Graf-Stuhlhofer, Franz - Das ewige Schicksal früh verstorbener Kinder
Was geschieht mit Kleinkindern, wenn sie sterben? Mit Kindern, die abgetrieben werden, mit Kindern, die tot zur Welt kommen, mit Kindern, die während der ersten Lebensjahre sterben? Wartet der Himmel auf diese Kinder, oder die Hölle?
Es handelt sich dabei nicht um eine trockene Frage, die bloß Gegenstand theoretischer Spekulationen einiger Theologen ist. Viele gläubige Eltern bewegt diese Frage. Müssen sie ständig zittern, daß eines ihrer geliebten Kinder stirbt, bevor es eine Entscheidung für Jesus getroffen hat und dann verloren geht? Und, als Reaktion auf diese Befürchtung: Sollen die Eltern auf eine möglichst frühe Entscheidung hin arbeiten? (Dieses „Hinarbeiten“ kann dann leicht zu einem Drängen werden.)
Es handelt sich hierbei - wie wir noch sehen werden - auch um ein quantitativ erstrangiges Problem. Im allgemeinen wird es ja eher als Ausnahme, als „Sonderfall“ betrachtet, den man beim Thema der Errettung entweder bloß nebenbei streift oder überhaupt ignoriert.
Ich möchte hier alle möglichen Antworten durchgehen. Jede der möglichen Alternativen hat ihre Probleme, die sich bei sorgfältigem Durchdenken zum Teil sogar als sehr groß erweisen.
Wenn ich hier den Begriff „Kleinkinder“ gebrauche, meine ich durchwegs Kinder vor Erreichen jener Alters- oder Reifegrenze, bis zu der man sich die Kinder als persönlich unschuldig vorstellt - ohne daß es nötig ist, diese Grenze jetzt genauer festzulegen.
1. Alle Kinder werden gerettet
Dafür spricht, daß sie ohne Tatschuld sind. Man könnte hier auch auf Jesu äußerst positive Haltung gegenüber den Kindern hinweisen (Mt 19,14 und 18,2-4). Oft wird Davids Erwartung, dereinst zu seinem verstorbenen Sohn zu gehen, zitiert (2. Sam 12,23). Hier beschreibt David aber vermutlich bloß die „Einbahnstraße“ unseres Erfahrungshorizontes: Lebende werden zu Toten, aber nicht umgekehrt.
Gegen die automatische Rettung aller Kleinkinder spricht: Es ist ja nicht so, daß der neugeborene (genauer: neugezeugte) Mensch in enger Gemeinschaft mit Gott lebt bis zu jenem Zeitpunkt, wo er erstmals bewußt sündigt, sondern er wird bereits in die Trennung von Gott hineingeboren. Psalm 51,7 weist in diese Richtung. (Allerdings gibt es auch die Ansicht, daß man den geistlichen Zustand Neugeborener als „geistlich neutral“ ansehen sollte - erst im Laufe der Jahre entwickelt sich das Kind aufgrund eigener Entscheidungen in eine bestimmte Richtung).
Dagegen spricht aber auch die riesige Zahl dieser Kleinkinder. Schon Hermann Cremer schrieb im Kapitel „Über das Kindersterben“: „ist es nicht vielleicht die Hälfte der Menschheit, die zu Grabe getragen wird, ehe sie weiß, was leben heißt?“.
Rechnen wir einmal ganz grob: In medizinisch gut versorgten Ländern ist die Abtreibungsrate sehr hoch - manche Schätzungen gehen bis zu einer Abtreibung pro Geburt. In unterentwickelten Ländern (der Vergangenheit und Gegenwart) gibt es zwar kaum Abtreibungen, aber eine hohe Kindersterblichkeit. Daneben gibt es überall einen Anteil von Fehlgeburten. Zumindest in früheren Zeiten wurden viele neugeborene Kinder getötet, vor allem Mädchen. Auch religiöse Kinderopfer gab es. Alles in allem kann als grobe Schätzung gelten, daß die Hälfte aller gezeugten Menschen nie in ein Alter persönlicher geistlicher Entscheidungsfähigkeit kam. Diese wären dann alle automatisch im Himmel.
