Pforte Jesus brach.

Zwar sträubt sich unsere Natur gegen nichts mehr, als gegen all' das, was dem Kreuze Christi ähnlich sieht, und nur gar zu gerne möchten wir uns hinwegschleichen, wenn dasselbe uns aufgelegt werden soll. - Ach! wie wenige Streiter würden in dem Kreuzesorden Christi sich finden, wenn die Entscheidung über ihren Eintritt in denselben ihrer eigenen Willkür überlassen bliebe! Aber sie werden genöthigt, trotz ihres Sträubens oft gewaltsam genöthigt, ihre Schulter daran zu strecken und stille zu halten, wenn der HErr durch Kreuz und Leiden Seinem Bilde sie ähnlich machen will. Zum Berge der Himmelfahrt führt kein anderer Weg, als der über Golgatha; auf dieser Straße allein zieht das Volk des HErrn seiner Verherrlichung entgegen. Hier werden die verborgenen Schlacken unserer ungöttlichen Natur geoffenbart und ausgetilgt, hier erst unser widerstrebendes und selbstsüchtiges Herz in den Gehorsam Christi gebeugt, hier das Geheimniß der Leiden und des Todes Jesu dem ringenden Glauben am besten aufgeschlossen, hier unserem Geiste das ächte Gepräge des Königs der Herrlichkeit aufgedrückt. Denn es ist je gewißlich wahr, sterben wir mit, so werden wir mit leben, kämpfen wir mit, so werden wir mit siegen, dulden wir mit, so werden wir mit herrschen, und wie wir getragen haben das Bild des leidenden und sterbenden Jesu auf Erden, so sollen wir bekleidet werden mit dem himmlischen Bild und dem unvergänglichen Leben des erhöheten Heilandes in der Herrlichkeit. Dann aber haben wir in alle Ewigkeiten hinein keine Ursache mehr, des Kreuzes, das uns hienieden darniederdrückte, uns zu schämen, sondern uns vielmehr desselben zu freuen mit himmlischer und unaussprechlicher Freude. Darum

Christen! Wenn das Kreuz uns drücket,
Rechnen wir die kurze Zeit;
Die Geduld und Hoffnung blicket
Auf die lange Herrlichkeit.
O was wird sich offenbaren
An dem Ziel von unsrer Bahn;
Denn man wird noch mehr erfahren,
Als der Pilgrim fassen kann.

IV.

Der Todesgang Christi hat jedoch nicht blos für die Menschheit im Allgemeinen eine wichtige und große Bedeutung; er hat sie insbesondere auch für das Volk Israel. Denn an jenem Tage wandte Jesus, der erschienene Retter und Heiland, Seinem Volke den Rücken zu. Sie stießen Ihn hinaus und Er gieng auch hinaus; sie sollten Sein Angesicht nicht mehr sehen. Darum aber konnten schwere Heimsuchungen und Gerichte Gottes nicht ausbleiben, wie Er selber den weinenden Frauen andeutet, die Ihn auf dem Todeswege umgaben und zu denen Er sprach: „weinet nicht über mich! weinet über euch und eure Kinder! Denn so man das thut am grünen Holz, was will's am dürren werden?“ Die Tage der Gnaden-Heimsuchung waren vorüber; der HErr war drei Jahre lang gekommen, um seinen Feigenbaum zu bedüngen und umzugraben, aber Er hatte keine Frucht an ihm gefunden, darum sprach Er jetzt: „haue ihn ab! was hindert er das Land?“

Der Todestag Christi war der Anfang der Gerichte Gottes über das Haus Israel. Zwar äusserlich und oberflächlich betrachtet blieb Alles im alten Stand; die Priester und Hohepriester warteten ihres Amtes nach hergebrachtem Brauch; das Abendopfer und Morgenopfer ward auf Moriah dargebracht, nach wie vor, zur gesetzlichen Zeit; die Feste und alles, was zum Gottesdienst gehörte, hatte seinen gewöhnlichen Verlauf; - aber das Leben, der Segen war von jenem Tage an gewichen. Nun gieng das Wort in Erfüllung: „Hinfort werdet ihr mich nicht mehr sehen, ihr werdet mich suchen und nicht finden. Euer Haus aber soll euch wüste gelassen werden.“ Deßwegen war auch der prachtvolle Tempel mit seinen herrlichen Gottesdiensten doch nichts anderes, denn eine schöne geschmückte Leiche, die künstlich die Farbe des Lebens erheuchelt, der aber kein gesundes Herz mehr in der Brust schlägt. Nur mühsam erhalten lag Israel von nun an auf der bunt verzierten Todtenbahre, bis endlich die rohe Hand römischer Soldaten der Täuschung ein Ende machte, den letzten Schmuck ihr vollends abriß - und den furchtbaren Gräuel innerer Auflösung und Zerstörung offenbarte. So viel hing am Blutruf des Charfreitags, so viel an der Verstoßung des Heiligen in Israel.

Wo in einer Kirche Christus als König und HErr der Herrlichkeit angebetet, geliebt und gepriesen wird, da stehet der Himmel der Gnade offen, da steigen die Engel des Friedens und des Segens auf und nieder, da spricht der HErr: „siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen, Ich will bei ihnen wohnen; sie sollen meine Söhne und Töchter sein und ich Gott mit ihnen will ihr Gott sein!“ Wo aber die Verachtung Seines Worts, die Entheiligung Seines Namens, die Geringschätzung Seiner königlichen Würde und das lautere oder verstecktere Geschrei des Unglaubens überhand nimmt, wo man sich nicht scheut, die Bande zu zerreissen, die uns an den Fürsten des Lebens knüpfen und den Gottesbau zu unterwühlen, den Er leidend und sterbend zum Heil der Menschheit gegründet, - da können Gerichte nicht ausbleiben. Vielleicht bleibt das äussere Kirchengerüste noch längere Zeit stehen; aber innerlich ist es zermürbt und brüchig, der Todeswurm der Auflösung ist in dasselbe eingedrungen, seine Stützen sind morsch und hohl geworden, und es bedarf nur eines einzigen unversehenen Windstoßes, so stürzt es krachend zusammen, und viel Herrliches und Edles wird in seinen Trümmern begraben. Eine Kirche kann nur so lange blühen, ein christliches Volk nur so lange glücklich sein, so lange Christus sein Eckstein und Pfeiler ist, so lange um Ihn die Herzen in liebendem Gehorsam sich schaaren und Sein Wort und Kreuz das Panier ihres Glaubens und ihrer Hoffnung bleibt. Was für die Gemeinde Israel in den alten Tagen die Bundeslade war, ohne die sie nicht siegen und überwinden konnte, das ist für uns das Wort von Christi Kreuz und Tod, von Seiner Herrlichkeit und Krone. Ueber ihm gilt's auch in unseren Tagen mit eifersüchtiger Treue zu wachen und die frevelhaften Angriffe, die seine ewigen Hoheitsrechte antasten, durch Wort und That immer muthiger zurückzuweisen. Je offener und ungeberdiger widerchristlicher Sinn und Geist unter uns zu Tage tritt, je ungeschminkter das Geheimniß der Bosheit offenbar wird, um so nachdrücklicher und freudiger ziemt es sich für diejenigen, die dem Zeuge Gottes angehören, vor einem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht die Ehre des HErrn der Herrlichkeit zu vertheidigen, und von dem Bekenntniß nicht zu weichen, mit dem unsere Ahnen die Siege ihres Glaubens ausgefochten haben:

Der am Kreuz ist wahrer Gott,
Und würden wir der ganzen Welt zu Spott;
Das ist die Losung, daran man spüret,
Ob uns der Name der Brüder gebühret,
Das Schiboleth.

Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/hofacker_w/hofacker_w_palmsonntag_2.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain