Hagenbach, Karl Rudolf - Das Gleichniß vom Senfkorn.

Hagenbach, Karl Rudolf - Das Gleichniß vom Senfkorn.

(Nach Epiphanias.)

Text: Matth. 13, 31. 32.
Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und saete es auf seinen Acker. Welches das kleinste ist unter allen Samen; wenn es aber erwächst, so ist es das größeste unter dem Kohl, und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen.

Noch vor wenig Wochen haben wir das Geburtsfest unseres Heilandes miteinander gefeiert und sind bewundernd und anbetend stille gestanden vor der Krippe, in der ein Kind lag, das groß werden sollte und gewaltig vor dem Herrn und vor allem Volk. Wir haben seither in dem neuangetretenen Jahre uns schon zu verschiedenen Malen wieder hier in dem Hause Gottes versammelt und haben die Blicke weiter erhoben von der Krippe hinan zu der vollkommenen Mannsgröße des Erlösers, wie sie uns entgegentritt als Lehrer und Prophet, als Sohn und Gesalbter des Höchsten. Und wenn wir denn so mit den zunehmenden Tagen dieses Jahres auch mehr und mehr ihn zunehmen und wachsen sehen vor unsern Augen, so geziemt es uns wohl von der Person des Herrn auch einen vergleichenden Blick weiter zu werfen auf sein Werk und auf das Reich, das er unter uns gestiftet hat. Hängt doch beides, Person und Werk, König und Reich, Herr und Herrlichkeit aufs Innigste zusammen, also daß sich keines vom andern trennen läßt, vielmehr eines in dem andern sich spiegelt, eines die Erklärung und Verständigung des andern ist. Die Geschichte des Herrn ist auch die Geschichte seines Reiches, Christi Geschichte die Geschichte des Christenthums und der Kirche. Wie dort ein Kind in der Krippe, das geringste und ärmste der Menschenkinder, so hier ein Senfkorn, das kleinste und geringste unter den Samen des Landes; wie dort ein stilles bescheidenes Wachsthum im elterlichen Hause, ein allmähliges Zunehmen an Alter und Weisheit, au Gnade bei Gott und den Menschen, so hier eine allmählige Entwicklung, ein stilles Wachsthum und Gedeihen mitten unter den Stürmen von außen und innen; wie dort endlich ein siegreiches Auferstehen aus der Nacht der Leiden, des Todes und des Grabes und eine Herrschaft über Himmel und Erde mit der Aussicht auf das einstige Gericht über Lebende und Todte, so hier ein mächtiger Baum, der seine Aeste schützend und segnend ausbreitet über den Erdboden und unter dessen Zweigen die Vögel des Himmels wohnen.

Diesem merkwürdigen, der eigenen Geschichte des Herrn so genau entsprechenden Entwicklungsgange des Reiches Gottes laßt uns denn in dieser Stunde nachdenken, wobei wir aber nicht vergessen wollen, daß das Reich Gottes nicht mit äußern Gebärden kommt, sondern daß es inwendig ist in den Herzen. Wenn wir daher auch, wie es wohl der nächste Sinn unseres Gleichnisses erfordert, zuerst den äußern und geschichtlichen Entwicklungsgang dieses Reiches, wie ihn die Geschichte der Kirche Christi uns vorhält, betrachten werden, so geschieht es nur in der Absicht, um sodann uns ernstlich zu fragen, in wie weit dieselben Vorgänge der äußern Geschichte in unserm Innern stattfinden und sich da auf lebendige Weise wiederholen. An beiden Orten übrigens, bei dem äußern geschichtlichen, wie bei dem innern, mehr verborgenen Entwicklungsgange des Reiches Gottes werden wir dreierlei zu unterscheiden und zu betrachten haben, 1. Den scheinbar geringen Anfang oder den Keim und die Wurzel, 2. Das gedeihliche Wachsthum bei allen äußern und innern Stürmen oder den Stamm und 3. die daraus hervorgehende Fülle von Segnungen oder die Krone des Baumes.

Herr unser Gott, der du jedes gut e Samenkorn ausstreuest in die bewegten Massen der Volker wie in die offenen Herzen der Einzelnen und dein Gedeihen gibst zum Pflanzen und Begießen, segne auch das in Schwachheit ausgestreute Samenkorn dieser Betrachtung, damit es ein Senfkorn werde des Himmelreichs, das mehr und mehr in uns wachse und emporblühe und so dein Reich unter uns und in uns verherrlichet werde. Amen.

1.

Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und säete es auf seinen Acker; welches ist das kleinste unter allen Samen.

1. Ja wohl, ein kleines geringes und verachtetes Senfkorn schien jene Handvoll Leute, die zuerst berufen war, das Wort des Heils den Heilsbegierigen zu verkünden. Die ärmsten und verachtetsten Glieder eines ohne dieß schon verachteten Volkes; Fischer und Zöllner waren die Werkzeuge, deren der Herr sich zur Predigt des Evangeliums bediente, und Arme waren es, denen das Evangelium zunächst gepredigt wurde. Und wenn auch bald darauf der höher gebildete Paulus dem hochgebildeten Athen und dem reichen Corinth dieselbe Botschaft des Heils verkündet, so führen doch auch seine Worte auf diesen geringen Anfang zurück, wenn er seinen Corinthern also schreibt: Sehet an, liebe Brüder! euern Beruf. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen; sondern was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die Weisen zu Schanden mache, und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er zu Schanden mache, was stark ist, und das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählet und das da nichts ist, daß er zu Nichte mache was etwas ist; auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme.

Und wie es zu des Apostels Zeiten gewesen, so auch noch in den ersten Jahrhunderten der Christenheit. Eben zu jener Zeit da die römische Weltherrschaft sich weit über den Erdkreis ausgebreitet hatte, da alles was sonst groß und herrlich heißt in den Augen der Welt seine Anerkennung und Bewunderung fand, wo Dichter, Weltweise, Geschichtschreiber miteinander wetteiferten, die Schicksale und Thaten des römischen Volkes und die Tugenden, ja eben so oft auch die Thorheiten und Laster seiner Herrscher zu preisen, zu einer Zeit wo man bereits auch angefangen hatte, die Sitten und Thaten fremder Völker zu beachten und zu beschreiben, fand es dennoch keiner der Mühe werth, jener verachteten Sekte der Christen eine genauere Aufmerksamkeit zu schenken. Als der abergläubische Anhang jenes Nazareners, der unter Pontius Pilatus gekreuziget worden1), wurden sie von den Römern verspottet, von den Edlern bemitleidet, und mußten es noch als Großmuth rühmen, wenn sie nicht weiter beachtet wurden. Und doch waren es eben diese verachteten Galiläer, von denen eine geistige Macht ausging, gewaltiger als alle Macht der Feinde, die je wider die römische Weltherrschaft sich verschworen hatten. Wohl klein und verachtet war das Senfkorn, aber dennoch schloß es in sich den künftigen Baum mit all seinen reichen Verzweigungen, seinen Blüthen und Früchten. Wie dort der Herr in Knechtesgestalt einherwandelte und dennoch unter dieser Knechtsgestalt die reiche Fülle seines gottgleichen Lebens verbarg, so leuchtete auch bei den ersten Christen, durch die zerbrechlichen irdenen Gefäße hindurch der himmlische Schatz, den sie in sich trugen, und wunderbar waren die Wirkungen der neuen Weltreligion gleich bei ihrem ersten Auftreten.

Es ist schon oft gesagt worden, große Dinge hatten meist einen kleinen, unbedeutenden Anfang genommen und so sey es auch mit dem Christenthum gewesen.

2. Es ist dieß in einer Beziehung wahr und unser Gleichniß selbst bestätigt es. Aber nur darf man sich unter diesem kleinen Anfange nicht etwas Zufälliges, nicht etwas in der That Geringes denken, aus dem nur so von ungefähr jenes Große entstanden wäre, das vielleicht auch auf andere Weise hätte entstehen können. Dieß ist eine unerbauliche und unwahre Ansicht zugleich. Der kleine Anfang zu großen Dingen ist immer nur scheinbar klein und gering, wie ja auch der Apostel sagt: „was thöricht, schwach und gering ist vor der Welt, das habe Gott erwählt.“ Vor ihren, der Welt Augen und den unsrigen verbirgt sich allerdings die in dem Keime verschlossene Größe so lange bis sie sich zeitlich und räumlich, sichtbar und handgreiflich entfaltet. Aber in den Augen Gottes ist auch das Geringe groß von Anbeginn, wenn er es dazu erwählt. Vor ihm, der jedes Maaß und jede Größe kennt, der der Urheber jeder Größe ist und vor dem jede Größe schwindet, und der auch diese Größe nach seiner Weisheit in den unscheinbaren Keim verschlössen hat, vor ihm ist nichts Zufälliges, sondern nur zuvor Erwähltes, zuvor Erwogenes und zuvor Erkanntes und darum ewig Nothwendiges. Wie dort nur ein Menschenkind und eben dieses Menschenkind es war, das zu Bethlehem geborene, aus dem der Heiland der Welt hervorgehen sollte, so war es auch hier nur dieses auserwählte Senfkorn des Himmelreichs und dieses allein, das den Keim einer ganzen neuen Weltordnung in sich schloß und das somit die Wirkungen hervorzubringen im Stande war, die Gott beabsichtigte. Wohl sind tausend andere Körner auch schon ausgestreut und wieder vom Winde verweht worden oder wenn sie aufgingen, so brachten sie nur Früchte ihrer Art, gute und böse, aber immerhin vergängliche. Das Senfkorn des Himmelreichs allein war berufen der Baum zu werden, der in die Ewigkeit hineinragt und unter dessen Zweiten die Vögel des Himmels wohnen. Von außen gleich den andern Samenkörnern, ja kleiner noch als diese, barg es gleichwohl von Anbeginn unter seiner Verhüllung jene Gotteskraft, die da selig machen sollte alle die daran glauben.

Aber eben diese dem schwachen Keime inwohnende Größe und Gotteskraft konnte nur unter mannigfachen Kämpfen aus ihrer Verhüllung hervortreten. Je mächtiger der Trieb, desto gewaltiger sein Ausbruch, gegenüber den Hemmungen und Schwankungen, die seine Entwicklung aufzuhalten suchten, und desto stärker der Widerstand von der andern Seite. Wohl schien bei dem ersten Auftreten des Christenthums der Erdboden bereitet, den Samen der neuen Lehre in sich aufzunehmen und ihm hinlänglichen Raum zu seiner Entwicklung zu gestatten. An äußern Hülfsmitteln zur Verbreitung des Christenthums fehlte es nicht. Die Vorsehung hatte selber dafür gesorgt. Ein lebhafter Verkehr der Völker war angebahnt, die Wege zu Land und zur See waren den Heilsboten geöffnet und der weitverbreitete Gebrauch der griechischen Sprache erleichterte auch die geistige Mittheilung und bot manche Anknüpfungspunkte dar. Ja, was mehr ist als alle diese äußern günstigen Umstände, die Gemüther selbst schienen vielfach vorbereitet zum Empfang einer Lehre, die besser als der veraltete Götzendienst, besser als die Schulweisheit der Gelehrten, ja besser selbst als das Gesetz und die Einrichtungen des alten Bundes die Bedürfnisse des Geistes und des Herzens zu befriedigen verstand. Aber trotz dieser günstigen Lage der Dinge, hatte doch das Christenthum bei feinem ersten Erscheinen mit den größten gewaltigsten Hindernissen zu kämpfen. Stürme von außen, Gefahren von innen drangen auf die junge Pflanze ein und drohten sie im Keime zu ersticken. Nur zu bekannt ist es ja, wie Juden und Heiden miteinander wetteiferten, die muthigen Bekenner des weltüberwindenden Glaubens von der Erde zu vertilgen; wie Kerker und Bande, Schwert und Scheiterhaufen das Loos derer waren, die sich standhaft weigerten, den Götzen zu opfern und Christum ihren Herrn zu verläugnen. Aber eben so bekannt ist es auch, wie das Blut dieser Zeugen ein neuer Same wurde der Kirche und ein fruchtbarer Dünger für die junge edle Pflanze selbst. Die Standhaftigkeit, womit nicht nur rüstige Männer und Jünglinge, womit auch Jungfrauen, Greise und Kinder freudig in den Tod gingen für ihren Erlöser, sie wirkte mächtig zurück auf die Verfolger selbst. Aus den Feinden wurden Freunde, aus den Gegnern muthige Bekenner, die bereit waren, ähnliche Verfolgungen zu dulden, um desselben unverwelklichen Preises theilhaft zu werden.

Doch nicht nur den äußern Stürmen trotzte der junge Stamm des aufwachsenden Christenthums, festgegründet auf seiner Wurzel; sondern auch die innern Krankheiten und Verderbnisse überwand er glücklich, die sich aus den falschen und ungesunden Trieben des Baumes entwickelten und ihm seine Nahrung zu rauben suchten. Wie überall, so waren auch hier die gefährlichsten Feinde die scheinbaren und die falschen Freunde, so daß, wenn das Christenthum keine andern Kämpft zu bestehen gehabt hätte, als die nach außen hin, es nach menschlicher Ansicht wohl schneller zu seinem Ziele gelangt wäre. Aber nach den Absichten Gottes sollte es auch diese innern Kämpfe bestehen und durch sie gefördert werden im Wachsthum und geläutert in seinem Wesen, und wenn dort Christus in einem andern Gleichnisse, unmittelbar vor dem unsrigen erzählt, wie der Feind Unkraut unter den Wetzen gesät und wie der Herr des Ackers befohlen habe, beides stehen zu lassen bis zum Tage der Erndte, so haben wir darin, nur in einem andern Bilde ausgesprochen, was wir von jenen krankhaften Auswüchsen des Baumes zu halten haben. Wir wissen es ja, wie eben jener Feind, der so geschäftig ist, das Unkraut auf den Acker zu säen, in dem Innern der Kirche selbst von Anbeginn die verkehrten Triebe des Ehrgeizes, der Herrschsucht, der Eitelkeit und des Eigennutzes anzuregen wußte, also daß auch viele der Gläubigen verführt, Andere wankend und irre gemacht wurden, ja wir wissen es wie bis auf diese Stunde noch immer das Reich Gottes zu kämpfen hat mit Fleisch und Blut, die sich fortwährend hinein drängen möchten in dasselbe, wohin sie doch nicht gehören, und wie schwer es hält in geistlichen Dingen Göttliches und Menschliches auseinander zu halten und eben sowohl dem falschen Triebe nach Absonderung, als jenem verkehrten Gemenge von Geistlichem und Weltlichem zu wehren. Aber wir wissen zugleich, wie auch diese Kämpfe hinführen müssen zur bessern Verständigung über das Heilige und zur gänzlichen Reinigung und Vollendung der Kirche. - Und diese ist ja die Krone des Baumes.

3. Wohl ist das Senfkorn das kleinste unter den Samen, wohl ist sein Wachsthum vielen Hemmungen und Schwankungen ausgesetzt; wie es aber erwächst, so ist es das größte unter dem Kohl (unter allen Gewächsen) und wird ein Baum, daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen unter seinen Zweigen.

O wem geht das Herz nicht auf, wenn er zur Sommerszeit hinaustritt in Gottes freie Natur und den stolzen frischen Wuchs eines gesunden Baumes betrachtet, der frei und fröhlich dasteht in Gottes Land der seine frisch belaubten Aeste, Segen duftend, in den blauen Himmelsraum ausbreitet, und unter dessen schattigen Zweigen die Vögel des Himmels friedlich hausen und ihren muntern Gesang anstimmen. Unwillkührlich stehen wir stille vor einem solchen lebendigen Zeugen der Schöpfermacht unseres Gottes, die zwar langsam, dem Menschenauge unbemerklich, aber ruhig und sicher aus dem kleinen Samenkorn heraus diesen majestätischen Wuchs hervorgehen hieß. Siehe da das fröhliche Bild der Kirche Christi. Wie er der Herr selbst auferstand aus dem Grabe nach Leiden und Tod, so hob sich aus dem Schutte einer alten versunkenen Welt mächtig empor die neue Schöpfung Gottes, und aus den entferntesten Wohnfitzen eilten die Völker herbei, die erst unstät und unsicher umherirrend, eines das andere verdrängten, bis sie endlich gesammelt wurden unter das schützende Obdach dieser Kirche. Sie, die früher selbst eine Schutz- und Rechtlose, eine Bedrängte und Verfolgte, sie bot nun allen ihren Schutz, ihre Hülfe, ihren Segen, ihren Frieden. Neue christliche Staaten gründeten sich auf den Trümmern der untergegangenen Größe, und was mit ihr untergegangen zu seyn schien an Geistesbildung, an menschlicher Einsicht und Fertigkeit, an edler Sitte, das blühte, wenigstens in den bessern Zeiten der Kirche, nur um so schöner auf im Vereine mit dem christlichen Glauben und getragen von christlicher Liebe. Alles wahrhaft Gute und Edle, was die Menschheit ehrt und der Menschheit nützt, fand hier seine Pflege. Und, - was wohl zu beachten ist, alle die wohlthätigen und hülfreichen Anstalten, die von der Stiftung an bis auf unsere Tage im Geiste des Christenthums gegründet wurden, sie gingen wieder denselben Gang der Entwicklung wie das Reich Gottes im Großen, dessen Theile und Glieder sie sind. Auch hier meist ein kleiner Anfang aus geringen Mitteln, ein Senfkorn, in Demuth gesät und im Vertrauen; auch hier erst Kampf mit Schwierigkeiten und mit äußern und innern Feinden, aber zuletzt immer wieder ein neuer Sieg und eine neue Krone. Immer wieder verjüngte sich, auch nach der Zeit der Dürre und des Frostes, wo seine Kräfte bereits ermattet und erstorben schienen, der Baum des Christenthums aufs Neue; an die alten bewährten Aeste setzten sich neue Zweige und noch jetzt dehnet sich von Tag zu Tag immer weiter aus das schattige Zelt, unter dem die Völker Schutz suchen vor den Stürmen des Lebens und Erquickung und Schutz finden in der Gluthitze der Trübsal. Wir selbst, m. A., wohnen ruhig und sicher unter diesen Zweigen. Aber o daß diese Ruhe nicht in träge Sicherheit ausarte! o daß wir uns doch nicht begnügten, als müßige Zuschauer an dem Bilde des gedeihlichen Wachsthumes uns zu weiden und dabei der Kämpfe vergäßen, die es gekostet hat, oder ihrer nur als längst vergangner Dinge gedächten, die uns nicht mehr berühren. Das Reich Gottes, haben wir zuvor gesehen, ist inwendig in uns, und wollen wir seines Wachsthums froh werden, so muß sich derselbe Entwicklungsgang auch i n uns wiederholen. Wie schon unser natürlicher Mensch beim Anblick eines leibhaften und natürlichen Baumes mit einem neuen frischen Lebenstriebe und Lebensmuth erfüllt wird, so muß auch ein ähnlicher Trieb in uns lebendig werden beim Anblick des geistlichen Segensbaumes, unter dem wir unsere Hütten bauen. Und diesem innern Entwicklungsgange des Reiches Gottes in uns laßt uns noch kürzlich unsere Aufmerksamkeit zuwenden.

2.

Das Himmelreich ist gleich einem Senfkorn. Dieß gilt, obwohl zunächst, doch nicht allein von dem Reiche Gottes, wie es äußerlich als eine Heilsanstalt, als eine sichtbare Kirche und Gemeinschaft der Gläubigen sich darstellt; es gilt auch von dem Glauben und dem christlichen Leben jedes Einzelnen, wie ja der Herr an einem andern Orte sagte: „so ihr Glauben hättet als ein Senfkorn, ihr würdet Berge versetzen, (Matth. 17,20.) Auch hier wieder begegnet uns derselbe Gegensatz des Kleinen und des Gewaltigen, der unscheinbaren Ursache und der wundervollen Wirkung.

l. Ja, klein und unscheinbar, dem Senfkorn ähnlich ist auch so oft der Anfang des Himmelreiches in uns; ein Anfang, der sogar der eigenen Beobachtung sich bisweilen entzieht, denn erst dann wenn der in uns gelegte Keim sich zu entfalten und das neue Leben in uns sich zu regen begonnen hat, erst dann merken wir in der Regel die Absichten Gottes, die er dabei hatte, erst dann merken wir, daß die Stunde der Wiedergeburt für uns gekommen sey. Da heißt es denn auch, wie dort: der Wind bläset, wo er will und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt. (Joh. 3,8.) Nicht im Sturme und Erdbeben, sondern als ein sanftes Säuseln kündete sich der Geist Gottes jenem alten Propheten an, und so auch in den meisten Fällen uns; denn auch da wo unter deftigen Kämpfen und außerordentlichen Erscheinungen das neue Leben geboren wird, auch da ist gewöhnlich erst jene leisere Mahnstimme vorausgegangen, und schon lange hat vielleicht der Keim in uns geschlummert, ehe die Stürme ihn weckten. Bald ist es ein einfaches Schriftwort, das längere Zeit unbeachtet und unbeherzigt an uns vorübergegangen war und das nun zur guten Stunde auf den rechten Fleck des Herzens fällt, wo es Boden findet und seine Wurzel tief hinabsenkt in den heilsam erschütterten Grund des Gemüthes. Bald ist es die sanfte liebreiche Mahnung eines noch lebenden Freundes oder der fromme Spruch eines längst entschlafenen Welsen, oder das Lied eines heiligen Sängers, das die Stelle des Schriftwortes vertritt. Aber auch ohne äußerlich vernehmbares Wort - die tiefere Regung des Gewissens in der Stunde des Gebetes und der heilsamen Einkehr in uns selbst, die wohlthätige Rührung beim Tische des Herrn, der feierliche Ernst eines Sterbebettes, die bittere Arznei eines Krankenlagers - sagt selbst sind das nicht alles Samenkörner in der Hand unseres Gottes, die er hie und da ausstreut am rechten Ort und zur rechten Zeit? Und es geht damit wie jenem Samen in einem andern Gleichnisse. Wir gehen darüber weg, legen uns schlafen; Tage und Nächte gehen drüber hin; aber auf einmal schießt die Saat herrlich auf, ehe wir selbst es vermutheten. (Marc. 4,26.)

2. Aber nun dringen auch Stürme ein von außen und von innen auf die junge Pflanze, und Hitze und Frost machen ihr das Leben streitig. Sind es auch nicht blutige Verfolgungen wie dort in den ersten Zeiten des Christenthums, so sind es doch die giftigen Pfeile des Spottes oder andere Waffen, die der Feind zu jeder Zeit bereit hat, den schon vermeinten Sieg uns wieder aus den Händen zu winden; oder es sind jene Sorgen und Zerstreuungen der Welt, die den Dornen gleich das Samenkorn zu ersticken drohen; dann gehen sofort diese äußern Kämpfe von selbst über in die innern, in jene Kämpfe zwischen dem alten Menschen und dem neuen, aus Gott gebornen, zwischen dem Gesetz in unsern Gliedern und dem Gesetze des Geistes und wenn auch durch die besondere Gnade Gottes bei dem Einen dieser Kampf leichter wird als bei dem Andern, ganz erlassen wird er Keinem und immer bleiben doch die Worte des Liedes wahr:

„Ohne tapfern Streit und Krieg
Folget nie Triumph und Sieg;
Nur den Sieger schmückt zum Lohne
unverwelkt die Himmelskrone.“

2. Aber eben diese Krone bleibt auch nicht aus, und o der Freude, wenn der anfangs schwanke und zarte Stamm unseres inwendigen Menschen mehr und mehr unter all den Stürmen erstarkt, und feststehend auf der einen rechten Lebenswurzel, seine Aeste ausbreitet im Innern und auch nach außen hin seine segensreichen Wirkungen entfaltet; wenn da in immer steigendem Reichthum des innern Lebens ein Zweig an den andern sich ansetzt, eine Tugend aus der andern hervorkeimt und hervorsproßt und sich einreiht und einfügt in das Ganze, so daß es sich dann nicht mehr handelt um die kümmerliche Erzielung dieses oder jenes einzelnen Guten, dieser oder jener Tugend; sondern alles was wahrhaftig, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, (Phil, 4,8) das findet dann auch seine Pflege, seine Blüthe und seine Frucht. O es ist gewiß kein düsteres Bild, wie so manche wähnen, das unsere himmlische Berufung in Christo uns vorhält. Düster und abschreckend nur für den, der zu feig ist, den Kampf zu bestehen, aber herrlich die Krone des Sieges, die den Kämpfer krönt. Nicht ein todtes abgestorbenes Gerippe veralteter Satzungen und Meinungen, wofür leider! so viele das Christenthum noch immer halten mögen, nein, ein frischer grüner Lebensbaum ist es ja, den Gott in uns aufrichten will. Nichts wahrhaft Edles und Menschliches soll ausgerottet werden um seinetwillen, nicht eine öde Todtenstille ihn umgeben, sondern alles was sich wirklich verträgt mit dem göttlichen Leben soll aufgenommen seyn in seinen Wachsthum und verflochten werden in seine Krone; es soll ebensowohl mit einstimmen in die lauten Jubelchöre unter den Zweigen, als auch wieder mittheilnehmen an der Ruhe und dem Frieden, der unter diesen Zweigen wohnt. Nur daß wir nicht auch das mit beherbergen und mit verstecken wollen unter dem schützenden Dache dieser Zweige, was dem Baum selbst verderblich werden könnte und seine Früchte in Gift wandelt. Nur daß wir nicht zu früh frohlocken und uns des Sieges freuen, während der Feind im Hinterhalte lauert, eine desto gefährlichere Niederlage uns zu bereiten. Nur daß wir auch da noch immer wachen und beten, auf daß wir nicht in Anfechtung fallen. Nur daß wir nicht in verwerflichem Stolze das Reich Gottes für uns allein und in uns ausbilden wollen, ohne treuen Anschluß an Christus und seine Kirche, an die Gemeinschaft außer uns, was eben so verkehrt wäre, als das träge Sich-verlassen auf diese äußere Gemeinschaft allein. Nur daß wir endlich nicht in dem schwelgerischen Genusse frommer Gefühle jenen Himmel auf Erden suchen, sondern durch thätigen und freudigen Gehorsam und durch wahrhaft gute Werke die Kraft des Glaubens beweisen, die in dem schwachen Senfkorn ruhet.

Wohlan denn! so lasset uns nicht nur selbst den guten Samen des Himmelreichs in uns aufnehmen und bewahren in einem feinen guten Herzen; lasset uns auch hinwiederum von uns aus den guten Samen ausstreuen mit vollen Händen und in gutem Vertrauen im öffentlichen, im kirchlichen, im häuslichen Leben oder wo sonst die Gelegenheit sich darbietet. Laßt uns im steten Aufblick zu Christo dem Herrn des Reichs und im lebendigen Zusammenhang mit ihm und seinem Reiche wirken, dieweil es Tag ist, und nicht warten bis die Nacht kommt, da niemand wirken kann; lasset uns Gutes thun und nicht müde werden, damit wir einst erndten ohne Aufhören. (Gal. 6,9) Amen.

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Das ist das Einzige, was Tacitus von Christo zu sagen weiß.
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