Nun betrachten wir die andere Hälfte, also jene Menschen, die ein gewisses Alter erreichten. Die Spitzenwerte für den Anteil wiedergeborener Christen in der Bevölkerung eines größeren Landes liegen etwa bei 5%. Der Normalfall ist aber wesentlich geringer. Rechnen wir einmal im Durchschnitt mit 1%. Also 1% von der Hälfte aller Menschen, das sind 0.5% der gesamten Menschheit. Die menschliche Bevölkerung des Himmels würde demnach aus den 50% Kleinkindern plus 0.5% Wiedergeborenen bestehen. (Die Frage, was mit denen ist, die nie vom Evangelium gehört haben, einmal ausgeklammert. Eine andere Gruppe, die gläubigen Juden zur Zeit des AT, fällt zahlenmäßig nicht ins Gewicht.) 99% der menschlichen Himmelsbewohner wären also Kleinkinder, die nie eine - positive oder negative - Entscheidung für Jesus getroffen haben. Bilder vom zukünftigen Himmel - wie etwa in der Johannes-Offenbarung geliefert - müßten demnach vor allem diese Kleinkinder erwähnen (welche Gestalt auch immer sie dann im Himmel haben werden, so sind es jedenfalls Menschen, die nie eine geistliche Entscheidung getroffen haben). Die winzige Minderheit wiedergeborener Christen, die daneben auch im Himmel sind, ist demgegenüber zu vernachlässigen. Sie könnte vielleicht in einer Nebenbemerkung erwähnt werden: „und dann sah ich in einer kleinen Ecke auch noch ein paar Christen…“
Dagegen spricht schließlich auch, wie schwerwiegend demnach das Erreichen einer bestimmten Alters- oder Reifegrenze wäre. Hier kommt es zu einem totalen Umschwung: Denn bis dahin ist der Mensch automatisch gerettet, und ab da ist seine Rettungswahrscheinlichkeit äußerst gering. Jedenfalls gilt das, wenn die Heilsnotwendigkeit der Wiedergeburt vertreten wird. Wenn nicht, kann die Rettungswahrscheinlichkeit auch durchaus größer sein.
Diese gewichtigen Einwände werden weithin nicht bedacht, und so erfreut sich die Annahme der Errettung aller Kleinkinder großer Beliebtheit unter den Christen. Sie wurde von dem oben erwähnten Hermann Cremer vertreten, aber wohl auch von J. Oswald Sanders. Sanders sieht in seinem Buch „Und die Menschen ohne Evangelium?“ für diese nicht evangelisierten Menschen wenig Rettungs-Chancen, sagt aber daneben doch auch, „daß die landläufige evangelische Überzeugung dahin geht, Kinder für gerettet zu halten“, und läßt diese Überzeugung stehen. Im Hinblick auf Kinder, die zu früh gestorben sind, auf Abgetriebene und auf Geisteskranke meint Werner Gitt: „So dürften wir gewiß sein, daß die vorgenannten Personen nicht der Verdammnis verfallen.“ Wer diese Ansicht vertritt, muß aber auch darauf achten, daß er dabei konsequent ist. Kann er dann gleichzeitig noch behaupten: „In Gottes Himmel gibt es einmal nur Freiwillige und keine Zwangseinquartierten?“ Wenn Menschen, die zu früh gestorben sind, um eine eigene Entscheidung treffen zu können, automatisch im Himmel landen, kann man nicht sagen, daß sei „freiwillig“ dort sind - außer man rechnet mit der Möglichkeit, daß sie nach dem Tod noch eine Entscheidung treffen können. Diese Möglichkeit schließt Gitt aber in seinem Buch „Schuf Gott durch Evolution?“ ausdrücklich aus, indem er dort über die Wiedergeburt sagt: „Dieser Vorgang im irdischen Leben eines Menschen ist notwendig, um das Heil zu erlangen.“ Gitts Einzelbehauptungen lassen sich also kaum zu einem widerspruchsfreien System zusammenfügen.
2. Alle Kleinkinder gehen verloren
Dafür spricht die schon unter 1 erwähnte Trennung des Menschen von Gott bereits ab der Zeugung.
Dagegen spricht das damit verbundene Gottesbild: es handelt sich um einen ziemlich gleichgültigen Gott, der eine riesige Zahl von Menschen verloren gehen läßt (ohne daß diese sich so entschieden hätten oder die Möglichkeit gehabt hätten, ihr Schicksal zu wenden). Dieses Gottesbild widerspricht nicht nur unserem Wunschdenken, sondern auch der biblischen Geschichte, wo Gott zeigt, daß er bis zum Äußersten geht, um möglichst viele Menschen zu retten.
