Hagenbach, Karl Rudolf - Das Gebet in der Kammer.

Hagenbach, Karl Rudolf - Das Gebet in der Kammer.

(An einem Communionsonntage)

Text: Matth. 6, 6.
Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Thür zu und bete zu deinem Vater im verborgenen und dein Vater, der in das verborgene siehet, wird dirs vergelten öffentlich.

In welchem Zusammenhange und in welcher Beziehung Christus die Worte unseres Textes gesprochen habe, ist bekannt. Er wollte die Heuchler strafen, die in den öffentlichen Schulen der Juden, an den Ecken der Straßen und überall da beteten, wo sie hofften von den Leuten gesehen zu werden; wie sie auch auf ähnliche Weise ihr Almosen spendeten. Dieser Verkehrtheit gegenüber empfiehlt Christus die Demuth, die Bescheidenheit, das Wohlthun ohne Aufsehen und so auch das stille, von der Welt zurückgezogene Gebet in der Kammer. Gleich wie aber Christus niemals einen Mißbrauch tadelte, ohne zugleich den rechten Gebrauch dagegen zu stellen, wie er niemals etwas niederriß, ohne dafür aufzubauen, nie an dem Leben der Frömmigkeit die falschen Auswüchse beschnitt, ohne dagegen die Wurzel desselben mit neuer Lebenskraft zu tränken und ihr frische Nahrung zuzuführen, so that er es auch hier. Er verwarf nicht nur das Beten an den Straßenecken, er empfahl dagegen aufs Dringendste das Gebet in der Kammer. Und dieß Letztere wird leider beim Lesen unserer Textesworte nur zu oft übersehen. Es giebt wohl viele, denen man nicht wird vorwerfen können, daß sie mit Gebet und frommen Uebungen Prunk treiben; aber in der Kammer beten sie eben so wenig als auf der Straße. Sie rühmen sich sogar ihrer Gleichgültigkeit in allen Dingen, welche auf die Gottseligkeit und deren Ausübung Bezug haben, und sind gleich bei der Hand, in jeder Aeußerung der Frömmigkeit, der öffentlichen wie der häuslichen, eitel Heuchelei zu sehen. Weil sie überhaupt kein tieferes geistliches Bedürfniß haben, das sie vor Gott zu treten hintreibt, so erscheint ihnen alles, was Gebet heißt und was als Gebet sich aus der Seele herausdrängt, als etwas Krankhaftes und Ueberspanntes oder gar als etwas Erkünsteltes und Unwahres. Wahrlich diesen zu gefallen hat Christus die goldenen Worte unseres Textes nicht gesprochen. Er hat sie ausgesprochen für die einfachen Gemüther, die gerne sich in Gott erbauen wollen, denen der Umgang mit Gott Herzensbedürfniß ist und die oft nur nicht wissen, wie sie es anstellen sollen, um ihrem Gefühle Luft zu machen, ihrer Stimmung Genüge zu leisten, um mit einem Wort auf eine Gott wohlgefällige und sie selbst befriedigende Weise zu beten. Diesen einfachen frommen Gemüthern ruft er zu: Wenn du betest so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thüre zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dirs vergelten öffentlich.

Ueber diese Worte laßt uns denn in der Furcht des Herrn einige Betrachtungen anstellen, indem wir sowohl die darin ausgesprochene Ermahnung zum stillen Gebete, als den darin verheißenen Segen ins Auge fassen.

Herr unser Gott, der du das stille Gebet in der Kammer erhörest, wie das laute Flehen der Gemeinde, erhöre uns auch jetzt, wenn wir bitten: laß das Wort das in deinem Namen und im Namen deines Sohnes verkündet wird, an uns gesegnet seyn. Entzünde in uns den rechten Gebetssinn, mehre in uns die rechte Gebetsfreudigkeit und der Segen wird nicht ausbleiben.

Amen.

1.

Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thüre zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Das ist die Ermahnung, die uns der Herr giebt in unserm Texte.

Es ist nicht gerade eine unmittelbare Ermahnung und Aufforderung zum Gebete selbst, wie er sie später in derselben Rede (Cap. 7,7) mit den Worten ertheilte: Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgethan. Vielmehr setzt Christus in unserer Stelle die Neigung zu beten schon voraus mit den Worten: Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein.„ Aber eben, daß er diese Neigung, dieses „Wenn“ voraussetzt, ist uns ein Wink, wie nothwendig er das Gebet für einen jeden Menschen hielt. Und wo sollte auch Einer seyn, der des Betens nicht bedürfte? Haben wir doch alle vielfach zu kämpfen, nicht nur mit der Noth und den Mühen des äußern Lebens, sondern auch mit dem vielen Bösen um uns her und mit den vielen Schwächen und Gebrechen in uns. Und was kann uns da besser aufrichten und trösten als ein Gebet zu unserm Gott? - Daß wir also beten sollen, ja, daß wir beten wollen, das setzt der Herr voraus und mußte es um so mehr voraussetzen, als ihn ja selbst so oft sein Herz trieb, einsam hinzuknieen vor seinen himmlischen Vater. - Ihn trieb es, der doch mit keiner Sünde behaftet war und der mehr die Roth Anderer auf dem Herzen trug, als die eigene! Nun aber giebt er uns, eben durch diese seine eigene Erfahrung bestärkt, die Anweisung wie wir beten sollen, indem er spricht: wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thüre zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen. In die stille Einsamkeit, in die verborgene Kammer weist er uns an den Vater, der ins Verborgene sieht, an den Allgegenwärtigen, der dort zu finden, ja besser zu finden ist, als im Gedränge des Lebens, als auf dem Markt und auf der Straße. Unbemerkt von Andern, ungesehen und unbeobachtet von irgend einem menschlichen Auge, nur das Vaterauge Gottes, diesen Himmel aller Himmel über uns, sollen wir hintreten in stiller Ehrfurcht des Herzens und in kindlichem Vertrauen. Ueber diesen einfachen Sinn des Worts, wer könnte da im Ungewissen seyn? Und gleichwohl mögen sich dagegen Stimmen des Zweifels erheben, nicht sowohl deßhalb, weil das Verständniß der Worte an sich etwas Schwieriges hätte, als weil man entweder diesen Ausspruch des Herrn mit andern Ermahnungen der Schrift nicht gehörig in Uebereinstimmung zu setzen weiß, oder weil man meint daß seiner Ausführung zu viele Schwierigkeiten entgegenstehen. Beides laßt uns genauer erwägen.

a. Die Aufforderung, im stillen Kämmerlein zu beten, steht sie nicht im Widerspruch mit andern Stellen der heiligen Schrift? Da nämlich die Ermahnung, wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein, ganz allgemein lautet, ohne irgend eine Beschränkung, so könnte man sich versucht fühlen, anzunehmen, als ob jedes öffentliche Gebet, jedes gemeinsame Heraustreten der Frömmigkeit, damit abgeschnitten wäre; während doch die Schrift sonst an andern Orten so nachdrücklich zum öffentlichen Gottesdienst uns auffordert. Wie? könnte man sagen, der Herr weist uns mit unserm Gebet in die stille Kammer, und doch lassen wir laut die Glocken erschallen, die aus der engen Kammer uns herausrufen in das Gotteshaus, um hier öffentlich und gemeinsam mit unsern Brüdern zu beten zu dem Gott, der ein Vater ist über alles was Kinder heißt im Himmel und auf Erden? Der Herr sagt, schließ die Thüre zu, und wir machen hoch die Thore und die Pforten weit, damit alle kommen die heiligen Räume zu erfüllen, alle ihre Gebete zusammentragen zu einem großen Opfer! Soll also das eine dem andern weichen, das Gebet in der Kammer dem Gebet im Tempel? oder dieses jenem? - Euer natürliches Gefühl sagt es Euch, daß dieser Einwurf sich nicht halten, daß der Widerspruch nur ein scheinbarer seyn kann. - Nicht gegen das öffentliche Gebet, das wir mit den Brüdern verrichten im Hause Gottes, sind unsere Textesworte gerichtet, sondern gegen die Gebete, die wir vor den Menschen verrichten, damit wir von ihnen gesehen werden. Das Gebet, das wir hier gemeinschaftlich mit den Brüdern verrichten ist ja seiner Natur nach kein anderes, als das, welches wir auch in der Kammer verrichten sollen, nur daß was dort als stiller Seufzer aus dem einen Herzen zu Gott aufsteigt, hier aus aller Herzen, (die aber auch ein Herz und eine Seele seyn sollen) im lauten Ausdrucke der Worte oder auf den Schwingen des Gesanges sich gen Himmel erhebt. Wie die stille Kammer dort sich uns zum Tempel wölbt, so soll uns umgekehrt hier bei unsern christlichen Versammlungen das Haus des Herrn zur stillen Friedenswohnung, zur traulichen Kammer werden, in die Gott von seinem Himmel hineinschaut, um all der Kinder sich zu erbarmen, die ihre Hände ausstrecken zum Vater. Ja, glaubt es mir, oder nicht mir glaubt es, der Erfahrung aller Frommen glaubt es, der öffentliche Gottesdienst und das stille Gebet in der Kammer bilden nicht nur keinen Gegensatz, sondern sie unterstützen sich gegen seitig und keines ist etwas Rechtes und Wahres ohne das Andere. Man hört wohl Leute, welche sprechen: „ich halte mich an die Worte Christi, wenn du beten willst, so gehe in deine Kammer und schließ die Thüre zu - ich pflege daher meine Andacht im Stillen zu verrichten und lasse die Heuchler in die Kirche gehen, die gerne von Andern gesehen sind; Gott wird mein Gebet so gut erhören als das ihrige; er sieht aufs Herz nicht auf die Form,“ und wie diese sich selbst entschuldigenden und sich selbst anklagenden Reden weiter lauten mögen. - Nun ist es allerdings wahr und ein großer Trost für die, die dessen bedürfen, daß Gott nicht wohnet in irgend einem Hans, von Menschenhand erbauet, und daß der Kranke, der Gefangene, der Gebrechliche, der nicht mit hinwallen kann zum Hause des Herrn, auch auf dessen Krankenlager und im Kerker zu dem Vater beten kann, der ins Verborgene sieht, und daß sein Opfer Gott eben so gefällig ist, als ob er es darbrächte in der Versammlung der Heiligen. Aber welch ein himmelweiter Unterschied zwischen den unverschuldeten Hindernissen und der selbst verschuldeten Lauigkeit. Du sagst wohl, um deine Nachläßigkeit in Betreff des öffentlichen Gottesdienstes zu entschuldigen: ich bete dafür in meinem Kämmerlein. Aber thust du's wirklich? oder ist es nicht nur eine verblümte Redensart statt zu sagen: ich bleibe bequem zu Hause? Aber auch wenn du's thust, wenn du wirklich betest, kannst du es mit derselben Erhebung, mit derselben Gemüthskraft, mit derselben Innigkeit und Lebendigkeit, wie der, der sich gestärkt und sich erbaut hat mitten im Leben der Gemeinde? Wie unser natürliches Leben sich wieder erfrischt und gehoben fühlt durch die Gemeinschaft mit andern und durch den geselligen Umgang mit ihnen, so zieht auch unser geistliches Leben aus dem Leben der frommen Gemeinschaft Nahrung, und wer in der Kirche zu den wahrhaft Andächtigen gehört, der wird auch in der Regel der geübtere Beter seyn in der stillen Kammer, während das Leben, das der Gemeinschaft sich entzieht allmählig vertrocknet und verkümmert, und ein Solcher dann auch in seiner einsamen Kammer nicht mehr weiß, was er beten soll; denn was ist das Gebet anders, als ein frischer Erguß und ein freies Hervor. treten unseres innern Lebens, ein sich Losmachen und sich Losringen dessen, was vielleicht lange in uns gekämpft und gearbeitet hat, ohne zum rechten Ausdruck zu kommen, und was nun endlich als heilige Flamme hervorbricht und das rechte Wort findet zur rechten Stunde!

Aber so wenig das Gebet in der stillen Kammer uns gelingen kann, wenn wir uns nicht durch gewissenhafte Theilnahme am öffentlichen Gottesdienste üben und stärken in der christlichen Frömmigkeit, so gewiß ist es auch, daß der bloße Besuch des öffentlichen Gottesdienstes so lange ein lauer bleibt und ein unfruchtbarer, als wir nicht mit dem Gebet im Tempel verbinden das Gebet in der Kammer, als wir nicht oft und viel aus eigenem Antriebe uns zu Gott hingezogen fühlen, und das in uns fortsetzen und in uns hegen und pflegen, wozu der öffentliche Gottesdienst nur die Anregung und den Anstoß geben kann. Eben darum ist der öffentliche Gottesdienst so Vielen ein leeres, todtes Ding und eine bloße Nahrung der Langenweile, weil sie kein innerlich genährtes Bedürfniß, kein Herz und kein Leben dazu mitbringen. Es erscheint ihnen so vieles, als todte, veraltete Form, als geschmackloses Außenwerk, weil sie den Schlüssel zum Verständniß nicht in sich haben, weil nicht die eigene Herzenserfahrung ihnen zum Verständniß dessen aufhilft, was die fromme Sprache der Väter niedergelegt hat in den Kirchenliedern und den Kirchengebeten. Darum möchten sie lieber unterhalten, als erbauet seyn, weil sie auch in ihrem häuslichen Leben außer der Arbeit nur die Erholung und die Unterhaltung, aber nicht die Erhebung und Erbauung, weil sie nur die Zerstreuung aber nicht die Sammlung kennen. Wie ganz anders der, der gewohnt ist, oft und viel in der stillen Kammer vor Gott hinzutreten, vor ihm sein Herz auszuschütten, ja, der es bereits zu einem vertrauten Herzensumgange mit seinem Gott gebracht hat, der zu ihm, wie das Kind zum Vater, einen täglichen, stündlichen Zutritt hat? Wie wichtig und beziehungsreich ist einem solchen auch der öffentliche Gottesdienst! In so manchem Liederverse, den er mitsingt, begegnet er gleichsam einem alten Bekannten, dem er schon manchen stillen Trost, schon manche stille Erquickung des Herzens verdankte. So manche Stelle des öffentlichen Gebetes berührt ihn weit näher und inniger, weil sie eben das ausspricht im Namen Vieler, was sein Herz schon oft im Stillen für sich gebetet hatte.1) Wie ganz anders wird die Predigt von ihm gefaßt, als von der Menge bloßer Gewohnheits- und Sonntagschristen, die nur kommen eine Rede zu hören; welch ein feines Ohr hat sein innerer Mensch für die tiefern Andeutungen und Beziehungen, die an Andern unverstanden vorübergehen?

Wie ist ihm doch, als ob er das Alles auch schon in seiner stillen Welt geahnt und gefühlt und erfahren habe und als ob nur jetzt erst der rechte Ausdruck dafür gefunden sey. Ja, gewiß, wie der öffentliche Gottesdienst dem häuslichen, so hilft hinwiederum der häusliche und verborgene Gottesdienst dem öffentlichen auf, und weit entfernt, daß sie beide sich im Wege ständen, unterstützt, trägt und hebt Eines das Andere,

b. Noch eine andere Einwendung aber möchte gegen unsere Textesworte gemacht werden; nämlich die, daß ihrer Ausführung zu viele Schwierigkeiten im Wege stehen. „Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thüre zu.“ Das, meint man, sey wohl schön gesagt für die, die eine eigene Kammer haben, in die sie sich zu jeder Stunde zurückziehen können, die Zeit und Muße haben in diese Kammer sich einzuschließen, aber nicht könne die getreue Befolgung dieser Vorschrift von denen erwartet werden, die kaum haben, wo sie nach mühsam vollbrachtem Tagewerk ihr Haupt hinlegen, oder die, wenn sie auch den Raum dazu hätten, die Zeit nicht haben, die jede Minute, die sie der stillen Betrachtung oder dem Gebete widmen möchten, wieder abgerufen werden zur Anordnung und Betreibung der irdischen Geschäfte! Lieben Freunde, die ihr also redet, wißt ihr denn, was der Herr unter der Kammer versteht, in die er uns hineinweist? Allerdings versteht er zunächst darunter irgend einen einsamen, von dem Getreibe der Welt abgelegenen Raum, sey es eine Kammer im Hause oder sey es ein stilles Plätzchen draußen im Garten, im Felde, im Wald, in der Wüste! Und solch ein Plätzchen findet auch der Aermste irgendwo auf Gottes Erdboden. Er, der auch nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, trat bald dahin, bald dorthin bei Seite und fand den stillen Ort, da er beten konnte zum Vater, der ins Verborgene sieht. Auch unter freiem Himmel, unter dem Schatten der Bäume Gottes, in der stillen Bucht des Waldes oder am einsamen Stromesufer erbaut sich dem frommen Sinne eine Gebetskammer, eine Kapelle, ein Gotteshaus, da er ausruft: hier ist des Herrn Tempel, hie die Pforte des Himmels! Aber gesetzt auch diese räumliche Zurückgezogenheit sey uns nach Wunsche vergönnt, wo, fragt ihr nehmen wir die Zeit her? sind wir doch eben durch sie gebannt an die tägliche Werkstätte unseres Berufes, umringt von tausend kleinlichen störenden Geschäften? - Ach, ich frage euch auf euer Gewissen, könnet ihr nicht, wenn ihr ernstlich wollet, immer noch einige Augenblicke erübrigen, wo es euch doch gelingt, euch loszumachen, den Staub loszuschütteln von euern Gliedern, und Haupt und Herz frei empor zu heben zu dem Vater, der ins Verborgene sieht und der den redlichen Willen in solchen Fällen für das Werk nimmt? Wir können es ja in andern Dingen auch, wenn ein Freund kommt, uns zu besuchen oder wenn sonst eine Familienangelegenheit dieses Opfer von uns verlangt. Warum können wir uns nicht da losmachen auf Augenblicke, wo es der höchsten Freundschaft gilt, wo es gilt, uns als Kinder Gottes zu fühlen? Warum nicht wenigstens am Tage des Herrn? Und haben wir auch da keine Kammer, deren Thüre wir verschließen können gegen den wilden Andrang der Welt und ihre ungestümen Forderungen, o so schließen wir doch dann auf Augenblicke die Thüre des Herzens ab, und ziehen uns mitten im Gedränge in die stille Herzenskammer zurück; wird nicht auch da das Auge uns erreichen, das nie schlummert, das Auge, das ins Verborgene sieht? Ja, dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dirs vergelten öffentlich. Dieser Verheißung laßt uns noch in Kürze nachdenken.

2.

Dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dirs vergelten öffentlich. - Von Vergeltung ist also hier die Rede, meine Freunde, und das muß uns auf den ersten Augenblick befremden, je inniger wir davon überzeugt sind, daß wir ja überhaupt keine Vergeltung anzusprechen haben für nichts, das wir thun oder leiden, geschweige aber für das Gebet. Thun wir doch damit nicht Gott einen Dienst oder einen Gefallen, daß wir beten, sondern nur uns selbst; wozu denn eine Vergeltung? O sieh da die überschwängliche Gnade deines himmlischen Vaters, der weit entfernt, da schneiden zu wollen, wo er nicht gesäet hat, vielmehr uns das giebt, was wir nicht verdient haben, der zu den Segnungen, die er uns ohne dieß schon unverdient bereitet, immer neue hinzufügt, Gnade aus Gnade erblühen und erwachsen läßt und so hundert- und tausendfältig vergilt ohne unser Thun. Auch hier heißt es, wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe.

Und worin besteht denn diese Vergeltung? Gewiß sucht ihr sie und findet sie zunächst in dem Segen, den das Gebet uns selbst bringt, in dem reinigenden und heiligenden Einfluß, den es auf unsern innern Menschen übt, in dem Frieden Gottes, den es uns mittheilt, in dem Bewußtsein unserer Gotteskindschaft, in dem es uns bestärkt? oder ihr sucht die Vergeltung recht eigentlich in der Erhörung selbst, die, nach der Verheißung Gottes, nicht ausbleibt, wo das Gebet rechter Art, wo es im Namen Jesu Christi, d. h. in seinem Sinne und im Vertrauen auf seine Fürbitte gethan ist. Und wahrlich an dieser Vergeltung könnte uns doch wohl genügen, auch dann, wenn sie, wie unser Gebet, nur im Stillen vor sich ginge, und keine andern Zeugen hätte, als uns selbst und eben den Gott, der ins Verborgene sieht. Aber die Verheißung unseres Textes gehet weiter. Er wird dirs vergelten öffentlich. Zunächst ist wohl hier gedacht an die öffentliche Vergeltung am Tage des Gerichts, da Gott einem Jeden geben wird nach seinen Werken und da alle Gebete ihre endliche Erhörung, alles Sehnen und Hoffen seine endliche Stillung, alle gerechten Wünsche alle reinen und edlen Bestrebungen ihre letzte Erfüllung erlangen werden. Doch von diesem großen letzten Tage des Gerichts haben wir in unserer engen irdischen Behausung hienieden keine Vorstellung, und wir verzichten daher darauf, uns irgend ein genügendes Bild davon zu machen. Und wir können dieß um so eher, als das Wort des Herrn in einem gewissen Sinne schon hier an dem Beter in Erfüllung geht, daß der Vater, der ins Verborgene sieht, es ihm vergilt öffentlich. - Wohl trägt der fromme Beter den Segen, der aus seinen Gebeten fließt, nicht zur Schau vor der Welt. Er bewahrt das zarte, keusche Liebesverhältniß zwischen ihm und seinem Gott in einem feinen frommen Herzen, damit das Heiligthum seines Innern nicht entweiht, der Schmuck und die Perle des Gottesfriedens, der unreinen Bewunderung eben so wenig, als dem frechen Hohne preisgegeben werde. Ja, er bleibt gerne verborgen mit seinem himmlischen Schatze; aber dennoch, und ohne sein Zuthun, vergilt ihm der Vater öffentlich, damit Andere dadurch zu ähnlicher Gesinnung gereizt und zu ähnlichem Gebetseifer angetrieben werden. Oder wie? Ist es nicht eine öffentliche Vergeltung zu nennen, wenn bei dem Frommen die Worte des Psalmisten vor den Augen aller Welt in Erfüllung gehen: er ist wie ein Baum gepflanzt an den Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit und seine Blätter verwetten nicht und was er macht, das geräth wohl. (Ps. 1,3.) Häufig zeigt sich ja die Vergeltung schon im Aeußern, im Segen, der auf seiner Hände Arbeit ruht, im Glück und Wohlstand seines Hauses. Doch hüten wir uns daß wir darauf allein sehen und den Reichthum der Gnade Gottes ermessen und abschätzen nach dem Reichthume an zeitlichen Gütern- Nein, auch bei äußerer Armuth, unter dem Drucke der äußern Verhältnisse, mitten unter Leiden und Trübsalen geht das Wort in Erfüllung: er wird dirs vergelten öffentlich. - Oder was ist denn Besonderes mit dem Manne, der, wo andere trauern, fröhlich ist in seinem Gott, der, wo andere hadern und zürnen, freundlich und liebreich ist mit jedermann, der, wo andere zittern und zagen, hofft und vertraut, der, wo andere nur kärglich geben, mit vollen Händen ausstreut in guter Zuversicht auf die Erndte; was ist denn Besonderes mit ihm? Hat er mehr irdisches Vermögen, mehr leibliche Kraft, mehr geistige Vorzüge, mehr Scharfsinn und Witz, mehr Geschick und Fertigkeit, als andere? Nicht immer. Auch sein größerer Fleiß, seine Gewissenhaftigkeit, seine Ehrlichkeit und Treue thun's nicht allein, so sehr sie dazu mithelfen. Was ist es denn also anders, das ihn so hebt und aufrecht erhält, ihn so mächtig stärket und ihn grünen macht wie den Baum an den Wasserbächen, was ist es anders als das Gebet? Und nicht an ihm allein, auch an seinen Umgebungen wird der Segen seines Gebets offenbar. Der Friede seines Hauses, die erfreuliche Richtung, die seine Kinder nehmen, der gute Fortgang seiner Unternehmungen für das allgemeine Beste, auch sie sind Früchte seines stillen Gebets, seiner beständigen und täglichen Erhebung zu Gott, von der er nicht läßt auch mitten in den Störungen des Lebens. Wie das Gebet der Athem seiner Seele ist, so geht von dieser in Gott gestärkten Seele des Beters auch eine neue erfrischende Lebenskraft aus, die an das Wunderbare gränzt. Ja, große, wunderbare Denkmale stehen da in der Geschichte von dem, was das Gebet des Gerechten vermag, wenn es ernst ist. - Wie viele heilsame, edle Stiftungen und wohlthätige Anstalten predigen es aller Welt, der Vater, der ins Verborgene sieht, wird es vergelten öffentlich. Mit wenigem wurden sie unternommen; aber die edle Pflanze, einmal in den Boden gesenkt, ward bethauet mit dem reichen Erguß eines vor Gott sich demüthigenden, Gott vertrauenden und eben darum zu Gott betenden Herzens. Wie mancher stille Seufzer in der Kammer mußte vorangehen, wie manche Thräne der Wehmuth fließen, ehe das in Gott unternommene Werk öffentlich dastand in seiner Vollendung, und doch ward's vollendet. Gott hörte die Seufzer und zählte die Thränen auch im Verborgenen und der Vater, der ins Verborgene sieht, vergalt es öffentlich.

So haben wir uns denn sowohl von der Nothwendigkeit eines stillen einsamen Gebets, als von dessen Segen überzeugt. Wir haben gesehen, wie diese Art der Erbauung nicht nur nicht im Widerspruche steht mit der öffentlichen Gottesverehrung, sondern vielmehr am schönsten gedeiht in der lebendigen Verbindung mit ihr; wir haben gesehen, wie jeder, so eng auch seine Verhältnisse seyn mögen und so viele Störungen sich ihm auch aufdrängen, doch immer sich wieder in geweiheten Augenblicken zu seinem Gott erheben, zu ihm beten kann, und wie der Segen einer solchen Gebetsweise nicht nur an unserm Innern sich bethätigt, sondern auch sich offenbaret nach außen und also dazu beiträgt dem Reiche Gottes neue Freunde, und uns selbst das Wohlgefallen Gottes und die Achtung und Liebe aller wohldenkenden Menschen zu erwerben. Darum seyen wir wach und nüchtern zum Gebet - lassen wir nicht ab mit Bitten und Flehen, mit Danksagung und Lobpreisung, nahen wir uns doch im kindlichen Vertrauen zu Gott und er wird sich zu uns nahen und wir werden seiner Nähe und Gemeinschaft immer froher werden.

Das gehe denn auch besonders an Euch in Erfüllung, die ihr heute wieder den Bund mit euerm Gott und Erlöser bei seinem Mahle erneuern wollt. O gewiß habt auch ihr zuvor in der stillen Kammer in gewissenhafter Selbstprüfung vor Gott erwogen, was zu euerm Frieden dient, und der Glaube, den ihr hier öffentlich bezeugen wollt, er ist die Frucht des Geistes der zuvor Euch beten lehrte zu euerm Vater, der ins Verborgene sieht, des Geistes durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Nun dieser Gott vergelte es euch darin, daß er Euch auch den heutigen Genuß seines Mahles gesegnet seyn lasse; er, der uns Alle so überschwänglich zu segnen vermag in Christo Jesu. Amen.

1)
z. B. die Stelle unseres Kirchengebetes: „Hilf den Eltern ihre Kinder in deiner Furcht und Erkenntnis recht erziehen, und gieb auch den Kindern Gnade, daß sie sich ziehen lassen und wohl gerathen.“
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