Hamann, Johann Georg - Betrachtungen über die heilige Schrift.

Hamann, Johann Georg - Betrachtungen über die heilige Schrift.

Geschrieben zu London im Jahr 1758.

Diese Betrachtungen sind aus einer Handschrift des sel. Hamann gezogen, deren Entstehen er selbst in seinen (gleichfalls ungedruckten) Gedanken über seinen Lebenslauf 1758. also angiebt:

„Unter dem Getümmel aller meiner Leidenschaften, die mich überschütteten, daß ich öfters nicht Athem schöpfen konnte, bat ich immer Gott um einen Freund, dessen Bild ich nicht mehr kannte. Ich hatte anstatt dessen die Galle der falschen Freundschaft und die Unhinlänglichkeit der besseren gekostet, genug gekostet. Ein Freund, der mir einen Schlüssel zu meinem Herzen geben konnte, war öfters ein Wunsch, den ich that, ohne den Inhalt desselben recht zu verstehen. Gott Lob! ich fand diesen Freund in meinem Herzen, der sich in dasselbe schlich, da ich die Leere und das Dunkle und das Wüste desselben am meisten fühlte. Ich hatte das alte Testament, einmal zu Ende gelesen und das neue zweimal. Weil ich nun von Neuem den Anfang machen wollte, so schien es, als wenn ich eine Decke über meine Vernunft und mein Herz gewahr würde, die mir dieses Buch das erstemal verschlossen hätte. Ich nahm mir daher vor, mit mehr Aufmerksam, keil und in mehr Ordnung dasselbe zu lesen und meine Gedanken dabey aufzusetzen. Dieser Anfang, wo ich noch sehr unvollkommene und unlautere Begriffe von Gottes Wort zur Lesung desselben mitbrachte, wurde gleichwohl mit mehr Aufrichtigkeit als ehemals am 13ten März 1758 von mir gemacht. Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Wirkung desselben. Ich vergaß alle meine Bücher darüber; ich schämte mich, selbige gegen das Buch Gottes jemals verglichen, jemals sie demselben zur Seite gesetzt, ja jemals ein anderes demselben vorgezogen zu haben. Ich fand die Einheit des göttlichen Willens in der Erlösung Jesu Christi; daß alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes auf diesen Mittelpunkt zusammen liefen, die Seele des Menschen aus der Sklaverey, Knechtschaft, Blindheit, Thorheit und dem Tode der Sünden, zum größten Glücke, zur höchsten Seligkeit und zur Annehmung solcher Güter zu bewegen, über deren Größe wir noch mehr als über unsere Unwürdigkeit oder die Möglichkeit, uns derselben würdig zu machen, erschrecken müßen, wenn sich uns selbige offenbaren.

„Ich fuhr unter Seufzern, bieder Gott vertreten wurden durch einen Ausleger, der ihm theuer und werth ist, in Lesung des göttlichen Wortes fort, und brachte meine Arbeit mit göttlicher Hülfe, mit außerordentlich reichem Tröste, ununterbrochen, am 21ten April zu Ende.“

„Ich fühle Gott Lob! jetzt mein Herz ruhiger, als ich es jemals in meinem Leben gehabt. In den Augenblicken, wo die Schwermuth hat aufsteigen wollen, bin ich mit einem Tröste überschwemmt worden, Hessen Quelle ich mir selbst, nicht zuschreiben kann, und den kein Mensch im Stande ist seinem Nächsten so überschwenglich einzuflößen. Ich bin erschrocken über den Ueberfluß desselben. Er verschlang alle Furcht, alle Traurigkeit, alles Mißtrauen, daß ich keine Spur davon in meinem Gemüthe mehr finden konnte.“

Erster Abschnitt.

  1. Gott hat unseren Seelen einen Hunger nach Erkenntniß, ein Verlangen zu wissen, eine Unruhe, wenn wir uns an einem finstern Orte befinden - er hat uns einen Durst der Begierden gegeben, die lechzen, die schreien nach einem Gute, das wir so wenig zu nennen wissen, als der Hirsch das frische Wasser, das wir aber erkennen und in uns schlucken, sobald wir es antreffen. So wie wir für unsern zeitlichen Hunger und Durst einen reichen Vorrath der Natur finden, daß für jeden Geschmack gesorgt ist; so hat Gott gleichfalls Wahrheit und Gnade, Brod und Wasser Manna und Wein zur Nahrung und Stärkung unserer Seele zubereitet.
  2. Jedes Wort, das aus dem Munde Gottes geht, ist eine ganze Schöpfung von Gedanken und Bewegungen in unserer Seele; Weisheit, Verstand, um den uns die Teufel beneiden, der uns ehrwürdig in ihren Augen macht. Allenthalben ist der Geist Gottes, der die Höhen unserer Vernunft niederreißt, um uns ein himmlisches Gesicht dafür mitzutheilen; der unsere Vernunft zu verwirren scheint, indem er sein Licht in ihr scheinen laßt und die Finsterniß absondert.
  3. Das Wort Gottes ist gleich jenem flammenden Schwerte, das allenthalben sich hinkehrt, oder gleich dem lichte, das alle Farben in sich hält.
  4. Wie Gott allein geehrt seyn und seine Ehre mit keinem Geschöpfe theilen will; so ist es mit seinem Worte: es will allein geschmeckt und genossen seyn, weil es alles ersetzt. Es verschwindet, sobald der Mensch zu dem alten Getreide seines Grundes und Bodens zurückkehrt. Geist der Wahrheit! laß mich niemals zu den Trebern dieser Welt zurückgehen, nachdem ich deinen Honig gesogen habe, den Honig des Felsen und das Oel des harten Felsen. (5. B. Mose 32.)
  5. Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst seyn, worauf alle Begriffe und Reben der Christen sich gründeten, und aus welchen sie beständen und zusammengesetzt würden.
  6. In der Bibel finden wir eben die regelmäßige Unordnung, die wir in der Natur entdecken. Alle Lehrweisen sind als Gängelwagen der Vernunft anzusehen und als Krücken derselben. Die Einbildungskraft der Dichter hat einen Faden, der dem gemeinen Auge unsichtbar ist und den Kennern ein Meisterstück zu seyn scheint. Alle verborgene Kunst ist bey ihm Natur. Die heilige Schrift ist in diesem Stücke das größte Muster und der feinste Probestein alles menschlichen Urtheiles.
  7. Wie der Geist Gottes die kleinsten Ordnungen, welche in seinem Dienste gemacht worden, aufzeichnet und die kleinsten Umstände anmerkt: Es ist eben dieß die Art, wie er in unsern Seelen wirkt. Wer den Geist Gottes in sich fühlt, wird ihn gewiß auch in der Schrift fühlen. Wie er die kleinsten Umstände, die uns begegnen, anwendet, um die Menschen zu erbauen, aufzurichten, zu erfreuen, zu trösten und zu warnen! So wahr ist es, daß seine Absicht gewesen, keinen andern, als Gläubigen, als wahren Christen durch sein göttliches Wort zu gefallen. Der Ungläubige geht ihn nichts an, er mag so einfältig oder so gelehrt seyn als er will; er ist versiegelt für ihn; der Gläubige ist sein Vertrauter; er läßt sich schmecken von dem einfältigsten und tiefsinnigsten Verstande mit gleicher Wollust, mit gleichem Reichthume himmlischer Wahrheit und übernatürlicher Gnade.
  8. Wie hat sich Gott der Vater gedemüthigt, da er einen Erdenklos nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Athem beseelte! Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt, da er ein Mensch wurde, der geringsten einer unter den Menschen! Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedert, da er ein Geschichtschreiber der kleinsten, unbedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen die Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren! Stellet euch das Geheimniß vor, wodurch ihr euch einem Volke wolltet verständlich machen, das taub und blind geboren wäre. Nur Gott würde zu einem solchen Volke reden, nur der, welcher Augen und Ohren gemacht hat, würde einem solchen Volke sich entdecken können. Die Natur ist herrlich. Wer kann sie übersehen? wer versteht ihre Sprache? sie ist stumm, sie ist leblos für den natürlichen Menschen. Aber die Schrift, Gottes Wort, ist herrlicher, ist vollkommener, ist die Amme, die uns die erste Speise giebt und uns stark macht, allmälig auf unseren eigenen Füßen zu gehen; die das Zauberband des Satans über unsern eigenen Sinnen und unserer Vernunft hinwegnimmt, die das Geräusch der wilden Leidenschaften in unserer See, le, von dem wir übertäubt werden, daß wir uns selbst nicht unserer bewußt sind, in Stille, in Freude, in ewigen und himmlischen Frieden verwandelt. Gott läßt seine Güte die Menschen sehen und schmecken in tausend Gestalten, in tausend Verwandlungen, die nichts als Schafen seiner Güte sind, die durch die ganze Schöpfung als der Grund ihres Daseyns, ihres Segens fließt. Lasset uns die ganze Schrift als einen Baum ansehen, der voller Früchte, und in jeder einzelnen Frucht ein Same, ein reicher Same eingeschlossen ist, in dem gleichfalls der Baum selbst und die Früchte desselben liegen. Dieß ist der Baum des Lebens, dessen Blätter die Völker heilen, und dessen Früchte die Seligen ernähren sollen.
  9. Gott! wie hat der Stolz in das menschliche Herz kommen können! Die ganze Schrift ist in einer Art geschrieben, worin Du Dich selbst hast demüthigen wollen, um uns die Demuth zu lehren, um den Stolz des Philisters zu Schanden zu machen, der deine Wunder, unter dem Griffel, womit du sie an die Pforten des Thores vor den Augen Himmels und der Erde schriebst, daß alle, die aus und ein gingen, es lesen konnten, für die Schrift eines Wahnwitzigen ansah; daß die Söhne der Schlange um die Weisheit kommen, den gesegneten Weibessamen zu binden, weil sie ihn gleichfalls für verrückt ansahen; daß dein Apostel öffentlich der Raserey beschuldigt werden mußte; warum? weil dein Geist durch ihn Worte der Wahrheit und Nüchternheit sprach.
  10. Die Schrift kann mit uns Menschen nicht anders reden, als in Gleichnissen, weil alle unsere Erkenntniß sinnlich ist und der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerlichen Dinge allenthalben zu Zeichen geistiger und höherer Begriffe macht. Außer dieser Betrachtung sehen wir, daß es Gott gefallen hat, seinen Rath mit uns Menschen zu verbergen, uns so viel zu entdecken, als zu unserer Rettung nöthig ist und zu unserem Troste; zu gleicher Zeit aber auf eine Art, die die Klugen der Welt, die Herren derselben hintergehen sollte; daher hat Gott verächtliche, ja Undinge zu Werkzeugen seines geheimen Rathes und verborgenen Willens gemacht. Ich wiederhole mir selbst diese Betrachtung so oft, weil sie mir ein Hauptschlüssel gewesen, Geist, Hoheit und Geheimniß, Wahrheit und Gnade da zu finden, wo der natürliche Mensch nichts als eine Redensart, oder Eigenheit der Grundsprache, der Zeiten, des Volkes, kleine Wirthschaftsregeln und gemeine Sittensprüche findet.
  11. Warum die Verstoßung aus dem Paradiese, die Sündfluth, die Verfolgungen, die Mühseligkeiten, das traurige Ende dieses Lebens, die Gefangenschaft, bis Wüste, die Kriege? Warum das Gesetz, die Flüche und Segenssprüche? Von Glauben zu Glauben. Sieh diese Stufen im 11ten Kapitel des Briefes an die Ebräer. In Moses die Donnerstimmen, und das mildere Träufeln des göttlichen Trostes und seiner Verheißungen in den Propheten. Alles ist, um uns die Sünde, zu offenbaren; die Unmöglichkeit, in derselben Gott zu gefallen, oder die Unmöglichkeit, der göttlichen Strafe derselben zu entgehen, in zeitlichen Begebenheiten und Handeln der Welt sichtbar zu machen.
  12. Wer erstaunt nicht, wenn die größten Völker der Erde in ihren Kriegen und Eroberungen, in ihren Siegen und Verwüstungen, zu nichts als Propheten unsichtbarer Dinge, zu einem Puppenspiele der Vorsehung gedient haben, um sich den Gläubigen durch diese Zeichen zu offenbaren? Wir müssen die ganze Erde bloß als eine Himmelskugel der Sternseher betrachten, und die ganze Geschichte derselben als eine Landkarte oder als einen Riß zu einer Aufgabe der höheren Meß- und Bewegungskunst.
  13. Welche Geheimnisse unserer Natur finden wir in Gottes Worte aufgeklärt! Der ganze Mensch scheint ohne dasselbe nichts als Erde zu seyn; Leere und Finsterniß auf der Fläche der Tiefe. Denn hier ist eine Tiefe, die kein menschlicher Verstand absehen kann; eine Tiefe, auf der Dunkelheit liegt, die unfern Augen nicht einmal erlaubt, die Oberfläche recht zu unterscheiden. Wollen wir etwas wissen, so lasset uns den Geist fragen, der über dieser Tiefe schwebt, der diese ungestalte, leere, dunkle, geheimnißvolle Welt in die Schönheit, Klarheit und Herrlichkeit versetzen kann, gegen welche die übrige Schöpfung ihren Glanz zu verlieren scheint.
  14. Die Weissagung der Hess Schrift ist von keiner einzelnen oder menschlichen Auslegung. Es sind nicht Abrahams Werke und Moses Wunder und Israels Geschichte der Inhalt dieses Buches; es betrifft keine einzelnen Menschen, keine einzelnen Völker, ja nicht einmal die Erde allein, sondern alles ist ein Vorbild höherer, allgemeiner, himmlischer Dinge. Wenn Moses den Willen gehabt hätte, auf seinen eigenen Antrieb zu schreiben, so dürften wir vielleicht nichts als eine Sammlung von Urkunden und einzelnen Nachrichten von ihm erwarten. Es ist nicht Moses, nicht Esajas, die ihre Gedanken und die Begebenheiten ihrer, Zeit in der Absicht irdischer Schriftsteller und Bücher, Schreiber der Nachwelt oder ihrem Volke hinterlassen haben. Es ist der Geist Gottes, der durch den Mund und den Griffel dieser heiligen Manner sich offenbarte; der Geist, der über die Wasser der ungebildeten, jungen Erde schwebte, der Maria überschattete, daß von ihr der Heilige geboren wurde; der Geist, der die Tiefen der Gottheit allein zu erforschen vermag. Mit wie viel Ehrfurcht soll dieß uns bewegen, das göttliche Wort zu lesen und zu genießen!
  15. Ein wahrer Christ findet das Wort Gottes, je länger, je mehr er es liest, von allen Büchern durch ein Wunder unterschieden, fühlt den Geist des Wortes in seinem Herzen schmelzen, und wie durch einen Thau des Himmels die Dürre desselben erfrischt; sieht, daß derjenige sein Antlitz in demselben aufhebt und entdeckt, in dessen Augen alles offenbar, vor dem alles bloß und nackt ist; daß es der Geist ist, der über den Tiefen der ganzen Schöpfung schwebt, dessen Stimme wir in der heil. Schrift fragen und hören.
  16. So wie der Geist Gottes in der Offenbarung, die er einem einzigen Volke gegeben, sich allen Völkern hat offenbaren wollen; so hat er sich gleichfalls allen Zeiten, bis ans Ende der Welt geoffenbart. Ich bin bey euch allenthalben bis an der Welt Ende, konnte nur ein Erlöser sagen, der ein Gott ist, dessen Gegenwart alle Orte und alle Jahrhunderte füllt. Eben dieses Zeugniß hat der Geist Gottes von seinen göttlichen Eigenschaften durch die Eingebung seines Wortes gegeben, indem die Wahrheiten desselben seine ewige Allgegenwart und Allwissenheit offenbaren. Wie die Sonne alle Tage scheint und allen Nationen aufgeht, so ist dieses Licht in der Welt Gottes; es ist das Wort für alle Menschen geschrieben und für alle Zeiten! Der Urheber desselben hat alle Menschen bey Namen gekannt, und alle Begebenheiten der Welt, ihre Zeit, Verbindung, Art, den kleinsten, ja allerkleinsten Umstanden nach.
  17. Die ganze Zeit macht einen einzigen Tag in Gottes Haushaltung aus, wo alle Stunden zusammenhangen, in einen Morgen und einen Abend eingeschlossen sind. Die Ankunft unseres Heilandes machte den Mittag der Zeit aus. Wie die Menge der Tage nichts als heute für Gott, so ist der heutige Tag eine Ewigkeit für uns. Herr, dein Wort macht uns klug, wenn es uns auch nicht mehr gelehrt hätte, als diese unsere Tage zählen. Was für ein Rausch, was für ein Nichts sind sie in unsern Augen, wenn die Vernunft sie zählt! Was für ein Schatz, was für ein All, wenn sie der Glaube zählt! Herr, lehre mich meine Tage zahlen, auf daß ich. klug werde! Alles ist Weisheit in deiner Ordnung der Natur, wenn der Geist deines Wortes den unsrigen aufschließt. Alles ist Unordnung, wenn wir selbst sehen wollen, elender als blind, wenn wir dein Wort verachten und mit den Täuschgläsern des Satans sehen. Unsere Augen haben die Schärfe des Adlers, gewinnen das Licht der Engel, wenn wir in deinem Wort alles sehen, dich liebreicher Gott! Der Christ allein ist ein Mensch, ein Herr der Erde; er allein liebt sich, die seinigen und seine Väter, weil er Gott liebt, der ihn zuvor geliebt hat.
  18. Gott wiederholt sich, wie in der Matur, so in der Schrift, in der Regierung der Welt, in der Aufbauung seiner Kirche, im Wechsellaufe der Zeiten; - wenigstens scheint es uns so und ist notwendig für uns, daß wir Wiederholung sehen. - Es sind nicht dieselben Früchte und sind doch dieselben, die jeder Frühling hervorbringt; es ist nicht derselbe Leib, und doch derselbe, den wir aus Mutterleibe bringen und in den Schooß der Erde säen; es ist nicht derselbe Fluß, und ist doch derselbe, der sich selbst zu verschlingen scheint. Wer ein Sonnenstäubchen erklären kann, der hat das Räthsel der ganzen Natur.
  19. Nächst dem Reichthums Gottes in der Natur, der aus Nichts entstand, ist keine größere Schöpfung, als diese der menschlichen Begriffe und Empfindungen zu himmlischen und göttlichen Geheimnissen; diese Allmacht der menschlichen Sprache zu den Gedanken der Cherubim und Seraphim. Wie schwellen, wie glühen, wie rauschen die sinnlichen Eindrücke zum Gefühle und Augenscheine des Glaubens und des Geistes! Jede einzelne Traube des göttlichen Wortes ist eine ganze Weinärnte für einen Christen. Alle Wunder sind tägliche Begebenheiten, stündliche Erfahrungen des Lebens in Gott. Es ist einem Christen so unmöglich, an Gottes Wort zu zweifeln, als einem Heiden, an dasselbe zu glauben. Es ist mehr als das Zeugniß der Sinne und der Vernunft, was zur Religion gehört. Sie hat ein festeres Siegel, als den Beyfall dieser Unmündigen nöthig, dieser bestochenen Hüter, die uns erzählen, was sie im Schlafe setzen.

Zweiter Abschnitt.

  1. Großer Gott! unsere verderbte Natur, in welcher du Himmel und Erde hast vereinigen und zugleich erschaffen wollen, ist dem Chaos nur gar zu ähnlich seiner Ungestalt, seiner Leere und Dunkelheit nach, welche die Tiefe vor unsern Augen bedeckt, welche dir allein bekannt ist. - Mache diese wüste Erde durch den Geist deines Mundes und durch dein Wort zu einem guten, zu einem fruchtbaren Lande, zu einem Garten deiner Hand!
  2. Gott hat mit bewundernswürdiger Weisheit ein so außerordentliches Band und Scheidewand zugleich zwischen den Kräften des Leibes und der Seele, zwischen den Gewässern oben und unten eingeführt, daß sie sich einander ersetzen, gegen einander dienstfertig sind und in ihrer Entfernung einen Zusammenhang finden. Gott hat unserem Leibe das Gefühl des Hungers gegeben, daß wir eben eine solche Notwendigkeit in unserem Geiste zum voraus setzen sollen. Ja vielleicht macht der Hunger, der Kummer, die Dürre, worin unser Geist lebt, den Leib so schwach, so gierig. Moses, unser Heiland, und seine Nachfolger erfuhren mit ihren Sinnen die Nahrung, die wir in der Vollbringung des göttlichen Willens fühlen sollen.
  3. Das Böse, was Gott zuläßt, ist nichts, als: er verdeckt die Wege der Schöpfung; er verdeckt seine Wege, die er gehen will. Alles Böse ist ein Gutes, ist ein göttliches Mittel, was für uns bedeckt ist.
  4. Der Gott, der den Sturm,- das Erdbeben, das Feuer zu seinen Boten hat, wählt eine stille, leise Stimme zum Zeichen seiner Gegenwart. (1. B. der Kön. Kap. 19.) Diese Stimme hört ein Elias, der den Sturm, das Erdbeben und das Feuer gehört, gesehen und gefühlt hatte unbewegt; diese Stimme hört ein Elias und verhüllt sein Gesicht im Mantel. Dieß ist die stille, leise Stimme, die wir mit Zittern in Gottes Wort und in unserem Herzen hören.
  5. Alle Werke Gottes sind Zeichen und Ausdrücke seiner Eigenschaften, und so, scheint es, ist die ganze körperliche Natur ein Ausdruck, ein Gleichniß der Geisterwelt. Alle endliche Geschöpfe sind nur im Stande, die Wahrheit und das Wesen der Dinge in Gleichnissen zu sehen.
  6. 3. B. Mose 3,11. „Und der Priester soll es anzünden auf dem Altar, zur Speise des Feuers dem Herrn.“ Moses hat uns Gott beschrieben, daß er ruhte nach der Schöpfung. Hier finden wir ein größer Geheimniß in den Friedensopfern ausgedrückt. Gott erklärt sie für seine Speise. Wie in den Brandopfern die Unreinigkeit unserer Natur in Vorbildern von Gottes Augen entfernt wurde; so sah er in den Friedensopfern das Leben der neuen Creatur, sein Bild erweckt, wieder hergestellt, uns in der Blüthe der Heiligkeit. Dieß ist die Speise Gottes, die wir Menschen ihm bringen. Er halte Wein von seinem Weinstocke verlangt, der Gärtner brachte ihm Weinessig mit Galle vermischt. Diesen trank sein Sohn für ihn am Kreuze. Gott, welche Wunder in deiner Erlösung, in deinem Wesen! in deinen Eigenschaften! Die Natur verschwindet vor deinem Worte. Hier ist das Allerheiligste; die ganze Schöpfung ist nur ein Vorhof gegen dasjenige, was wir in diesem Worte sehen.
  7. Der ganze Gottesdienst der jüdischen Kirche, die Opfer, die Lieder, der Tempel, die Harfen, alles war prophetisch; alles waren Sinnbilder des Dienstes Gottes, den wir Christen mit unsern Gedanken, Worten, Handlungen, mit unserem ganzen Leibe, mit jedem Werkzeuge unsres Berufes, unseres Wandels und unserer Andacht, durch den Glauben an seinen Sohn, bezeugen würden. Unser ganzes Leben, alles Gottesdienst eines Christen, alle seine Handlungen sind prophetisch, sind Prophezeihungen von dem himmlischen Dienste, den wir Gott vor seinem Throne, mitten unter seinen Engeln, und dem lamme Gottes mitten unter seinen Zeugen und Brüdern, bringen wollen und sollen. So waren die Mäntel der Propheten, so die Stäbe ihrer Diener Wundertäter.
  8. Was ist der Grund der kümmerlichen Erndte von einer großen Aussaat, des Hungers und des Durstes, der niemals gestillt werden kann, der Kalte, die uns unsere Kleiber nicht vertreiben wellen, und der durchlöcherten Beutel, worin wir unsere Einnahme aufzuheben glauben? Der Mangel des göttlichen Gedeihens; und dieses fehlte weil uns Gott und. sein Dienst ein Nebenwerk, ein entbehrliches Ding, ein Ueberfluß - ja leider ein Hinderniß in unserem Berufe scheint. - Dieser Mangel der Religion in den Menschen macht überhaupt schon eine Unordnung in den Leidenschaften, die immer noch viel sehen und wenig zu empfangen glauben, und das Wenige selbst durch hundert kleine Lüste, durch allerhand Ausschweifungen, Nachlässigkeiten und Thorheiten bald zu Spreu machen.