Diese Position wird kaum ausdrücklich vertreten, aber die Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Wiedergeburt beinhaltet in Verbindung mit der Annahme, daß es nach dem irdischen Tod keine Entscheidungsmöglichkeit mehr gibt, zwangsläufig diese Position.
3. Die Kleinkinder von Christen werden gerettet
Dafür könnte 1. Kor 7,14 angeführt werden: Die Kinder eines Gläubigen sind heilig. Doch auch der ungläubige Ehepartner ist durch den gläubigen Partner geheiligt, ohne deswegen gerettet zu sein.
Dagegen spricht: Das Heil ist kein Erbgut, das genetisch, gleichsam beim Zeugungsvorgang, weitergegeben wird.
Mitunter werden auch für die vor der Christwerdung der Eltern gestorbenen Kinder Rettungswege ausgedacht: Diese Kinder werden im Gebet rückwirkend Gott übereignet. (Diese Praxis erinnert an die Mormonen, die intensive Ahnenforschung betreiben, um sich dann stellvertretend für möglichst viele Vorfahren taufen zu lassen.) Wenn ein solches stellvertretendes Übereignen möglich ist: Warum dann nur für die Kinder von Gläubigen? Warum tun wir es dann nicht auch für alle anderen (früh verstorbenen) Kinder? Oder geht es bloß um die seelische Beruhigung der gläubigen Eltern? Überhaupt habe ich den Verdacht, daß diese Alternative dem Wunschdenken derer entspringt, die prinzipiell die Argumentation für Alternative 2 richtig finden, aber nun die für gläubige Eltern unangenehmen Konsequenzen abmildern wollen (Hauptsache, unsere Kinder sind gerettet, die anderen sind uns nicht so wichtig …). Nebenbei bemerkt, beruht diese Praxis auf der Vorstellung von einem „stellvertretenden Glauben“, den wir ansonsten ja scharf ablehnen - etwa bei der Taufwiedergeburtslehre, oder beim für Tote dargebrachten röm.-kath. Meßopfer.
4. Die zum Heil prädestinierten Kinder werden gerettet
Mit „Prädestination“ (=Vorherbestimmung) ist gemeint: Gott hat einige Menschen aufgrund seiner eigenen, völlig freien Entscheidung, unabhängig vom Wollen oder Handeln der betreffenden Menschen, zum Heil prädestiniert, darunter auch Kleinkinder. Dies Vorherbestimmten werden gerettet, alle anderen nicht.
Dagegen spricht alles, was gegen die Lehre von der Prädestination spricht. Im Hinblick auf die Kleinkinder tritt dieser Lehre in völliger Ungeschütztheit entgegen: Wir sehen einen Gott, der ganz willkürlich, ohne daß irgendein Unterschied zwischen den Handlungen/Entscheidungen der Menschen vorliegen würde, die einen für den Himmel und die anderen für die Hölle bestimmt. (Als biblischer Hauptbeleg für die Prädestination gilt Römer 9.)
5. Jene, die sich beim Älterwerden für Jesus entschieden hätten, werden gerettet
Die Überlegung dabei ist, daß Gott ja weiß, wie sich die Menschen, wären sie größer geworden, einmal entschieden hätten. Dementsprechend ergibt sich ihr ewiges Schicksal. Als biblische Begründung könnte auf Mt 11,21-24 verwiesen werden, wo Jesus sagt, daß die Bewohner von Tyrus, Sidon und Sodom umgekehrt wären, hätten sie Jesu Wunder erlebt.
Dagegen spricht, daß dabei wesentliche Entscheidungen in einer Scheinwelt fallen. (Und zwar etwa genausoviele wie in der wirklichen Welt!) Gottes Urteile auf der Grundlage dessen, was geschehen wäre, könnten in ihrer Berechtigung leicht angefochten werden. - Diese Möglichkeit wird von Andreas Symank erwogen.
6. Jene Kleinkinder, bei denen Gott eine spätere Entscheidung für ihn vorhersieht, bewahrt er, so daß sie das nötige Alter erreichen
Alle jene, die zu früh sterben, sind demnach solche, die sich auch nicht für Gott entschieden hätten, wenn sie größer geworden wären (sie gehen also verloren).
Dagegen spricht: Diese zu früh gestorbenen Menschen könnten es als ungerecht ansehen, daß sie (in Adam) verurteil wurden, ohne individuell schuldig geworden zu sein, und - im Unterschied zu vielen anderen Menschen - auch keine Chance zur Rettung hatten.
7. Zwischen Gott und dem Kleinkind gibt es eine für Außenstehende unbeobachtete Kommunikation
Kann Gott nur über den Verstand des Menschen mit diesem kommunizieren? Falls Gott über den Verstand hinausgehende Möglichkeiten hat, dann hat er auch Zugang zu verstandesmäßig noch wenig entwickelten Menschen wie Kleinkindern. Wenngleich deren Verstand noch nicht so weit entwickelt ist, können demnach Kleinkinder doch auf Gott reagieren. Entsprechend ihrer Reaktion entscheidet sich ihr ewiges Schicksal. Zwar ist von einer Beziehung zu Gott bei einem Kleinkind wenig sichtbar, dennoch ist zu bedenken: Auch beim wiedergeborenen Christen wird Gottes Wirken erst nach und nach auch für Außenstehende erkennbar, und die Reaktionsmöglichkeiten für Kleinkinder sind eben stärker eingeschränkt.
8. Es gibt noch Entscheidungsmöglichkeiten nach dem Tod
Dafür spricht: Denken wir daran, wie wichtig die Jahre des Christseins für uns waren, welche Reifung sie bewirkt haben. Das macht uns bewußt, wie wesentlich solche Reifeprozesse sind. Sollte man annehmen, daß im Himmel jene Menschen, die sich erst kurz vor ihrem Tod entschieden haben, ohne jede solche Reifung verbleiben? Wenn man aber prinzipiell zugesteht, daß es auch nach dem Tod Entscheidungen und Reifeprozesse gibt, ist man von der Möglichkeit einer Entscheidung für Jesus nicht mehr so weit entfernt. (Dieses Problem haben auch jene, die mit der automatischen Errettung einiger oder aller Kleinkinder rechnen: Machen diese dann nach ihrem Tod doch noch Reifeprozesse durch, oder bleiben sie ewig in ihrem seelisch und geistlich unreifen Zustand?)
Als biblische Begründung für diese Alternative wird 1. Pet 3,19 (Jesus predigte den Geistern im Gefängnis) und 4,6 (den Toten wurde das Evangelium verkündet) genannt. Die Bedeutung dieser Stellen ist allerdings unklar.
Sollte diese Alternative stimmen, ergäben sich auch entsprechende Konsequenzen für jene Menschen, die nie von Jesus gehört haben.
Dagegen können einige Bibelstellen angeführt werden: Luk 16,26 (der reiche Mann und der arme Lazarus) oder Heb 9,27 (nach dem Sterben kommt das Gericht).
Unangenehm an dieser Alternative ist auch, daß bisher völlig klar erschienene Abgrenzungen schwieriger werden: Vor allem gegenüber der röm.-kath. Lehre vom Fegefeuer. Dann vielleicht auch gegenüber esoterischen Vorstellungen von einer Reinkarnation, vom Astralleib und dem Durchwandern mehrerer Sphären, und auch gegenüber der Allversöhnung.
Mit der Möglichkeit von Entscheidungen nach dem Tod rechnen etwa Hermann Cremer, Gerhard Bergmann oder Arthur E. Wilder Smith.
Eine besondere, gegenwärtig vor allem von den Zeugen Jehovas vertretene Variante sieht so aus, daß viele ungläubig verstorbene Menschen während des 1000jährigen Reiches zum Leben erweckt werden und dann die Chance haben, zum Glauben zu kommen.
Gegen die meisten Alternativen kann man einwenden, daß sie sich biblisch und/oder erfahrungsmäßig kaum begründen lassen, also spekulativ sind.
Noch eine weitere Position ist sehr verbreitet: „Wir wissen die Antwort nicht, aber wir vertrauen darauf, daß Gott gerecht ist.“ Ich respektiere diese Position. Wer sie vertritt, sollte sie aber auch konsequent vertreten. Und das bedeutet, daß er auch die im Umfeld liegenden Fragen offenlassen muß. Denn aus der Beantwortung der Frage nach dem ewigen Schicksal früh verstorbener Kinder können sich auch Konsequenzen im Hinblick etwa auf die Menschen ohne Evangelium oder auf Entscheidungsmöglichkeiten nach dem Tod ergeben. Wer die eine Frage offenlassen will, sollte dann auch die anderen Fragen offenlassen.
(Quelle: Jahrbuch für evangelikale Theologie, 6. Jahrgang 1992, Seiten 33-39; R. Brockhaus Verlag Wuppertal, ISBN 3-417-26736-6)