Harms, Claus - Am Sonntag Trinitatis 1832.

Harms, Claus - Am Sonntag Trinitatis 1832.

Ges. 114. Lob, Preis und Ehre bringen wir.

Ihn lobe der Gesang und auch die Rede. Ihn lobe der Sonntag und der Wochentag. Ihn lobe die Versammlung und die Einsamkeit. Ueberall und zu aller Zeit und in aller Weise sei Gott gelobt.

Es giebt keinen Stillstand auf dem ganzen Wege eines Kirchenjahrs. Da folgt ein Fest nach dem andern von Weihnachten an und zwischen ihnen finden sich die Uebergänge bis zu Pfingsten, das wir feierten bei unserm letztmaligen Hiersein. Doch da wir mit Pfingsten nur bis auf die Hälfte des Jahres gebracht werden und noch ein halbes Jahr vor uns liegt, das auch gar kein Fest giebet: ob wir an dieser Stelle nicht besser Stillstand machten, umkehrten und wieder den ersten Adventssonntag feierten? Nein, geliebte Christen, wir sollen, so ist es Anordnung von altersher, keinen Stillstand und keine Wende machen, sondern vorwärts gehn und die andre Hälfte des Jahres von demjenigen reden, was die erste Hälfte uns zu reden gegeben hat. Gleichwie ihres Wegs jene zwei Jünger des Herrn nach Emmaus gingen und redeten miteinander, heißt es, von allen diesen Geschichten: so sollen auch wir reden von dem, was einst äußerlich geschehen und jetzt wieder von uns innerlich erlebt worden ist. Oder in einem andern Gleichwie: wir, den bearbeiteten und besäeten Feldern gleich, auf die auch Gott der Herr hat regnen lassen, sollen jetzt aufsprießen, blühen, Frucht ansetzen und eine reife Frucht werden. Wahrlich, das letzte Fest, da der heilige Geist über unsre Seelen gekommen ist - der ist wie ein fruchtbarer Regen auf ein besäetes Feld gefallen - werde nun, was an uns geschehen ist, an uns sichtbar!

Solches Wegs nun geht es alljährlich vom ersten Advent bis zum letzten Trinitatis; und wie es geht, die wir den Weg schon manchmal gemacht haben, das sagt uns der Rückblick, das sagt uns der Blick auf den gegenwärtigen Stand der Dinge auf dem christlichen Gebiete. Ist's nicht also, daß uns ganz befremdende Erscheinungen vor Augen kommen? Nenn' ich Eine, diese: Sonntag für Sonntag treten in allen Gemeinden eigends dazu berufene Männer auf, die das Christenthum verkündigen, dazu wird schon in den Schulen die Jugend in der heilsamen Lehre unterwiesen, dazu kommen noch die beiden Sacramente, Taufe und Abendmahl nebst der Beichte, und sonst noch werden die Seelen mit dem göttlichen Wort angefaßt: und doch, doch findet das göttliche Wort so wenig Eingang.

Wie mag das zugehen? Eine andre befremdende Erscheinung: Wer sind sie vornehmlich, unter welchen sich eine Geneigtheit für Predigt und Gottesdienst, zeigt und überhaupt Uebung an der Gottseligkeit? Nicht wahr, es sollten diejenigen sein, die vor Andern emporgehoben sind durch Stand und Rang und höhere Erkenntniß und schärfere Auffassungsgabe? Aber die gerade sind es mehrentheils, welche sich am weitesten von der Kirche und deren Werke entfernt halten. Wie kommt doch das? Ich habe zwei solcher Erscheinungen genannt; es kommen ihrer mehrere vor. Hab' es eure Zustimmung auch, meine Lieben, wenn wir heute einmal über diese befremdenden Erscheinungen auf dem christlichen Gebiete einen Aufschluß suchen! Das Evangelium dieses Sonntags giebt uns einen solchen.

Joh. 3, 1-15. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nicodemus, ein Oberster unter den Juden; der kam zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn Niemand kann die Zeichen thun, die Du thust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, das; Jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nicodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen, und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß Jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Mensch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dich's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er sahn. Also ist ein Jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nicodemus antwortete, und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel, und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, das wir wissen, und. zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmet unser Zeugniß nicht an. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage; wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat: also auch des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Es ist zu keines Evangeliums Unehre gesprochen, aber erwäget dies verlesene, ich wüßte doch keins, das bei einem so reichen Inhalt zugleich so tief in den Grund ginge. Daher ist ihm auch die passende Stelle für den Sonntag nach Pfingsten gegeben. Die Lehre ist vollendet, die Offenbarung geschlossen, mit der Offenbarung des heiligen Geistes geschlossen, da wird uns, um so zu sagen, zuletzt die Constitution des Reichs gegeben, die Charte unsrer Verfassung, was Gott der König veranstaltet habe und was er nun von den Unterthanen erwartet, das die thun und an sich thun lassen sollen. Wir haben es bereits vorhin ausgesprochen, welchen Gebrauch wir diesmal von diesem Evangelium machen wollten, daß wir nämlich den in ihm gegebenen Aufschluß herausheben wollten über mehrere befremdende Erscheinungen auf dem christlichen Gebiete im Reiche Gottes. Heißen wir die Predigt so: Aufschluß über mehrere befremdende Erscheinungen auf dem christlichen Gebiete, wie er uns in dem heutigen Evangelio gegeben wird. Ich zähle diese befremdende Erscheinungen auf:

  1. Daß die Lehre immer und allezeit dieselbe bleibt,
  2. dagegen ihre Verkündigung so sehr verschieden,
  3. und noch verschiedener die Aufnahme bei den selben Hörern ist;
  4. daß es überhaupt mit der Annahme des Christenthums so wenig von Statten geht,
  5. daß nicht einmal die Gelehrten und Obersten vornehmlich sich dem Christenthum zuwenden,
  6. sondern fast nur das Volk sich dem Christenthume zuwendet, nach wie vor.

Es giebt noch mehrere solcher befremdender Erscheinungen; aber diese nur kann ich in dieser Stunde vorstellig machen.

1.

Mit allem Recht ist es eine befremdende Erscheinung auf dem christlichen Gebiete zu nennen, daß die christliche Lehre immer und allezeit dieselbige bleibet. Wo doch findet es sich also? Man lehre, was man will, Wissenschaft, Kunst, Gewerk, Landbau und was sonst einen Namen hat, es verändert sich ja mit der Zeit, es ist ja die Anweisung, wie die Sachen anzugreifen sind nach jedem beträchtlichen Zeitraum verschieden, ja schon nach einem Zeitraume von fünfzig bis hundert Jahren meistens der früheren Lehre völlig ungleich, oftmals entgegengesetzt. Wozu immer ein Mensch gemacht werden soll, die Lehre dazu ist verschieden; und bloß die Lehre, wie Jemand ein Christ werde, die soll unveränderlich sein? Das ist wohl befremdlich.

Und nicht allein steht diese Lehre seit fünfzig, seit hundert Jahren fest, sondern seitdem der evangelische Griffel angesetzt hat zu schreiben; nicht allein stehet es in zwei, drei, vier Grundlehren fest, sondern wie sich derselbe Johannes ausdrückt: da darf weder etwas davongenommen, noch dazugethan werden. Man forsche noch so tief und erfahre von noch so Weitem, seien der Entdeckungen am Himmel und auf Erden und unter der Erde noch so viele, und werde alles, was Wissenschaft heißt, bereichert noch so sehr: es bleibt die Lehre des Evangeliums doch allezeit dieselbe, und noch wer 1832 über diesen verlesenen Abschnitt predigt, soll bleiben bei dem, wie Anno 832 und wie von Anfang her darüber gepredigt worden ist. Wie kommt das doch? Das Evangelium giebt uns den Aufschluß. Das weist uns einen Lehrer, wie ihn auch Nicodemus nennt, von Gott gekommen, als den er sich ge- und bewiesen hat durch die Zeichen, die Niemand thun kann, es sei denn Gott mit ihm, der im Himmel gewesen ist und doch im Himmel geblieben ist in nie aufgehobener Gemeinschaft mit Gott. Es sagt, was der bringt, ob das könne veränderlich sein und verbesserlich, ob das nicht müsse so bleiben, wie er es gemacht hat, immer und allezeit ganz dieselbe Lehre? War's eine Menschenlehre, so würd' es mit ihr, wie mit allem Menschenwerk sein; nun es aber eine Gotteslehre ist, muß sie, muß sie eine unveränderliche, nicht zu vermindernde, nicht zu vermehrende, stets dieselbige Lehre sein. Und daß sie es ist, kann uns, wenn dies bedacht ist, nicht weiter befremden.

2.

Mehr aber, als daß sie stets dieselbige ist, mag es Viele befremden, daß sie in ihrer Verkündigung so sehr verschieden ist. Ja, diese Verschiedenheit tritt uns allerdings auf dem christlichen Gebiete entgegen und ist keine geringe, sondern eine große und daher eine befremdende. Sie ward schon wahrgenommen zu der Zeit, als noch die heiligen Apostel die einzigen Verkündiger waren; Johannes spricht nicht wie Jakobus, und Paulus nicht wie Petrus. So war es immer, so weit wir Nachricht haben; Chrysostomus verkündigte nicht wie Augustinus, und Basilius nicht wie der Syrer Ephrem; so war es bei Allen, von welchen immer Denkmäler ihres Vortrags auf uns gekommen sind. Seit der Reformation Luthers sind diese Denkmäler in großer Zahl vorhanden, seit einem halben Jahrhundert in sehr großer. Und wie verschieden ist unter den gegenwärtigen Predigern des Einen Verkündigung der Gotteslehre von der des Andern! Nur zwei dazu Berufene, liebe Gemeinde, höre; und wer sie hört, muß sagen: Wie ungleich! Das ist allerdings befremdend, da sie doch ja sämmtlich das Christenthum predigen. Wie kommt das doch? Das Evangelium giebt uns den Aufschluß. Darin heißt es V. 11: Wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehn haben. Ja wohl, und kein Andrer, als der etwas vom Christenthum lebendig weiß, und mit Geistesaugen, die ihm geöffnet werden, gesehen hat, sollte vor einer christlichen Versammlung auftreten. Allein, da hat der Eine mehr gesehn, der Andre weniger, da hat der Eine dies gesehn, jenes der Andre; wie denn ja das Reich Gottes nicht ein kleines Kirchspiel, sondern ein weites Reich ist und reich, nicht arm, sondern reich an Vorkommenheiten von den alltäglichen an bis zu dem Seltensten und Seltsamen, ein weites und reiches Gebiet, worin, wer sich umsieht und Acht giebt, stündlich ein Neues entdeckt. Was jetzt in einem so noch nicht gesehenen Lichte sich zeigt und sein Zeugniß haben will, der Prediger giebt dieses Zeugniß nach Maaßgabe, wie der erleuchtende Gottesgeist mit den sehenden Augen und den hörenden Ohren auch die redende Zunge giebt, dies Zeugniß auszusprechen. Nickt wahr, so die Verschiedenheit angesehn, kann sie uns nicht befremden?

3.

Eher befremdet das, daß dasselbige Zeugniß desselben Zeugen unter denselben Hörern eine so verschiedene Annahme findet. Gewiß, diese Verschiedenheit ist viel größer, als die, von der wir eben gesprochen haben. Es wird keine einzige Predigt gehalten, die nicht ein Beispiel dazu giebt. „Und ihr nehmet unser Zeugniß nicht an,“ heißt es im angezogenen elften Verse. Die finden sich fortwährend, das Zeugniß ganz Abwehrende, durchaus nicht an sich kommen Lassende, und nicht jeweilen, sondern die es beständig thun, und nicht in einzelnen Theilen, in minder bedeutenden, dem Einzelnen frei gestellten Nebentheilen und unwesentlichen Artikeln, sondern die auch nichts annehmen und alles von sich weisen. Das sind oft Personen einerlei Geschlechts, Alters, Standes, einer Bildung, Personen, die sonst in Allem auf's Vollkommenste mit einander übereinstimmen, aber wenn sie ein Urtheil über die Lehren des Christenthums abgeben, wie Ost und West weit von einander stehn. Wie kommt das doch? Das Evangelium giebt uns den Aufschluß. Die Lehren selbst sind darnach. Die sind nicht von solcher Verstandesklarheit wie das Einmaleins, die können nicht vor die Augen gestellt werden wie ein Gebäude durch den Riß und ein Land durch die Karte: nein, das christliche Gebiet ist ein andres; da kann nichts augenscheinlich gemacht werden, da muß selbst der Verstand sich bescheiden lernen und die Vernunft sich gefangen geben, gleichwie man das Sausen des Windes freilich hört, aber nicht weiß, woher er kommt, noch, wohin er fähret. Also ist ein Jeglicher, spricht Christus, der aus dem Geist geboren ist. Das ist unsre Lehre, des Christenthums Anfang, Mitte und Ende: wie aus dem Wasser und Geist der Mensch von Neuem geboren wird oder in anderm Verstande des Urworts von Oben, vom Himmel geboren wird, und, wie er in diesem neuen Gottesleben erhalten, geschützt, gefördert wird. Das sind die Sachen, die auf christlichem Gebiete allein eine Berechtigung zum Vortrage haben. Kann es befremdlich sein bei solchen Sachen und deren Gestalt, wenn der Vortrag bei denselben Hörern die verschiedenste Aufnahme findet? Redet selbst bei euch davon, ihr Lieben; vergleicht's, wie ihr jetzt höret und wie ihr ehemals hörtet, wie ihr noch gegenwärtig zu verschiedener Zeit ganz verschieden hört. Je nachdem ihr eben steht, versteht ihr auch l übel, wenig, wenn es mit eurem inwendigen Menschen übel, wohl-dagegen, wenn mit ihm es wohl stehet. Daher kann euch die verschiedene Aufnahme, die das Zeugniß findet, in der That nicht befremden.

4.

Sowie auch dies nicht befremdlich ist, daß es überhaupt mit der Annahme des Christenthums so wenig von Statten gehet. Geben wir dem Seufzer Raum: Ach, wie wenig! Laßt die Gedanken nicht zu weit gehen in entfernte Länder, unter die Heiden, unter deren große, immer noch so sehr große unbekehrte Zahl. Nein, wir wollen in der Nähe bleiben, in dieser Stadt, in unsrer Gemeinde. Geht es darin von Statten, rasch oder langsam, viel oder wenig? Ihr wißt es selbst. Ich rede allein von mir und für mich: Sechszehn Jahre sind es bald, seit ich hier stehe, und was ich mir zusprechen darf vor dem allwissenden Gott - sonst bin ich klein und stumm vor ihm und bitte ihn nur um Vergebung - aber das ist dem allwissenden Gott bekannt, daß ich nie ohne Fleiß und ohne Gebet, nie vor der Versammlung aufgetreten bin, als mit der Absicht, der christlichen Wahrheit Zeugniß zu geben und das Reich Gottes zu mehren mit meiner Arbeit. - Wie ist's gediehen, gelungen in der genannten nicht kurzen Zeit? Hat das Wort einen guten Eingang gehabt? Das Christenthum eine willige begehrte Annahme? Ihr wißt es selbst. Daß es keine bessre, keine allgemeinere, keine gründlichere, keine beständigere Annahme gefunden, woher kommt doch das? Das Evangelium giebt uns den Aufschluß. Laßt einer Wendung des Apostels mich bedienen, 2. Cor. 11, 4, wo es heißt: Denn so, der da zu euch kommt, einen andern Jesum predigte, den wir nicht gepredigt haben, oder ihr einen andern Geist empfinget, den ihr nicht empfangen habt, oder ein andres Evangelium, das ihr nicht, angenommen habt: so vertrüget ihr's billig. Das kann ich ebenfalls von vielen Gemeindegliedern, ich sage nicht: von allen, aber von vielen Gemeindegliedern sagen. Wenn ich einen andern Jesum, als den Charfreitags-Jesum, einen andern Geist, als den Tauf- und Pfingstgeist, ein andres Evangelium, als das von der nöthigen neuen Geburt aus dem Geist und von dem Leben im Glauben an den erhöheten Menschensohn gepredigt hätte, sie hätten es nicht allein in Güte vertragen, sondern mit Beifall angenommen; und wenn meine Predigt einen Jeden bleiben ließe, wie er ist und den Schlechten nicht beschämte vor seinem Gewissen, so würde sie bei Vielen eine bessere Aufnahme finden. Aber seht, ich darf ja nicht, wie sie es begehren. Es steht ja des Menschen Sohn vor mir, der vom Himmel gekommen ist und hat, was ich lehren soll, mitgebracht - darf ich daran ändern? - und hat keine leichter zu fassende Lehre gegeben - darf ich, kann ich leicht machen, was er schwer machte? - und hat allen Menschen ohne Unterschied gesagt: Ihr müsset von Neuem geboren werden - darf ich sagen: Das ist nicht nöthig? oder: es hat noch Zeit damit? - Sie wollen aber nicht daran, Fleisch Und Blut sträuben sich, Augenlust, Fleischeslust und hoffartiges Wesen sind drei gar mächtige Stimmen dawider: Darum kann es nicht befremden, wenn es mit der Annahme des Christenthums überhaupt so wenig von Statten geht,

5.