  9. Wir hören und reden Wahrheiten als Träumende, und hören und reden Träume, Unsinn, Tändeleien mit aller Mühe und Aufmerksamkeit eines Wachenden, Loth sagte zu seinem Eidam: Der Herr will diese Stadt zerstören, fliehet, wenn ihr euer Leben retten wollt. Sie starrten ihn an, als wenn ihr alter Schwiegervater kindisch würde.
  10. Was ist die Stimme unseres eigenen Herzens, die wir das Gewissen oder das Lispeln der Vernunft oder unsern Schutzengel nennen? Ach! mehr als unser Herz und als ein Engel!. Der Geist Gottes verkleidete sich in unsere eigene Stimme, daß wir seinen Zuspruch, seinen Rath, seine Weisheit aus unserem eigenen, steinigen Herzen mit Verwunderung hervorquellen sehen.
  11. Die Schönheit der Dinge besteht in dem Augenblicke ihrer Reife, den Gott abwartet. Wer die Blüthe der Kirschen für die Früchte kosten wollte, würde ein schlechtes Urtheil darüber fällen; wer den kühlen Schatten der Bäume nach der Witterung des Winters und nach ihrer Gestalt in dieser Jahreszeit beurtheilen wollte, würde sehr blind urtheilen; und diese Schlüsse machen wir gleichwohl über Gottes Regierung und über die Absichten derselben.
  12. Woher haben wir die Kräfte zu sehen, zu hören, zu urtheilen, zu prüfen, als vom Herrn? Alles, was ein Gegenstand dieser Kräfte seyn kann, ist gleichfalls sein. Woher sollen wir denn die sicherste Richtschnur, nach der wir unsere Erkenntniß anbauen und einrichten können, und das tiefste Bleygewicht, das die Abgründe seiner Weisheit erreichen kann, hernehmen, als von ihm? Wem wird aber der Herr das Seinige am liebsten anvertrauen, als den Seinigen und denen, die ihn fürchten und lieben? Was ist die Religion anderes, als die lautere, gesunde Vernunft, die durch den Sündenfall erstickt und verwildert ist, und die der Geist Gottes, nachdem er das Unkraut ausgerottet, den Boden zubereitet und zum Samen des Himmels wieder geheiligt hat, in uns zu pflanzen und wieder herzustellen sucht?
  13. Habt Salz bey euch und habt Frieden untereinander. Marc. Kap. 9. V. 50. Wir sind uns selbst als Opfer dem Heiland und dem Vater schuldig, nicht wie er es war, sondern wie seine Vorbilder es waren. Anstatt des Feuers kommen wir mit dem Salze ab, mit dem Gefühle unseres Elendes und dessen, was Christus dafür gelitten hat, mit Glauben und Annehmung seines Verdienstes, die ohne Schmerzen, ohne Empfindlichkeit nicht geschehen kann; aber hierin liegt unsere Erhaltung und das Gewürz, das uns dem höchsten Gotte als Opfer-, als Bilder seines Sohnes, angenehm macht. Kein Opfer ist also angenehm, zu dem das rechte Salz desselben fehlt, die Empfindung unserer Sünde und der Glaube an den, der das Feuer der Sünde ausgelöscht hat. Dieses Salz ist das einzige Gegengift des Stolzes, Neides und aller Sünde; dieses sollten die Jünger unter sich zu erhalten suchen und Frieden untereinander haben. Die Jünger sollten um so mehr auf dieses Salz in ihren Seelen bedacht seyn, weil Gott sie selbst als das Salz der Welt erwählt hatte, wodurch er sein Todesopfer der Welt zum Besten gereichen lassen wollte.
  14. Der Satan bemächtigt sich nicht nur unserer sinnlichen Werkzeuge und Seelenkräfte, sondern auch der Vernunft selbst. Das Leben unseres Heilandes und seine wunderbaren Euren, die er that, waren mehrentheils in der Einlösung und Wiedererstattung dieses obern und untern Mühlsteins, aus deren Vereinigung die Bewegung und Bedingung unserer Natur und unseres Lebens besieht.
  15. Der Vernunft geht es, wie den Augen mit einem Vergrößerungsglase, wo die zarteste Haut ecket, das schmackhafteste Gericht zu einem Haufen Würmer und das feinste Werk der Kunst zu einer Pfuscher, Arbeit wird. Wir sehen eine Unmöglichkeit, allen Ungleichheiten in der menschlichen Gesellschaft abzuhelfen, und wir setzen eine überwiegende Anzahl von Mangeln und Gebrechen in derselben; ja die Blödigkeit unserer Sinne und Verstandeskräfte läßt uns Fehler in Schönheiten finden, indem wir alles nur stückweise betrachten.
  16. Alle natürliche Erkenntniß ist so alt als die Natur selbst, und weil diese unveränderlich bleibt, so kann keine Neuigkeit in den Empfindungen derselben im eigentlichen Verstande statt finden. Derjenige Theil der Erde, welchen man die neue Welt nennt, ist ein sinnlich Exempel, wie die Schwachheit und Undeutlichkeit unserer Gedanken die Worte verfälscht. Nicht also im Laufe der Natur und im Gesichtskreise unserer Vernunft und jedes vernünftigen Geschöpfes ist etwas neues anzutreffen; dieß muß außer diesem Bezirke Statt finden. Gott muß den Lauf der Natur andern oder uns in einen andern Gesichtskreis versetzen oder denselben erweitern, wenn wir etwas neues oder mehr als das Alte entdecken und erkennen sollen. Das Neue selbst kann unter dem Kleide des Alten erscheinen, wie uns das Alte durch den Schein des Neuen hintergeht, weil wir nichts als die Oberfläche, und diese Oberfläche selbst öfters nur in Dunkelheit und durch einen Nebel sehen. Es ist also Gott allein, der Neues hervorbringen, der uns Neues entdecken und der uns das Neue zu unterscheiden und wahrzunehmen lehren kann. Gott schreibt sich dieses alles ausdrücklich in der heiligen Schrift zu; und der Prediger Salomo scheint hauptsächlich in der Absicht geschrieben zu seyn, daß er, als der Weiseste aller Sucher der Weisheit, auf die Offenbarung Gottes ins Fleisch, und die Predigt seines Königreiches, als die einzige Neuigkeit, die für die Erde und ihre Bewohner wichtig, allgemein, und wirklich neu wäre, ja niemals aufhören würde neu zu seyn, verweisen sollte. Gott ließ daher ein Gerücht von dieser Neuigkeit sich so lange vorher auf der Erde ausbreiten, und die Engel waren Boten des Himmels, die selbige als eine große Freude, die allem Volke, den Geschlechtern der ganzen Schöpfung wichtig wäre, verkündigen mußten. Die Predigt des Evangeliums wird daher die fröhliche Zeitung des Königreiches Gottes genannt; und das ausgerüstete Werkzeug Gottes, Paulus, der bis in den dritten Himmel gewürdigt wurde entzückt zu werden, wußte nichts als Jesum den Gekreuzigten. Dieß ist also der einzige Gegenstand, für den uns der Trieb der Neugierde von Gott eingepflanzt ist, der demselben genug thun kann, der unsere Neugierde in Weisheit verwandelt. Dieß ist ein Durst, den wir, ungeachtet unserer Erbsünde, fühlen, und der durch alle irdische Brunnen zunimmt, die Hitze vermehrt, anstatt sie niederzuschlagen, zu löschen. Dieß ist ein Jucken, das durch alle äußerliche Befriedigungen und irdische Anreizungsmittel gefährlicher und brennender wird, das nach dem Balsam aus Gilead ruft, der nicht nur Minderung und Heilung, sondern eine Wollust und Erquickung von ganz entgegengesetzter Natur in uns hervorbringt,
  17. 1. B. Mose IX. 20-27. Wir sehen hier den Stammvater des menschlichen Geschlechts trunken vom Gewächse seines eigenen Weinberges, in einem Schlafe, der einen Rausch begleitet, in einem Zustande, dessen ein Nüchterner, oder auch ein wachender Trunkener, sich geschämt haben würde. Cham sieht die Blöße, und alle Umstände, womit sie begleitet war, mit einer Art von Augenweide. Wie vortrefflich ist in dieser Aufführung Chams das Verberben seiner Nachkommen vorherverkündigt, in denen wir die menschliche Natur in eben dem betrunkenen, schamvollen Zustande antreffen, im Rausch ihrer Lüste, in einer Fühllosigkeit der abscheulichsten Laster und der gröbsten Abgötterei. Mit welcher göttlichen Weisheit sind hingegen in der Aufführung Sems und Japhets die Sitten ihrer Nachkommen geschildert! Weit gefehlt, daß sie an den abscheulichen Ausschweifungen, worin die Kanaaniter besonders ihr Vergnügen fanden, Theil genommen hätten, suchen sie vielmehr den Abscheu und die Schwäche der menschlichen Natur, wie hier an ihrem Vater, mit einem Kleide zu bedecken. So wie eben der trunkene und nackte Noah unter demselben lag, und nur weniger in's Gesicht fiel, so war es mit ihren Bemühungen um Erkenntniß und Tugend auch beschaffen. Sie waren nicht im Stande, ihre trunkene, schlafende und bloße Natur in den Stand herzustellen, worin sich der wachende und nüchterne Noah befand, der alsdenn mit Gott wandelte. Ein Kleid darauf zu decken, däuchte ihnen hinreichend, oder vielmehr alles was sie thun konnten, so wie die ersten Eltern keine besseren Hülfsmittel als Feigenblätter zu finden wußten. In zwei besonderen Umstanden wird die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit ihrer Tugend noch schöner und sinnlicher ausgedrückt. Sie gehen rückwärts. Jes. 44, 25. Was waren die weisesten Heiden besser, als Menschen, die rückwärts gingen? Ihre Gesichter waren abgekehrt, daß sie die Blöße ihres Vaters nicht sehen konnten. Sie hatten keine Erkenntniß von der Größe der Schande von der Tiefe des Elendes, worein die menschliche Natur verfallen war. Wo ist der Weise, der solche wichtige, nicht nur wichtige, sondern zugleich prophetische Wahrheiten in so einfache, lebhafte, mannigfaltige und erstaunend ähnliche Bilder und Farben eingekleidet hätte? Wenn wir hiezu die drey Worte Noahs nehmen, in die er beym Erwachen von seinem Rausche und beym Erblicken des Kleides, das er im Schlafe über sich gedeckt fand, ausbricht; wenn wir die plötzliche Verwandlung eines trunkenen, fühllosen, in aller Blöße seiner Schande liegenden Menschen in einen Engel sehen, der über Jahrhunderte in die Zukunft sieht, der die Einwohner Africa's in eben dem Licht erblickt, worin wir sie noch sehen; der von einem Segen Gottes mit Entzückung redet und von dem Antheile, den die Heiden daran nehmen sollten, der seine Macht über die Nationen der Erde ausbreitet, der als ein Richter der Welt spricht. 1. Cor. 6, 2. Welche menschliche Zunge hat jemals mit so wenigen Worten, als hier Noah, einen solchen Strom von Erkenntniß eingeschlossen, und in eine Begebenheit, die ein so einfältiges Ansehen hat, den Sinn so vieler Geheimnisse gelegt? Wenn wir Sem und Japhet genug bewundert haben, mit dem Kleide aus ihren Achseln, mit ihren zurückgehenden, unsichern Schritten, mit ihren abgewandten Gesichtern, so werden wir den Gott Sems aus dem sechzehnten Kapitel Ezechiels mit desto mehr Bewunderung und Liebe erkennen.
  18. Der Verstand der Zeiten giebt uns den Verstand unserer Pflichten. Der Herr der Zeit kennt selbige allein; er kann uns also allein sagen, von was für Wichtigkeit der Augenblick ist, den er uns schenkte. Der gegenwärtige Augenblick ist nur ein todter Rumpf, dem der Kopf und die Füße fehlen, er bleibt immer auf der Stelle, worauf er liegt. Das Vergangene muß uns offenbaret werden, und das Zukünftige gleichfalls. In Ansehung des ersten können uns unsere Nebengeschöpfe etwas helfen; das letzte ist uns gänzlich versagt, selbst der Athem der folgenden Stunde ist sein eigener Herr, wenigstens hängt er von der vorigen so wenig ab, als er seinem Nachbar und Nachfolger gebieten kann. Jeder Augenblick der Zeit ist vollkommen rund; daß eine Schnur aus demselben wird, rührt von dem Faden her, den die Vorsehung durch denselben gezogen, und der ihm eine genaue Verbindung giebt, welche unser schwaches Auge uns nicht beobachten läßt. Dieser Faden macht den Zusammenhang der Augenblicke und Theile der Zeit so fest und unauflöslich, so in einander gewachsen, daß alles aus einem Stücke besteht und zu bestehen scheint.
  19. Gott laßt das Vergangene wieder geschehen, und was geschieht ist nichts als ein Grundriß des künftigen; oder vielmehr, der Plan aller Zeiten, hat einen Mittelpunkt, auf den sich alle Linien, alle Figuren beziehen und sich darin vereinigen. Das Gebäude besteht aus einem Stücke; die Gesetze der Verhältnisse sind einfach; das Gegenwärtige ist die Vorderseite, wovon uns die Oberfläche offen, der ganze Körper aber mit dem Hintergesichte entzogen ist. Das Vergangene und Zukünftige ist eben diese Seite, die wir nur in Verkürzung sehen. Jede Bewegung des Auges giebt uns ein ander Maaß, oder das Bild desselben in einem andern Maaße.
  20. Der Grundstein unseres Ausganges, des Anfanges, den wir in unserem Berufe machen, und die Vollendung desselben, die Heimkunft nach verrichtetem Tagwerke, hängen alle von der guten Hand unseres Gottes über uns ab (Esra Kap. 7. V. 9.) Wir müssen überführt seyn, daß der Regierer der ganzen Welt unser Gott ist; wir müssen durch den Glauben den Antheil an seiner Gnade und Gegenwart fühlen. Wir müssen aber auch zugleich unsere Schritte und Wege so thun, daß der Schatten der göttlichen Hand über uns ein Wegweiser und der Wolke gleich ist, die Israel in der Wüste führte; wir müssen uns immer befleißigen, unter ihr, niemals neben ihr, weder zur Rechten noch zur Linken zu wandeln. Wie jene Morgenländer den Stern über dem Hause sahen, so müssen wir beständig Gottes Hand über unserem Haupte zu sehen trachten.
  21. Der Christ allein ist ein Herr seiner Tage, weil er ein Erbe der Zukunft ist. So hängt unsere Zeit mit der Ewigkeit zusammen, daß man sie nicht trennen kann, ohne beiden das Licht ihres Lebens auszublasen. Ihre Verbindung ist die Seele des menschlichen Lebens, so ungleich sie auch ihrer Natur nach sind, wie die Verbindung der Seele mit dem Leibe das zeitliche Leben ausmacht.

Gedruckt zu Altdorf durch T. Hessel.
1816

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