Hagenbach, Karl Rudolf - Die Liebe Gottes im Vergleiche mit der Mutterliebe.

Hagenbach, Karl Rudolf - Die Liebe Gottes im Vergleiche mit der Mutterliebe.

(Am 1. Sonntag nach Trinitatis)

Text: Jesaja 49, 15.
Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen.

Die festlichen Zeiten und Tage sind nun hinter uns; auch die Pfingstfeier ist an uns vorübergegangen und ihre Nachfeier, das Fest der Reformation, und wir treten nun wieder in die festlose Hälfte des Jahres, aus welcher keine besondern Erinnerungen an irgend eine That Gottes, oder an eine merkwürdige Begebenheit aus dem Leben Jesu uns entgegentreten, sondern in der wir uns begnügen, aus dem reichen Schatze der christlichen Erkenntniß bald die eine, bald die andere Wahrheit, aus der reichen Fülle der biblischen Geschichten bald diese, bald jene unserm Geiste vorzuführen, nach freier Wahl. Aber sollte darum diese Zeit für uns weniger fruchtbar seyn? sie, die gerade die fruchtbringende Zeit ist im Reiche der Natur? Sollte bei dem Reichthum des äußern Lebens, der sich jetzt vor unsern Augen entfaltet, das innere Leben leer ausgehen, weil keine Festsonne uns scheint, kein bestimmter Feiertag mehr bis zum allgemeinen Bettage hin uns zur Andacht einladet? Sollte für uns nicht vielmehr immer Bettag seyn, nicht immer festliche Zeit? Sollte nicht das ganze Jahr mit seinen wechselnden Erscheinungen im Leiblichen, wie im Geistlichen für uns ein angenehmes Jahr des Herrn seyn, ein Jubeljahr unsres inwendigen Menschen? Ja, meine Freunde, so sollte es seyn und darum laßt uns doch ja nicht dem Gedanken Raum geben, als dürfe nun auf die Zeit der geistlichen Anstrengung, welche die festlichen Tage von uns forderten, eine Zeit der Abspannung folgen, da wir weniger dem Geistlichen leben und mehr dem Leiblichen, weil ja auch die Jahreszeit selbst eine mehr nach außen zerstreuende, als eine nach innen sammelnde sey; denn gesetzt, daß wir auch wirklich mehr nach außen uns zerstreuen, so sollen wir ja darum doch die Sammlung nach innen nicht vergessen, sondern fortwährend uns erbauen auf dem Grunde unsers Heils. Und so wollen wir denn heute, im Rückblick auf all den Segen, den die sämtlichen Feste uns gebracht haben, im Rückblick auf diese geistliche Erndte, den Gewinn derselben dadurch festzuhalten und zu verstärken suchen, daß wir in die Tiefe und den Reichthum der göttlichen Liebe und des göttlichen Erbarmens, die sich uns bis anhin geoffenbaret hat, noch einmal uns zu versenken wagen und uns zu neuer, herzlicher Gegenliebe ermuntern.

Und das können wir thun auf dem Grunde unseres Textwortes. Es sind Worte des Propheten, zunächst an Jerusalem gerichtet, aber nichts desto weniger Worte Gottes von ewigem Gehalte, Worte Gottes auch an uns, die wir ja Bürger sind des geistlichen Jerusalems, Worte der Verheißung, die ihre höchste Erfüllung gefunden haben in dem was Jesus Christus für uns gethan und gelitten hat. Ja, zu der ganzen Christenheit und zu einer jeden einzelnen christlichen Seele sind die Worte gesprochen:

Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselbigen vergäße, so will Ich doch dein nicht vergessen.

Es liegt etwas überaus Großes und Ergreifendes in diesen Worten, und wir wissen nicht, wenn wir sie hören, ob des Erhebenden oder des Demüthigenden mehr darin liegt; aber soviel wissen wir, es liegt beides darin, Der Prophet vergleicht die Liebe Gottes der Mutterliebe, oder vielmehr Gott selbst legt diesen Vergleich uns nahe durch die Worte des Propheten. Er, der allein die Liebe ist und der allein das Wesen der Liebe vollkommen kennt, er muß wissen, was er in diesem Vergleiche Unvergleichliches gesagt hat. Kennt er doch das Herz der Mutter, das er geschaffen hat, wie sein eigenes, und wie hoch hat er also dadurch die Mutterliebe gestellt, daß er sie zum Bilde seiner eigenen Liebe wählte? Das ist das Erhebende, das in den Worten liegt. Aber wie hoch hat er dennoch wieder seine Liebe gestellt, weit über die mütterliche und jede menschliche Liebe hinaus, wenn er sagt: „und ob sie sein vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen?“ Darin liegt bei dem Erhebenden auch etwas Demüthigendes. Beides aber, das Erhebende wie das Demüthigende, verdient von uns erwogen zu werden und so laßt uns denn diesem Vergleiche der Liebe Gottes mit der Mutterliebe in dieser Stunde etwas weiter nachdenken, indem wir sowohl die große Aehnlichkeit, die zwischen beiden stattfindet, als ihren großen Unterschied beherzigen, und daran noch schließlich einige Ermunterungen für unsern Glauben und einige Winke für unser christliches Leben anknüpfen.

Der du uns mehr liebest, als mit Vater. und Mutterliebe, schließe auch jetzt dein himmlisches Vaterherz gegen uns auf, wie es sich uns aufgeschlossen hat in Christo und laß uns inne werden, wie du uns nie vergessen willst. O daß wir auch dein nicht vergäßen, daß wir deiner Liebe immer würdiger uns machten; daß Väter und Mütter, von deiner Liebe entzündet, auch wieder mit deiner Liebe die liebten, die du ihnen gegeben hast, und daß wir Alle mehr und mehr verbunden würden durch das Band der Liebe, welches ist das Band der Vollkommenheit. Zu solchen Gesinnungen erwecke du uns selbst durch die Betrachtung, zu der wir deinen Segen erflehen. Amen.

I.

Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? - Diese Frage mögt ihr euch selbst beantworten, Mütter und Väter unter uns, denn an euer Herz gehet sie zunächst. Aber auch ihr mögt sie beantworten, Söhne und Töchter! die ihr Vater. und Mutterliebe schon erfahren habt oder noch erfährt, und beantworten am Ende kann sie sich auch jeder von uns, der nur schon in irgend einer Weise Zeuge gewesen der Liebe, womit eine Mutter ihr Kind geliebt. Und ihr werdet alle darin übereinstimmen, daß ein schönerer Vergleich auf Erden nicht gefunden werden kann, wo es gilt, für die Liebe Gottes einen würdigen Ausdruck zu finden. Ja, wenn sonst in der heil. Schrift und namentlich von Christo selbst häufig diese Liebe mit der eines Vaters verglichen wird, so werdet ihr doch mit mir finden, daß eben dieser Stelle, welche vor allem die mütterliche Liebe heraushebt und auf sie den Nachdruck legt, etwas überaus Zartes und Rührendes inwohnt. Gott hat es gleichsam nicht verschmäht, den so oft verkannten, oft wenigstens nicht genug gewürdigten Stand einer Mutter dadurch vor aller Welt zu ehren, daß er mit ihr auf dieselbe Stufe tritt, und sie sich gleichstellt in gewisser Beziehung. Und in der That brauchen wir nicht weit zu suchen, um die große Aehnlichkeit nachzuweisen, welche zwischen der Liebe Gottes und der Mutterliebe stattfindet.

Stimmen sie doch schon darin überein, daß sie beide zuvorkommend sind. Die Mutter liebt das Kind noch ehe es da ist; ihre Gedanken, ihre Sorgen, ihre Hände sind schon mit ihm beschäftigt, sie bereitet ihm eine Stätte, noch vor seiner Geburt; in dieser zuvorkommenden Sorge übertrifft ihre Liebe allerdings selbst die treueste und zärtlichste Vater. liebe und gerade darin erinnert sie uns an die Liebe Gottes, des himmlischen Vaters. Oder ist nicht auch seine Liebe eine zuvorkommende gegen uns? Hat er uns nicht je und je geliebt und uns zu sich gezogen aus lauter Güte? (Jerem. 3,3) ehe denn wir waren, er, der uns auserwählt in Christo, ehe der Welt Grund gelegt worden. (Ephes. 1,4.) Müssen wir es auch jetzt nicht noch so oft erfahren, ja zu unserer Beschämung es erfahren, daß wo wir erst sorgen zu müssen glaubten, seine Liebe schon alles gethan und geordnet hat und daß sein Auge, sein väterliches, mütterliches Auge über uns wachte, da wir noch schliefen? -

Wie die Mutterliebe zuvorkommend ist, so ist sie auch uneigennützig. Die Mutter liebt das Kind nicht aus Berechnung, nicht weil sie Gegenliebe erwartet; denn so wohl ihr auch diese thut und thun muß, wo sie in dem Kinde sich zu entwickeln anfängt, so geht sie doch stets mit ihrer Liebe dem Kinde voran, sie lehrt es erst lieben, gewöhnt es erst an Liebe, macht es empfänglich für Liebe aus eigenstem, innerstem Liebestriebe heraus. Und diese uneigennützige Liebe ist sie uns nicht wieder ein Bild der Liebe Gottes, der uns auch geliebt hat, nicht um unserer Liebenswürdigkeit und Vortrefflichkeit willen, nicht um der Werke willen, die wir gethan haben, sondern aus freiem Erbarmen.

Wenn aber nun diese Uneigennützigkeit der Liebe bei einer wahren Mutter sich steigert bis zur aufopfernden Liebe, so daß sie gerne allem Genuß entsagt, um nur ihren Kindern zu leben, wenn sie den Schlaf sich bricht und das Leben sich verkürzt, nur damit ihr Kind gepflegt und genährt und versorgt und gerettet werde, ist sie nicht auch darin dieser bewunderungswürdigen Größe der Gesinnung ein Bild unseres Gottes? -

Ihr verneinet es vielleicht darum, weil ihr euch Gott als den Allmächtigen und den Allgenugsamen denkt, als den reichen Herrn des Weltalls, der nicht nöthig hat, sich etwas abzubrechen und etwas aufzuopfern, damit es seinen Kindern zu gut komme, der hoch erhaben ist über alles Leiden, über allen Kummer der Menschen, und der daher auch selbst nicht leidet und sich kümmert wie Menschen. Es ist wahr, hier scheint der Vergleich auszugehen. Und doch wenn ihr nicht nur euern menschlichen Maßstab anlegt an die Größe Gottes, wenn ihr euch vielmehr getraut hineinzuschauen in das rechte Geheimniß der göttlichen Liebe, wie dasselbe in der Liebe Christi uns aufgeschlossen ist, so werdet ihr doch auch zu reden wissen von einer aufopfernden Liebe Gottes, und es werden euch die Worte der Schrift in ihrer ganzen Bedeutung vor die Seele treten: Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Joh. 3, 16.) Oder jene andern: welcher seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? (Röm. 8, 32.) Ja, in dem Opfertode Christi, des Sohnes Gottes, ist uns die Liebe Gottes auch von ihrer aufopfernden Seite nahe getreten, und je einfacher wir diese Wahrheit auffassen, je weniger wir unsere Weisheit, unsere menschlichen Begriffe verdeutlichend oder verdunkelnd hineintragen, desto mehr stellt sie sich uns in ihrer ganzen Würde und Erhabenheit dar, und desto mehr sehen wir in dem Tode Jesu ein Unterpfand der Liebe, die in unserm Texte so rührend sich ausspricht.

Die mütterliche Liebe ist eine langmüthige, verzeihende, schonende Liebe, voller Nachsicht und Geduld. Und ist nicht die göttliche auch hierin ihr Ebenbild? Wie die Mutter auch des unartigen, ja des entarteten Kindes sich erbarmet, wie sie auch den rohesten Uebermuth zu ertragen weiß, wie sie selbst den undankbaren Sohn, der ihre Warnungen in den Wind schlägt und ihre Liebe mit Trotz vergilt, nicht aus ihrem mütterlichen Herzen verbannt, wie sie, wenn nichts mehr hilft, für ihn betet, für ihn hofft, ihn nie ganz aufgiebt als verloren, so geht auch der Herr mit mehr als väterlicher, ja mit mütterlicher Geduld dem Sünder nach, hat Nachsicht mit seinen Schwachheiten und Verirrungen, und selbst den Trotzigen und Verwegenen giebt er nicht auf, bis endlich die Stunde kommt, da er ihn zurückführen kann von der Bahn des Verderbens auf den guten Pfad des Heils und des Friedens.

Sehet, das ist die Gottesliebe, wie sie sich spiegelt in der Mutterliebe. Und für wen hätte diese Aehnlichkeit beider nicht etwas Erhebendes? Ja, wer möchte nicht, daß ich menschlich rede, stolz seyn auf eine Liebe, die Gott so hoch gewürdigt hat, daß er seiner Liebe sie gleichstellte, wer nicht stolz seyn auf den väterlichen, den mütterlichen Beruf, dem eben diese Liebe obliegt?

Allein zum Stolze soll es eben doch nicht kommen. Vielmehr liegt in dem Vergleich, so erhebend er auch ist, etwas Demüthigendes, indem er uns auch neben der Aehnlichkeit an den großen Unterschied erinnert, der zwischen der Liebe Gottes und auch der zartesten, reinsten menschlichen Liebe hervortritt, und davon laßt uns in unserm 2. Theile reden.

2.

Wenn unser Text erst vorauszusetzen scheint, daß es wohl keine Mutter gebe, die ihres Kindes vergessen könne, so setzt er doch hinzu: „und ob sie desselbigen vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen.“ Er nimmt also doch die Möglichkeit an, daß auch ein Weib ihres Kindes vergessen könne. Und wer von uns wäre nicht von dieser Möglichkeit überzeugt? Ich will nicht daran erinnern, daß es leider Väter und Mütter genug giebt, die ihrer Kinder beständig vergessen, sich wenig oder nichts um sie bekümmern, oder gar hart und grausam, unväterlich und unmütterlich gegen sie gesinnt sind. Diese verdienen den schönen Vater- und Mutternamen nicht, und so sey auch weiter nicht von ihnen die Rede, sie sind schon gerichtet durch das Wort unseres Textes. Aber die Hand aufs Herz! Welcher Vater, welche Mutter muß sich nicht anklagen, auch bei dem besten Streben häufig hinter der rechten Liebe zurückgeblieben zu seyn? Uneigennützig haben wir die Mutterliebe genannt, und wir wollen es nicht zurücknehmen; aber beschränken müssen wir es doch, denn welche Mutter wüßte sich so uneigennützig, so hingebend, so ganz nur ihren Kindern lebend und sich selbst vergessend, daß sie nicht noch immer mit den Regungen der Selbstsucht und der Eigenliebe zu kämpfen hätte, daß sie nicht am Ende sich doch sagen müßte, sie liebe mehr sich in ihren Kindern; ihrer Eitelkeit schmeichle es, wenn sie gelobt würden, ihrem Eigennutze sage es zu, wenn es ihnen wohlgehe; ihrer Bequemlichkeit, ihrer Laune habe sie schonest das wahre Glück der Kinder geopfert; und was die Mütter, das müssen auch die Väter gestehen, die es in der Regel noch weit mehr an uneigennütziger Liebe fehlen lassen.

Aber gesetzt auch, es fehlte von dieser Seite nichts, wie leicht fehlt es dann von der andern! Die Mutterliebe, sagten wir, sey langmüthig, geduldig, nachsichtig. Aber ist sie es immer am rechten Orte und auf die rechte Weise? Ist sie nicht oft blind und schwach und weichlich und allzu zärtlich? Und wahrlich das heißt auch seines Kindes vergessen, wenn man aus falscher Schonung seine Fehler vergißt, seine Schwächen übersieht, und am Ende vor lauter so geheißener Güte die Sünde läßt einwurzeln. Sehet da gehen die Wege Gottes und die Wege der Menschen, die Wege des himmlischen Vaters und die der meisten irdischen Väter und Mütter auseinander. Da heißt es ganz eigentlich: meine Wege sind nicht eure Wege, und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, (Jes. 65,8) und ob ihr auch, die Schwachen, eurer Kinder vergesset, so will ich doch euer und eurer Kinder nicht vergessen. Gott ist gütig, gütiger als keine Mutter; aber er ist auch heilig und gerecht, und hasset die Sünde. Er gedenkt unser in seiner Barmherzigkeit; aber er gedenkt unser nicht minder in seinem heiligen Ernste. Gott zürnet. Das ist nicht zu verstehen von dem Zorne menschlicher Leidenschaft, aber wohl von dem Zorne, der der rechten Liebe inwohnt, von jener Eifersucht, die es nicht dulden kann und nicht dulden will, daß das von ihr Geliebte sich von ihr abwende, dem Verderben zu; die es daher nicht an Zurechtweisung und an Strafe fehlen läßt, ja, die als ein verzehrendes Liebesfeuer alles Unheilige verzehrt und das Heilige läutert. Das ist der Sinn der biblischen Worte: welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er. (Hebr. 13,6.) Und hierin, in dieser züchtigenden Liebe, sind wir ihm großentheils unähnlich, weil wir selbst noch nicht so weit durch den Geist Gottes erzogen sind. Darum fehlt es unserer menschlichen Erziehung so oft am rechten Halt und Grund, daher das beständige Schwanken zwischen übergroßer Strenge und übergroßer Milde, während es nie zum rechten Ernst und zur rechten Liebe kommt. Oder wo wäre ein Vater, wo eine Mutter, die im Vertrauen auf ihre eigene Liebe und auf ihre Erziehungsweisheit sagen könnten: sie bedürften der heiligenden Zucht Gottes nicht mehr, weder für sich selbst noch für ihre Kinder? Müssen wir nicht vielmehr alle beschämt es gestehen: Herr, wenn du nicht meine Kinder mir erziehen hilfst, und mich noch obenein mit erziehest, so ist es aus mit meiner Kunst?

Aber wenn wir auch alles thäten, was wir zu thun schuldig sind, giebt sich uns die Unähnlichkeit zwischen der menschlichen und der göttlichen Liebe nicht auch darin zu erkennen, daß unsere Liebe auch beim besten Willen eine beschränkte, ja eine ohnmächtige ist, und daß wenn auch die Mutter ihres Kindes nicht vergißt, ja sich seiner erbarmen möchte, sie doch nicht immer seiner sich erbarmen kann, nicht immer rathen, retten, helfen kann, wo und wie sie will? Wie viele Väter und Mütter möchten so gerne ihren armen Kindern ein besseres Loos bereiten, als ihnen selbst geworden, ihnen eine bessere Erziehung geben, als sie selber hatten und sie vermögen es nicht aus Mangel an Mitteln. Geschweige der Mutter, die gerne mit Hingabe des eigenen Lebens eines kranken Kindes Leben retten möchte und die es gleich. wohl muß hinwelken und verschmachten sehen, weil sie nichts hat, womit sie das theure Leben aufhalten, nichts womit sie den Schmerz des Leidenden stillen könnte? Und denken wir uns erst noch die Sorgen und Bekümmernisse so manches schon Herangewachsenen, für den auch das treueste Vater. und Mutterherz keinen andern Trost hat, als eben den Trost, den nur Gott zu geben vermag, so haben wir darin den Beweis, daß es mit unserer Liebe nicht gethan ist, wo nicht seine allmächtige Liebe unserer Ohnmacht zu Hülfe kommt.

Zudem aber, daß die menschliche Liebe eine ohnmächtige und beschränkte ist, ist sie ja endlich auch noch in ihren fühlbaren Wirkungen gebunden an dieses flüchtige Leben, und sonach ist kein ewiger Verlaß auf sie. Wir alle sind sterbliche Menschen, und stirbt auch nicht die Liebe mit uns, so reißt eben doch das Band derselben früher oder später, und die edelsten Väter und die treuesten Mütter sinken dahin in das Grab. Da bleibt denn den Waisen der einzige Trost: Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf. (Ps. 27, 10.) Seine Liebe nimmt kein Ende, und nur das Band, das mit ihm uns verknüpft, wird durch keinen Tod durch. schnitten. Himmel und Erde können vergehen, Menschen können sterben, aber seine Liebe nicht. Er allein ist ewig derselbe, ewig unser Vater, unser Gott. Christus der Sohn Gottes ist bei uns alle Tage bis an der Welt Ende, heute, gestern und derselbe in Ewigkeit. -

Das ist also der große Unterschied zwischen der göttlichen Liebe und der menschlichen, daß eben diese häufig noch unrein, jene rein, diese oft schwach und blind, jene heilig und gerecht, daß überdieß diese beschränkt und ohnmächtig, jene unbeschränkt und allmächtig, diese vergänglich in ihren Wirkungen, jene ewig ist - Und so haben wir denn das Aehnliche, wie das Unähnliche, das Uebereinstimmende, wie das Unterscheidende beider betrachtet, jenes zu unserer Erhebung, dieses zu unserer Demüthigung. Und nun laßt uns nur noch zum Schlusse einige Ermunterungen für unsern Glauben und einige Winke für unser Verhalten daraus herleiten.

Das Erste, was sich uns wohl aus dem Bisherigen ergiebt und wozu auch vor allem unser Text uns auffordert, ist, daß wir dem Gott unser ganzes Vertrauen schenken, der uns so rührend in seinem Worte versichert, er wolle unser nie vergessen; daß wir ihm mehr vertrauen als Vater und Mutter; daß wir ihm willig folgen, wohin er uns führt, und nicht gleich verzagen, wenn nicht alles nach unserm Willen und nach unserer Erwartung geht, daß wir vielmehr mit dem Psalmisten sprechen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln; er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zu frischem Wasser; er erquickt meine Seele, er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen, und ob ich schon wandle im finstern Thal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“ (Ps. 23.) - Und an dieses Gefühl dieses Vertrauens reihet sich dann von selbst das der Treue gegen ihn und des freudigen und willigen Gehorsams. - Hat er uns nicht vergessen, o so vergessen wir auch seiner nicht. Ist er nicht gewichen von seinem Volke, so weichen auch wir nicht von ihm. Leben wir nicht uns und unsern Zwecken, sondern ihm, der sich uns dargiebt als unser Vater in seinem Sohne und uns seine Vaterschaft vergewissert in seinem Geiste. Legen wir ab, was ihm mißfällt und von ihm uns trennt, und erneuern wir uns beständig im Geiste unseres Gemüthes, damit wir vor ihm erfunden werden unsträflich und unbefleckt, als die Heiligen Gottes im Lichte.

Aber auch für unser menschliches Verhalten läßt sich aus unserer Betrachtung eine für uns Alle wichtige Ermahnung herleiten, nämlich die, daß wir auch die irdischen Verhältnisse, in die uns Gott gesetzt hat, im Lichte der göttlichen Liebe betrachten lernen. Hat Gott den Vater- und Mutterberuf so hoch gestellt, daß er seine Liebe mit der Liebe eines Vaters und in unserm Texte noch besonders mit der Liebe der Mutter verglichen hat, o so laßt uns diesen Vater- und Mutterberuf als einen heiligen achten, laßt uns nicht ruhen, bis unsere oft noch unreine, selbstsüchtige oder wenigstens schwache, verkehrte, unvollkommene Elternliebe in der seinigen sich gereinigt, an der seinigen sich gestärkt, durch die seinige sich gebildet und veredelt und vollendet hat. Aber nicht nur Väter und Mütter betrifft das Wort unseres Textes, es geht uns Alle an. Die menschliche Liebe in allen ihren Beziehungen, in allen den verschiedenen Kreisen ihres Wirkens, heiße sie brüderliche, heiße sie allgemeine Liebe, sie hat ihren Herd und Mittelpunkt in der Liebe Gottes, und sie ist zugleich wieder der Prüfstein, ob wir Gott lieben; denn so jemand spricht, ich liebe Gott und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner, denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er siehet, wie kann der Gott lieben, den er nicht siehet. (l. Joh. 4, 20.) Eltern, die der Kinder, Kinder, die der Eltern, Freunde, die der Freunde vergessen, ein Christ, der den Andern vergißt und ihn verabsäumt, ein Mensch, der an dem Andern kalt und theilnahmlos vorübergeht, wie der Priester, der Levit, an jenem Unglücklichen; sie alle, die mehr auf das Ihre sehen, als auf das was des Andern ist, machen sich der Gottesvergessenheit schuldig, und können daher auch nicht sich dessen freuen, daß Gott ihrer gedenke, während umgekehrt der, welcher das geringste Kind aufnimmt im Namen des Herrn ihn aufnimmt, und mit ihm den himmlischen Vater, der ins Verborgene sieht und auch der verborgensten That in Liebe gedenkt.

Und so laßt uns denn in Erwägung der prophetischen Worte, die wir betrachtet haben, immer fester gewurzelt werden in der göttlichen Liebe. Getragen von ihr, beseelt von ihrem Geiste, umfangen von ihrem belebenden Hauche, lasset uns mehr und mehr Ihn lieben, der uns zuerst geliebt hat. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. (1. Joh. 4, 16.) Amen.

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