daß nicht die Gelehrten einmal und die Obersten nicht sich vornehmlich dem Christenthum zuwenden. So ging's schon im Anfang. Nicodemus, ein Oberster unter den Juden, ein Meister zugleich in Israel, nein, er konnte für das Mal noch nicht in die Rede des Herrn hinein - später ist's besser gegangen, wie bekannt. Allgemein heißt es Joh. 7, 8: Glaubet auch irgend ein Oberster oder Pharisäer an ihn? Und so hat es sich gewiesen zu aller Zeit und in aller Welt. Die Großen waren„ nirgends, nie vornehmlich die sich dem Christenthum Zuwendenden. Wir lieben zu reden von uns Nahem. So sehen wir es auch bei uns. Sehet an ihre Plätze, da sie sein sollten und anhören die Lehren des Christenthums: da werden sie größtentheils nie gesehen. Meint jemand, es sei so nur am Nachmittag, so seht euch am Vormittag nach ihnen um; und meint ihr, sie seien nur eben nicht in dieser Kirche? Findet ihr sie denn in den andern? Und doch sollten die Gelehrten und Obersten es vornehmlich sein, die sich dem Christenthum zuwendeten. Einmal, sie haben doch meistens den bessern Unterricht erhalten in ihrer Kindheit und Jugend, so daß sie auch das bessere Verständniß haben sollten der Dinge, die hier vorkommen; dann, sie haben doch die größere Entledigung von Nahrungssorgen und Lebensnoth, so daß ihnen Fuß und Herz freier ist, um hierher zu kommen; dann, ihr bürgerlicher Stand, da sie stehen, der höhere, sollt' es ihnen zu einem größren Bedürfniß machen, daß sie allezeit suchten zu haben, woran sie sich hielten in ihrer Höh'. So sollten sie billig auch bedenken, wie das, was sie thun und nicht thun, die Kraft des Beispiels zeiget und in dem einen Falle so heilsam wie im andern verderblich wirket. Nicht wahr, da kann man wohl sagen: Wie kommt doch das? Unser Evangelium giebt einen Aufschluß. Wie es mit dem Einen Obersten und Meister ging, so ging es mit den meisten andern bis auf diesen Tag: Der Oberste will nicht in die Allgemeinheit hinein: ihr müsset von Neuem geboren werden, und von dem, was er ist, wozu er sich gehoben, hat, nicht das herabsetzende Wort gelten lassen: Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch. Der Gelehrte begehrt zu wissen: Wie mag solches zugehen? - und will erst verstanden, begriffen haben, bevor er glaubt. Die Geburt aus dem Geiste, aus einem Geiste, welcher nicht der seine, sondern der Geist Gottes, leuchtet ihm nicht ein. Ist er ja mit seinem Geiste alles zu richten und alles zu schaffen geübet! Schon die irdischen Dinge kann er als Wirkungen des göttlichen Geistes, der an den Seelen der Menschen arbeitet und sie neu machen will, unter den Gesichtpunkt eines fremden Thuns, einer an ihm wirkenden Gnade nicht bringen, und glaubt sie daher nicht. Vollends die himmlischen Dinge - daß jener Schlange gleich, deren Anschaun vom leiblichen Tode befreiete, der Menschensohn mußte ja, mußte erhöhet werden nach dem Rathschluß der göttlichen Liebe, damit Alle, die an ihn glaubten, nicht verloren gingen, sondern das ewige Leben hätten - an diese himmlischen Dinge zu glauben, daran ist eben ihr irdisches Wissen, gleichwie ihr irdischer Stand ihnen ein Hinderniß, davon sie sich hindern lassen und nicht zu Dem kommen, der von nichts anderm spricht, Glauben begehrt und eine Geburt aus dem Wasser und Geist; sie kommen deshalb nicht zu Christo, wenden sich dem Christentum nicht zu, sondern ab - von Natur, natürlicher Weise - darum kann uns auch diese Erscheinung nicht befremden und wir sagen: So mögen sie denn! Gott wolle, Gott wird sie nicht ganz, nicht bald aus seiner Gnade fallen lassen; er bringe sie, ob auch spät noch, in sein Reich. Sende, o Gott, wie es im prophetischen Worte Jer. 16, 16. heißt, Fischer nach ihnen aus, die sie fischen, und viele Jäger, die sie sahen auf den Bergen und Hügeln und in den Steinritzen!

6.

