Harnack, Theodosius - V. Stufengang der Irrtümer, die Jesum Christum nicht den Herrn sein lassen.

Harnack, Theodosius - V. Stufengang der Irrtümer, die Jesum Christum nicht den Herrn sein lassen.

Predigt am achtzehnten Sonntag nach Trinitatis.

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unsrem Vater, und dem Herrn Jesu Christo. Amen.

Geliebte Gemeinde! Als Du die Epistel des heutigen Sonntags verlesen hörtest, als Du vernahmst, wie der Apostel Paulus Gott dem Herrn dafür Dank sagt, dass die Gemeinde zu Korinth durch Gottes Gnade in allen Stücken reich gemacht sei an aller Lehre und in aller Erkenntnis, und dass die Predigt von Christo in ihr kräftig geworden, (1 Kor. 1,4-7) - musstest Du nicht einen prüfenden Blick auf Dich selbst werfen, und Dich fragen, ob der Apostel auch Dir ein solches Zeugnis würde geben, und über Dich einen solchen Dank vor Gott aussprechen können? Und wenn Du Dir aufrichtig geantwortet hast, musstest Du nicht beschämt vor Gott und Deinem Herrn Jesu Christo, der Dich zu einer christlichen Gemeinde erkauft, und durch seinen Geist berufen und gesammelt hat, bekennen: Nein, auf das Ganze unsrer Gemeinde gesehen, kann nicht von ihr gesagt werden, dass die Predigt von Christo in ihr kräftig geworden! Das ist eine niederbeugende Klage, die uns treiben muss nach den Ursachen dieses Zustandes zu forschen.

Nun, geliebte Gemeinde, wo der Prediger Dich im Auftrage Gottes straft, da muss er, ob er auch weiß, dass er Dir Gottes Wort rein verkündigt, doch sich selbst mit, sich zunächst strafen; strafen die ungläubige Furcht und Verzagtheit, in der er sein Amt führt, bekennen seine große Gebundenheit durch Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, bekennen seine vielfache Schwäche und Untreue, und Dich bitten, dass du ihn trägst in Geduld und Liebe, vor allem aber in ernstem und anhaltendem Gebet. Jedoch wie Dein Glaube nicht bestehen soll auf Menschenweisheit und Kraft, so soll er auch nicht irre werden an Menschenschwäche und Gebrechlichkeit, denn nicht die Prediger, sondern die lautre apostolische Predigt von Christo, unter welche sich gleicherweise die Gemeinden und die Diener zu beugen haben, soll in Dir kräftig werden.

Darum aber muss ich auch Euch ausnahmslos bitten, liebe Zuhörer, dass Ihr Euch selbst prüft, ob Ihr auch recht hört und braucht die Predigt des Worts? Ob Ihr, versammelt vor dem Angesicht des Herrn, wirklich ganz abseht von Jedermann, von dem, der da predigt und von den Andern, die da hören? Ob Ihr zusammenkommt nur um zu vernehmen das Wort, das der Geist den Gemeinden sagt, so dass jeder sich dessen bewusst ist, der Herr ist gegenwärtig und redet zu mir, darum sei stille meine Seele; so dass jeder auf sich selbst sieht und auf die Bezeugungen der göttlichen Wahrheit an seinem Gewissen achtet? Ob Ihr, wenn Ihr es vernommen, das Wort bei Euch selbst bewegt, im Herzen bewahrt, und im Leben bewährt; oder Euch desselben beraubt, indem Ihr alsbald den, der da gepredigt, billigend oder missbilligend beurteilt, des Wortes aber nicht mehr gedenkt? Zwar soll eine evangelische Gemeinde nach Gottes Wort prüfen, was ihr gepredigt wird, damit sie wisse, wes sie sich bei ihren Dienern zu versehen habe; sie soll selbst forschen in der heiligen Schrift, damit auch sie sprechen könne: wir glauben hinfort nicht um deiner Rede willen, sondern wir haben selbst gehört und erkannt, dass dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland. (Joh. 4,42.) Aber solch Prüfen und Forschen ist ein gar anderes, als jenes Beurteilen; dieses führt von dem Worte weg, jenes weiter und tiefer in das Wort hinein. Und wenn nun unter uns in allen Kreisen das Eine noch viel zu viel, das Andre viel zu wenig geschieht, sagt, wie soll die Predigt von Christo in uns kräftig sein können?

Doch noch auf eine andere Ursache müssen wir Euch aufmerksam machen. Die Kirche predigt leider nur an Einem Tage der Woche, die Welt dagegen verkündigt uns ihr Evangelium täglich, stündlich. Ihre Apostel und Evangelisten sind zahllos wie der Sand am Meer, und es ist ihr gelungen ein unübersehbares Heer von Irrtümern an allen Orten, in Aller Herzen auszustreuen, so dass die Predigt der Wahrheit nicht an uns kommen kann, ohne auf Irrtümer zu stoßen, mit denen sie einen Kampf auf Leben und Tod zu führen hat. Diese Irrtümer, die kursierende Münze im Reiche der Welt, sind mit unsren Neigungen und unsrem Wesen fest verwachsen, sie sind allmählig die Grundlage unsres Denkens und Handelns geworden. Wir tauschen sie aus gegen die Gleichgesinnten; die Freundschaft mit Wenigen, die Gemeinschaft mit Vielen dient uns zur Bestätigung derselben und verstärkt ihre Macht und Herrschaft. Wir wollen lieber mit der Welt, dem großen Haufen, irren, als mit der Kirche Christi, der kleinen Herde, in der Wahrheit wandeln, und geben der blendenden Aufklärung des Weltgeistes vor der erleuchtenden Klarheit des Geistes Gottes den Vorzug.

Geliebte in dem Herrn! So entschieden wir jeden Irrtum, Alles, was dem Worte der Wahrheit widerspricht, verurteilen und verdammen müssen, wir wollen nachsichtig sein im Urteil über die Einzelnen. Wir wollen erwägen, dass der Boden der Kirche in unsrer Zeit gewaltig erschüttert ist, und dass in dem Leben des Einzelnen fast unvermeidlich Schwankungen eintreten müssen, ehe er zur Entschiedenheit und Festigkeit kommt. Wir wollen bedenken, wie tief die Irrtümer gewurzelt sind, mit wie viel feinen, unzählbaren und verschlungenen Fasern sie sich an unser Herz fest angesogen haben, so dass wir nur allmählig und mühsam und mit großen Schmerzen uns von ihnen losringen können. Aber wir wissen auch gewiss, dass der Herr es dem aufrichtig Irrenden, dem redlich Fragenden, dem heilsbegierig Forschenden gelingen lässt; dass das Evangelium eine Kraft Gottes ist, jeglichem Irrtum über das Heil unsrer Seele gewachsen, und übermächtig ihn mit der Wurzel herauszureißen; dass es von keiner Bildung überholt werden kann, sondern dass jegliche Stufe der Bildung die Sonne der evangelischen Wahrheit immer wieder vor sich und über sich findet. Doch eben so wissen wir auch, dass es eine Liebe zum Irrtum gibt, eine stolze Freude, eine selbstgefällige Zähigkeit im Festhalten an ihm; dass es ein verzweifelndes Fragen gibt, wie Pilatus fragte, ein verfängliches und versuchliches, wie die Sadduzäer und Pharisäer fragten, ein unterhandelndes Fragen, da wir mit dem reichen Jüngling teilen wollen zwischen Gottes Wahrheit und unsren Irrtümern. Solch Irren und Fragen aber ist vom Übel, dagegen ist Schonung und Nachsicht nicht am Ort; es will bekämpft und gestraft sein, denn es ist ein Hauptgrund, weshalb unter uns die Predigt von Christo nicht kräftig werden kann.

Unser heutiges Evangelium veranlasst uns eine Reihe von Irrtümern zu beleuchten, denen Christus, gefragt von Sadduzäern und Pharisäern, selbst fragend die Wahrheit entgegenstellt, dass er der Herr sei. Gott gebe Euch und mir erleuchtete Augen des Verständnisses, und mache uns reich an aller Lehre und in aller Erkenntnis, dass wir Alle, ein Jeder an seinem Teil, unsre Irrtümer erkennen und verurteilen, uns willig dem Geist öffnen, der in alle Wahrheit leitet, und die Predigt von Christo kräftig in uns werden lassen. Amen.

Matth. 22,34-46.
Da aber die Pharisäer hörten, dass er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und Einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn, und sprach: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, und von ganzem Gemüt. Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Da nun die Pharisäer bei einander waren, fragte sie Jesus, und sprach: Wie dünkt euch um Christo? Wes Sohn ist er? Sie sprachen: Davids. Er sprach zu ihnen: Wie nennt ihn denn David im Geist einen Herrn? da er sagt: Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis dass ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße? So nun David ihn einen Herrn nennt, wie ist er denn sein Sohn? Und Niemand konnte ihm ein Wort antworten, und durfte auch Niemand von dem Tage an hinfort ihn fragen.

Der Schwerpunkt des verlesenen Evangeliums ruht in der Frage Jesu: „was dünkt euch von Christo?“ oder, was dasselbe ist, in der Antwort, welche schon der König David, erleuchtet vom heiligen Geist, gegeben, und zu welcher sonntägig sich die Kirche in ihrem apostolischen Symbolum bekennt: dass Christus der Herr sei, dem der Vater alle Dinge unter seine Füße getan hat. Im Gegensatz zu ihr beleuchtet aber unser Text eine Reihe von Irrtümern, die noch heute gang und gäbe sind, Irrtümer der gröbsten wie der feinsten Art, die, aus sadduzäischer und pharisäischer Gesinnung stammend, entweder das Gesetz, oder das Evangelium, oder das Verhältnis beider zu einander entstellen, und uns nicht zur reinen Erkenntnis der Wahrheit von der Majestät und Herrlichkeit Jesu Christi gelangen lassen.

Darum lasst uns an dem Faden unsres Textes den Stufengang der Irrtümer verfolgen, die dem heilsamen Bekenntnis entgegen stehen, dass Jesus Christus der Herr sei.

Man will nämlich entweder den Lebensgenuss ohne Gottes Gesetz, oder das Gesetz ohne die Liebe, oder die Liebe ohne Christum, oder Christum, ohne dass er der Herr sei; und doch wird nur da, wo Christus der Herr ist, die Liebe gegründet, das Gesetz aufgerichtet, und das wahre Leben in Freiheit von dem Gesetz gelebt.

1.

In den Sadduzäern, von denen unser Text erzählt, dass der Herr sie kurz vorher zum Schweigen gebracht hatte, ist uns derjenige Irrtum gezeichnet, der sich offenbar am weitesten von der evangelischen Wahrheit entfernt: der ungläubige, rein auf das Irdische gerichtete Sinn der Weltmenschen, die nur von einem Diesseits wissen wollen, ohne ein Jenseits, die nur Güter suchen, aber nicht das Gute, die frei sein wollen vom Übel, aber nicht von der Sünde, die dem Glück nachjagen ohne sittliches Streben, die das Heil suchen in der Veränderung der Lebensformen und Verfassungen, aber nicht in der Erneuerung des Sinnes und Wandels, und die deshalb das heilige, göttliche Gesetz verspotten oder verachten als eine lästige Fessel für die vermeintliche Ungebundenheit und Freiheit des Lebens und seiner Genüsse. Meint nicht, dieser Sinn werfe sich nur auf die niedrigen Genüsse und Schätze dieser Erde; nein, das ist nur seine roheste Erscheinung und sein endlicher Ausgang. Denn der Kampf des Unglaubens gegen das Hohe und Heilige und Göttliche muss zuletzt zur niedrigsten Sinnlichkeit führen; aber er kann auch Haus und Schule, Kunst und Wissen, Kirche und Staat in seinen Bereich und sein Verderben ziehen. So tat er es bei den Sadduzäern, so tut er es auch heute; denn in dem Boden unserer Zeit findet diese selbstsüchtige, gesetzlose Genuss- und Herrschsucht des Ichs ganz besonders reiche Nahrung.

Aber sagt, die Ihr das Leben genießen wollt, was versteht Ihr unter Leben? Ist es der Odem, der unser leibliches Dasein bewegt, und der, wenn er dem Körper entflohen ist, einen Leichnam zurücklässt? Oder ist es der Rausch des sinnlichen Genusses, oder die Begeisterung für irdische Zwecke, die selbst nur ein zurückgestrahltes Bild dieser vergänglichen Zeitlichkeit ist? Ist es nicht vielmehr das Leben in dem Leben, das unverwüstliche Grundbewusstsein eines Unvergänglichen, Bleibenden, Ewigen in uns. Ja das Leben in uns ist ein ewiges, hat solche Rechte an die Ewigkeit, dass es selbst als ein verlorenes Leben doch nur eines ewigen Todes sterben kann. Sollte es nicht auch Pflichten für die Ewigkeit haben? Ihr wollet das Leben genießen, gut, so trachtet nach dem ewigen Leben, und Ihr werdet bald heilsbegierig nach dem fragen, der dies Leben selbst und der Herr Eures Lebens ist! Ihr wollet frei sein, aber erkennt Ihr nicht, dass Ihr doppelt Geknechtete seid, tyrannisch beherrscht von Eurem Ich, das selbst wieder gebunden ist von dem Geiste und dem Fürsten dieser Welt. Ihr wollet frei sein von dem Gesetze Gottes; seht das Evangelium kennt einen königlichen, gottgeordneten Weg der Freiheit in dem Gesetze, wo Christus unser Herr ist. Einen andern aber gibt es nicht. Denn damit, dass Ihr das Gesetz, das Euch als ein Widersacher lästig ist, verlassen und Euch von ihm befreien wollt, hat das Gesetz noch nicht Euch verlassen und freigelassen. Es folgt Euch vielmehr mit seinen Geboten rücksichtslos und unabweislich in alle Eure Lebensverhältnisse, ja bis zum innersten Gelüsten Schritt auf Schritt, schreibt Euch für sie alle den unverbrüchlichen Willen Gottes vor, und mahnt Euch zu gedenken, dass Euer irdisches Leben nach jenem Gleichnisse unsres Herrn, ein Gang mit dem Widersacher zum Fürsten ist, und dass Ihr Fleiß tun möget auf dem Wege, wie Ihr auf andere Weise seiner los werdet, ehe Ihr dem strafenden Urteil des gerechten Richters anheim fallet. (Luk. 12,58.59.)

2.

Dem stimmt auch die pharisäische Gesinnung zu. Lebensgenuss mit Verwerfung oder Nichtachtung des göttlichen Gesetzes, sagen sie richtig, das ist der Weg des Fleisches und des Verderbens. Vielmehr kommt es auf Erfüllung des göttlichen Gesetzes an, auf Befriedigung seiner Forderungen; denn nur so bringt man es zum Schweigen und söhnt sich mit ihm aus. Auch darin haben sie Recht. Sie haben die Hoheit, die Notwendigkeit, die Unbeugsamkeit des Gesetzes erkannt; und sie nehmen sich's vor, es in ihrem Leben zu verwirklichen. Beherrscht von diesem Gedanken, erfüllt von dem Verlangen nach Vollkommenheit geben sie sich an die Arbeit, unterwerfen ihr Leben und das Anderer einer strengen Zucht und Rechtlichkeit, und schleppen mit Anstrengung eine lange und schwere Kette von mannigfachen Gesetzespflichten nach sich. Ja sie meinen über die gewöhnlichen Gebote bald hinweggekommen zu sein, und fragen verwegen mit dem Schriftgelehrten nach dem vornehmsten Gebot im Gesetz.

Meine Lieben, ich gestehe Euch offen, dass es mir in einer Zeit, in welcher die Majestät und Heiligkeit des Gesetzes in allen Lebensverbindungen so häufig missachtet und zertreten wird, nicht leicht fällt, eine Gesinnung zu bekämpfen, die wegen ihres Ernstes und ihrer Gewissenhaftigkeit, gegen die früher geschilderte ein großes Recht hat. Doch sehen wir ihr auf den Grund, so besteht auch sie nicht vor der Wahrheit, dass Christus der Herr sei; weil auch sie, trotz ihres Ernstes, es doch zu wenig Ernst nimmt mit dem Gesetz. Denn diese Gesinnung verfährt zunächst willkürlich mit dem Gesetz, stellt sich rein äußerlich zu ihm, zerlegt und zersplittert es in eine Menge nebeneinander gereihter Gebote und Verbote, und wählt und schafft sich so ein Gesetz nach ihrem eignen Maß, unter Vorbehalt bestimmter Lieblings-Neigungen und Sünden. Dann aber erheben sie dieses Gesetz eigner Wahl über den Gesetzgeber, machen es zu ihrem Gott, und errichten gleichfalls ihrem eignen Ich in dem Herzen einen Altar. Sie fangen also mit einer großen innern Sünde an, um äußerlich gerecht zu leben. Aber Geliebte, Gottes Gesetz schreibt uns nicht nur vor, gerecht zu handeln und Gutes zu tun, sondern gerecht und gut zu sein; es begnügt sich auch nicht mit einzelnen oder vielfachen Leistungen; es verlangt einen ganzen, vollkommenen, unveränderlichen Gehorsam. Lasst daher von dem müßigen Fragen nach einzelnen Geboten, und Pflichten, und Handlungen, oder nach dem vornehmsten Gebot; stellt vielmehr Euer gesamtes Leben in Frage. Denn nicht über einzelne gute Werke, wie sie genannt werden, sollt Ihr dem Gesetz Rechenschaft geben, nicht über einige künstlich und mühsam erzeugte Tugenden, sondern über die Gesamtheit Eures Lebens, über den Geist, der es durchdringt und beherrscht. Dieser ist es, der Euch eigentlich einen sittlichen Wert gibt, nicht aber die einzelne Tat, welche, ob sie auch für sich einer sittlichen Schätzung unterliegt, immer doch nur den innern Wert offenbart, den Ihr schon habt. Diesen innern Wert aber, diese innere Gesinnung müsst Ihr kennen und prüfen, denn nach dieser fragt, schätzt und richtet Euch Gottes Gesetz. Und wollt Ihr diesen Maßstab kennen lernen, so hört das inhaltsschwere Wort des Herrn: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, das ist das vornehmste und größte Gebot, das andere aber ist dem gleich, du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst; in diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Erkennt aus diesem Wort, wie alle Gesetzeserfüllung ohne die Liebe zu Gott und dem Nächsten eine nichtige und wertlose ist. Alle Eure Tugenden und Taten, die Ihr Euch so hoch anrechnet, und möge ihrer eine große Reihe sein, ohne die Liebe sind sie vor Gottes Gesetz wertlos; sie gleichen einer Reihe von Nullen, die ob auch ins Unendliche verlängert, doch nicht die geringste Summe gibt, so lange ihr die bestimmende und wertgebende Ziffer fehlt. Das Wort bleibt auch für Euch stehen: tue Fleiß auf dem Wege, wie du des Widersachers los werdest.

3.

Der vollkommene Gehorsam ist nur eine Frucht der Liebe; diese muss unser Herz beseelen, wenn wir dem Gesetze Gottes gerecht werden wollen, denn die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung. Das bejahen auch Viele mit uns, so wie auch der fragende Schriftgelehrte nach der ergänzenden Erzählung des Evangelisten Markus dem zustimmte; worauf Jesus zu ihm sprach: Du bist nicht fern vom Reiche Gottes. Freilich ist das die Meinung derer nicht, die in ihrer Weise die Religion der Liebe so hoch erheben und nach ihr streben. Sie meinen deshalb allein schon in dem Reiche Gottes sein zu müssen; doch ist es noch fraglich, ob sie überhaupt das Wesen der rechten Liebe auch nur kennen. Denn was wird nicht von der Welt für Liebe ausgegeben! Aber irren wir uns nicht, jene flüchtigen Bewegungen, jenes schwärmende Gefühl, das der Gedanke an Gott oder das Anschauen seiner wunderbaren Werke in uns erregt, das ist noch keine Liebe zu Gott. Jene leere und hohle Menschenfreundlichkeit und Weltgefälligkeit, jene Nachgiebigkeit und Schlaffheit, die der Wahrheit nicht die Ehre gibt, weil diese wehe tun könnte, jene Gutmütigkeit, die sich selbst bespiegelt in Übungen und Wohltaten, das ist noch keine Liebe zum Nächsten. Denn dabei lieben wir weder Gott noch den Nächsten so, wie wir sollen, sondern in beiden nur uns selbst und unser eigen Ich. Wo wir aber das Eigne suchen, den eignen Nutzen und Ruhm, die eigene Ehre und Verherrlichung, da ist unsre Liebe nichts wert, sie verdient nicht Liebe genannt zu werden. Denn Liebe und Selbstsucht reimen sich nicht zu einander. Die Selbstsucht ist ungeduldig und trotzig, sie eifert und ist mutwillig, sie bläht sich und stellt sich ungebärdig, sie sucht das Ihre, trachtet nach Schaden, und freut sich der Ungerechtigkeit, aber nicht der Wahrheit; sie verträgt nichts, hofft nichts, glaubt nichts, duldet nichts. Die Liebe tut von dem Allen das Gegenteil, denn sie ist Selbstverleugnung und Hingebung. Die wahrhaftige Liebe gibt Gott das ganze Herz, alle Gedanken, Neigungen und Wünsche; sie liebt seine Wahrheit und Heiligkeit, verliert ihren Willen an den seinigen, sucht seines Namens Ehre; und sie erweist sich in herzlichem Erbarmen, in Demut und Freundlichkeit, in voller und treuer, in tätiger und ausdauernder Hingabe an den Nächsten, ja ist auch bereit für ihn das Leben zu lassen. Und weil sie nur der Wiederschein der Liebe zu Gott ist, weil der Herr an unsrer Liebe zu den Brüdern, unsre Liebe zu ihm erkennen will, also dass er das, was wir in seinem Namen an dem Geringsten tun, annehmen will, als sei es ihm getan, darum ist das andere Gebot dem ersten gleich, beide fordern die eine und selbige Liebe.

Sagt, die Ihr zugesteht, dass die Liebe des Gesetzes Erfüllung sei, habt Ihr solche wahrhaftige und heilige Liebe; und wenn Ihr sie nicht habt, was erfüllt dann Euer Herz? Schrift und Erfahrung lassen Euch keine Wahl; beide wissen nur von zwei sich ausschließenden Gegensätzen, Liebe oder Hass, ein drittes kennen sie nicht. Wenn Ihr sie nicht habt, wie wollt Ihr auch nur vor Einem Gebot des Gesetzes, geschweige denn vor dem ganzen Gesetz bestehen? Meint Ihr dann noch einen Vater im Himmel zu haben, den Ihr liebt, oder habt Ihr in ihm nicht vielmehr einen Richter, den Ihr fürchten müsst? Wie aber die Liebe die Furcht austreibt, so verbannt wiederum die Furcht die Liebe. Wenn Ihr sie nicht habt, woher wollt Ihr sie nehmen? Aus dem Gesetz? das fordert wohl die Liebe, aber gibt sie nicht; denn Liebe lässt sich nicht befehlen oder erzwingen. Aus Euch selbst?

Welch ein Wort ist das! Könnt Ihr Euch selbst aus den Angeln heben und den Mittelpunkt Eures Lebens verrücken? Erkennt Ihr denn nicht, dass das natürliche, liebeleere Herz nicht bloß schwach, sondern krank ist; ja dass die Krankheit, an der wir darniederliegen, nicht eine Krankheit, sondern der Tod ist; und dass es sich nicht bloß darum handelt, wie wir gesund, sondern wie wir lebendig werden. Denn die Liebe ist das Leben, und wo die Liebe nicht ist, da ist der Tod. Nein, meine Lieben, auch so werden wir des Widersachers auf dem Wege zum Richter nicht los; denn wir können unser selbstsüchtiges Herz nicht beleben und erneuern, noch es mit dem Geist der Liebe beseelen. Grade deshalb hat uns Gott sein heiliges Gesetz der Liebe offenbart, damit es uns zur Erkenntnis unsrer Sünde und unsres Todes führe, damit es uns alle verderblichen Irrwege, die wir zu eigner, vergeblicher Heilserringung einschlagen, abschneide, alle ohne Ausnahme, und uns nur einen Ausweg frei lasse.

4.

Den der Herr in unsrem Text uns eröffnet mit der Frage: „Wie dünkt Euch von Christo? Wes Sohn ist er?“ Was soll diese Frage vor einer Versammlung von Christen? Kann die rechte Antwort darauf noch zweifelhaft sein? Gewiss nicht, wenn wir sie aus Gottes Wort nehmen, denn da ist sie klar und bestimmt beantwortet. Aber die Menschen, die Christen suchen auch hier viele Künste, und die Selbstsucht, die nicht will, dass Christus allein der Herr sei, legt sich auch hier ihre eigene Antwort zurecht. Man gibt es zu, keine Liebe ohne Christum; denn das Christentum sei die wahre Religion der Liebe, veranschaulicht und verherrlicht durch die Lehre und das Vorbild des reinsten und heiligsten Lebens; ja sie gehen noch weiter, sie reden von der göttlichen Natur Christi, vielleicht auch von seiner Gottheit, aber Christus und sein Wort ist ihnen doch nur ein Diener, ein Helfershelfer zur Seligkeit, nicht aber der Herr. Denn auch hier will das Ich seinen Platz behaupten, es will noch sein eigner Helfer und Heiland sein, es will selbst erringen, durch Tugend, oder Buße, oder Glauben und christliches Leben die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, freilich durch die Hilfe und die Kraft Christi, die ihnen aus seinem Vorbild, sagen die Einen, aus ihrer Lebensgemeinschaft mit ihm, sagen die Andern, zuströmt. Darum wagen sie sich auch an sein Wort, drehen und deuteln an demselben, bemühen sich, wie sie sagen, es seiner Anstöße, Ungereimtheiten, Härten zu entkleiden, und es beinahe vernunftgemäß zu machen. Aber seht, wo man das Christentum zugeschnitten hat nach der Vernunft, da hat es auch keine Kraft mehr, es hat seinen Stachel verloren, und damit auch sein Leben; an die Stelle der lebendigen Wahrheit sind tote Meinungen, Überzeugungen, Begriffe getreten. Wie sollte es auch anders sein, nimmt man es doch nicht, wie es sich gibt, sondern wie man es haben möchte und sich selbst bereitet; unsre Werke aber tragen alle das Siegel des Todes.

Achten wir näher auf die Widersprüche, in welche sich diese Gesinnung verwickelt. Lehrt Christus bloß die Liebe, was hat er denn vor Moses und dem Gesetz voraus? Ein solcher Christus hilft uns eben so wenig, wie Moses. Ferner, ist er nichts mehr, als ein Vorbild aller Tugenden, ein Lehrer der Wahrheit, ein reiner und sündloser Mensch, wie hat er denn von sich zeugen, ja eidlich bezeugen können, dass er sei der Sohn des lebendigen Gottes, selbst der wahrhaftige Gott, - wenn das nicht auch Wahrheit sein sollte, was er von sich und seiner Person feierlichst aussagt. Warum straft er die Pharisäer dafür, dass sie ihn für einen bloßen Menschen hielten. Höret seine Doppelfrage in unsrem Text: Ist Christus Davids Sohn, wie nennt ihn David Psalm 110 seinen Herrn; und nennt er ihn seinen Herrn, wie ist er denn sein Sohn? Löst sie anders, wenn Ihr es vermögt, als so, wie das Wort Gottes sie löst, und wie die gesamte christliche Kirche es bekennt, dass nämlich Christus sei der wahrhaftige Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und wahrhaftiger Mensch, von der Tochter Davids geboren. Endlich, soll unsre Lebensgemeinschaft mit Christo, sollen die Gesinnungen, die Werke, die daraus fließen, uns vor Gott gerecht machen, wie bleibt es mit der Unverbrüchlichkeit des Gesetzes, da doch die Sünde in unsrem Herzen bleibt, so lange wir leben, und uns täglich und stündlich von ihrem Dasein überführt. Oder ist Christus zu uns gekommen, um uns im Namen Gottes zu erklären, dass der Heilige und Gerechte die Forderungen seines Gesetzes ermäßigen und sich mit einer halben oder noch geringeren Erfüllung desselben begnügen wolle? Das sei ferne! Haben wir nicht gehört, wie der Herr das Gesetz in seiner ganzen Strenge aufrichtet? Sein Werk der Versöhnung verkündigt uns zugleich mit der unendlichen Barmherzigkeit Gottes, die strenge Unbeugsamkeit seiner Gerechtigkeit. Das Kreuz auf Golgatha ist der Sieg der Gerechtigkeit und der Gnade zugleich. Eben deshalb ist Christus der Herr! Ist er aber Gott, gelobt in Ewigkeit, der Gottmensch, der unsre Erlösung ganz vollbracht hat, den der Vater erhoben zu seiner Rechten auf den Thron seiner Majestät, und der da herrscht, bis dass er alle Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt hat, dann gebt ihm auch die volle Ehre, die ihm gebührt; nicht bloß den Namen, sondern auch die Herrschaft selbst, die unbedingte, die innerliche, die wahre und völlige Herrschaft; dann legt ihm auch zu Füßen seine Feinde, Eure verschiedenen Gedanken und Lehren über Gott und Christum und Euer Heil, die sich doch unter einander verklagen und entschuldigen; dann bezeichnet Eure Weisheit mit dem Namen, der ihr zukommt, bekennt sie als Torheit, als seelengefährliches Irren wider die Wahrheit; dann lasst ihm den Ruhm, allein und vollständig ohne Euer Zudenken und Zutun, das Werk Eurer Versöhnung und Erlösung vollbracht zu haben, und lasst Euch willig von ihm führen auf den einzigen Weg des Heils, auf den Weg der allseitigen und vollkommenen Gesetzes-Erfüllung Christi, die allein Euch von dem Widersacher befreit; auf den Weg der Gnade und der Sündenvergebung in Christi Blut und Gerechtigkeit, auf den Weg des Glaubens, aus welchem die Liebe geboren wird, auf den Weg der Liebe, die frei ist von dem Fluch und Zwang des Gesetzes, und doch gebunden an den Herrn und den Geist desselben; mit einem Wort: auf den Weg, da Christus ist der Herr, und da die Liebe gegründet, das Gesetz aufgerichtet, und das wahre Leben in Freiheit von dem Gesetz gelebt wird.

Geliebte Gemeinde! Die Zeit erlaubt uns nicht fortzufahren. Wir müssen es für heute bei der einen Seite unsrer Betrachtung bewenden lassen, bei dem Verfolgen des Stufengangs der Irrtümer, die dem heilsamen Bekenntnis entgegenstehen, dass Jesus Christus der Herr sei. Seien sie auch unter einander sehr verschieden, wollen die Einen den Lebensgenuss ohne Gottes Gesetz, Andere das Gesetz ohne Liebe, Andere die Liebe ohne Christum, Andere Christum, ohne dass er der Herr sei, die Wurzel dieser Irrtümer ist bei Allen dieselbe, sie liegt in uns Allen, und findet besondere Nahrung in unsrer Zeit. Denn sie alle offenbaren dieselbe herrschsüchtige Selbstsucht unsres Herzens; sie alle decken uns den. dunklen Grund unsres Ichs auf, das sich aufrührt und empört gegen den lebendigen Gott. Da ist es gleich, ob unsre Natur im Allgemeinen eine feste oder nachgiebige, eine rührige oder träge, eine gutmütige oder harte sei, denn unsre Ohnmacht empört sich gegen die Kraft, unsre Kraft gegen die göttliche Ohnmacht des Evangeliums; unsre Freiheit gegen die Herrschaft Christi, und unser Knechtssinn gegen die Freiheit in Christo; unsre Liebe gegen den Sündenhass der Wahrheit, unser Hass gegen die Liebe derselben; unser Leben gegen den Tod, in welchen Christus uns führt, unser Tod gegen das Leben, das er in uns pflanzen will. Immer ist es die gleiche und selbige empörerische Gesinnung, die da sagt, wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche.

Ja, geliebte Gemeinde, unser Schaden ist groß und tief; wir brauchen einen Heiland, so und nicht anders, wie ihn das Evangelium verkündigt. Das Wort der Wahrheit kennt uns durch und durch, versteht uns vollständig, und hilft uns auch vollkommen. Ihr gegenüber können wir nichts vorbringen, uns zu rechtfertigen, oder sie anzuklagen. Wir müssen vor ihr verstummen. Darum wollen wir uns nicht täuschen lassen, noch selbst täuschen, wir wollen vielmehr unsren Schaden frei heraus bekennen, wollen der Wahrheit Ohr und Herz hingeben und forschen in dem Wort, dass seine Strahlen in grader Richtung auf unsre Seelen fallen; wollen ohne Aufhören bitten und flehen, bis dass die Hilfe aus Zion komme, und wir mit der Gemeinde der Gläubigen von Herzen bekennen, dass Jesus Christus der Herr sei, „der mich verlornen und verdammten Menschen erlöst hat, erworben, gewonnen, auf dass ich sein eigen sei und ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit.“

Der Herr aber gebe reichlich seines Geistes Segen über uns Alle, und bekräftige mit seinem Zeugnis das Wort, dass unsre Seelen selig machen kann, auf dass die Predigt von Christo in uns und unter uns kräftig werde. Amen.

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