Welches Standes sind denn diejenigen, welche sich vornehmlich dem Christenthume zuwenden? Die Obersten und die Gelehrten sind es nicht. Dagegen jetzt wie immer und hier wie allerwärts ist es, was man so nennt, das Volk; das wendet sich vornehmlich dem Christenthum zu. „Sondern das Volk“, heißt es in der angezogenen Schriftstelle Joh. 7., „sondern das Volk, das nichts vom Gesetze weiß“. Ja dieses war es zu Christi Zeit. Alles Volk hing ihm an und hörete ihn. - Und immer noch, wo eine Zahl, die so heißen kann, sich zum Anhören der Lehre vom Reich versammelt, finden wir sie aus der Volksklasse bestehend. So ist auch das bekannt, daß meistens in den Gemeinden auf dem Lande eine festere Anhänglichkeit an's Christenthum und eine größere Lust an der Verkündigung der Lehre vom Reich Gottes gefunden wird. Die Personen aber, die Zahl, welche man beisammen das Volk nennt, diese sind mit Leibesarbeit belastet, zum Theil mit der unvernünftigen Creatur mehr als mit Menschen im Umgang, von früher Kindheit schon an die Arbeit gestellt, nach zurückgelegter Kindheit mit nur dürftiger Aufrüstung ihres Geistes in's weite Leben gewiesen; sie sind wie abgeschnitten bleibend ihr Lebenlang von jeder höhern Anregung durch Menschen und durch Bücher, mit nur drei Büchern etwas bekannt, mit Katechismus, Gesangbuch und Bibel. Und von diesen Büchern sagt man noch, und nicht ohne Grund: Das erste ist vergessen und in den beiden andern verstehn sie wenig. - Und diese Armen, das Volk, weisen sich dennoch als dir besten Christen, sie halten noch vornehmlich auf Gottesdienst und Predigt und sind vor Andern dem Christenthum zugewandt. Da mögen wir wohl sagen: Wie kommt doch das! Unser Evangelium giebt uns einen Aufschluß. Das „Ihr - ihr müsset von Neuem geboren werden“. - Dies allgemeine, häßliche „Ihr“ für die Gelehrten und Obersten, welches sie entfernt hält, ist ein anlockendes und gewinnendes „Ihr“ für Alle, die man zum Volke zählt. Wer nimmt sich sonst ihrer an, und bekümmert sich um ihr Seelenheil? Ihrer Leibeskräfte bedient man sich und die Reichen leben zum Theil von den Armen; die Hohen stehen nur so hoch, weil sie als mit ihren Füßen auf den Geringen stehen. Hier bietet sich ihnen nun Jemand an, der sie zeitlich und ewig beglücken will und ihnen ein Leben aufthut, in das sie können geboren werden, wozu er selbst hilft, in welches Lebens Besitz wahrlich ein Himmel schon auf der Erde besessen und alle Mühseligkeit vergessen wird vor der gefundenen Ruh' und Erquickung. Das Evangelium giebt uns einen Aufschluß, weshalb besonders die aus dem Volk, wie sie immer gethan, auch noch jetzt so dem Christenthume sich zuwenden: Die können sich keine Sittenlehre schaffen und keine Glaubenslehre construiren aus dem Eigenen, finden sich auch nimmer gereizt, es zu versuchen, legen die Finger nicht an die Stirn oder das Haupt in die Hand, sinnend, grübelnd; sondern falten ihre Hände und hören als Betende zu; wie sie denn Betende wirklich sind, wenn der vom Himmel gekommene, durch Zeichen, die er thut, sich kräftig als der Sohn Gottes erweisende Jesus ihnen den Heilsweg zeigt. Ein Vorgänger selbst und Muster in allem, steht er mit ausgebreiteten Armen vor ihnen und ruft: Kommt her zu mir! und in seinen Augen sehen sie die göttliche Liebe, die göttliche Gnade, das göttliche Vergeben aller begangenen Sünden, und ewiges Leben für sie, das erworben ist, erworben wird für einen Jeden durch seinen Versöhnungstod. Sie wissen's, warum er, wie einst die Schlange in der Wüsten, erhöhet werden mußte; nämlich auf daß Alle, die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Töne sind das, Klänge, unter dem Volk von der Zeit der Väter her bekannt und auch denen, die sie hören zum ersten Male, sogleich bekannt werdend, wo nur der Widerspruch nicht ist, wie er beim Volk nicht ist, wo der Hochmuth nicht hindert, wie er beim Volk nicht hindert, und wo kein Wissensdünkel im Wege steht, wie er beim Volk nicht im Wege stehet. Daher ist es denn das Volk vornehmlich, welches solchem Wort nachgehet, für uns keine befremdende Erscheinung mehr.

So habe ich denn sechs solcher auffallender Erscheinungen bei der christlichen Lehre eurer Aufmerksamkeit vorgeführt und habe, meine ich, über sie Licht gebracht mittelst des heutigen Sonntagsevangeliums. Es wäre nun noch umher zu gehen mit dem soweit Gesprochenen, daß Jedem gewiesen würde: siehe, dazu und dazu mußt du das Gesprochne nun brauchen. Es mag dem Geist überlassen bleiben, der, wie er die neue Geburt bereitet, gleichfalls in alle Wahrheit leitet. Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/harms_c/harms-dcgul19.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain