Fresenius, Johann Philipp - Kurze Anweisung, wie man die heilige Schrift zur Erbauung lesen soll

Fresenius, Johann Philipp - Kurze Anweisung, wie man die heilige Schrift zur Erbauung lesen soll

Wer die heilige Schrift zu seiner Erbauung recht lesen will, der hat Folgendes zu merken:

1. Alle Menschen sind verbunden, die heilige Schrift zu lesen und darin nach dem Willen Gottes zu forschen. Gott redet in diesem Buch mit allen Menschen; daraus folget, daß auch Alle schuldig sind, auf sein Wort zu merken. Der Befehl Christi, Joh. 5,39, Suchet in der Schrift, ist Allen gegeben. Die Eltern sollen sie sogar ihren Kindern von ihrer zarten Jugend an bekannt machen, 5. Mos. 6,6.7. 2 Timoth. 3,15

2. Ob schon alle Menschen verbunden sind, die heilige Schrift zu lesen, so kann sie doch niemand zur wahren Erbauung lesen, als wer sich wahrhaftig zu Gott bekehret. Aus diesem Grunde sagt Christus Joh. 8,47 zu den Juden: Wer von Gott ist, der höret Gottes Wort; darum höret ihr nicht, denn ihr seyd nicht von Gott. Man muß also von Gott neu geboren seyn, wenn man mit seinem Wort recht umgehen will. Dieser göttliche Same bringt seine Frucht nicht in einem Herzen, das einem Wege, einem Felsen, oder einem Dornbusch gleichet, sondern nur in einem guten Lande, das ist, in einem feinen guten Herzen, Luc. 8,4-15. Das Wort der Predigt half jene nichts, da nicht glaubten die, so es hörten. Ebr. 4,2. Im Griechischen heißt es: Da es nicht vermengt wurde mit dem Glauben in denen so es hörten. Soll also das Bibellesen helfen, und zur Seligkeit nutzen, so muß man den lebendigen Glauben haben, und das Wort mit diesem Glauben ergreifen und vermengen. Wer nun noch kein bekehrtes gläubiges Herz hat, der bitte Gott um die wahre Bekehrung, sonst wird es ihm zur Seligkeit nichts nutzen, wenn er gleich die Bibel noch so oft durchlesen wollte. Es hat damit nicht die Meynung, als wenn ich unbekehrten Leuten abrathen wollte, die heilige Schrift zu lesen. Nein, keineswegs. Das Wort Gottes ist das eigentliche Mittel zu ihrer Bekehrung, und wenn nur alle Gottlosen es oft aufmerksam lesen und hören wollten, so könnten sie wohl dadurch gebessert werden. Sondern ich habe nur angezeigt, was das Wort für ein Herz erfordere, wenn es wirklich Früchte zur Seligkeit bey uns hervorbringen soll, und was ein jeder Leser der heiligen Schrift für ein Herz bey Gott sich erbitten müsse, wenn er die Kraft derselben zu seinem ewigen Heil erfahren will.

3. In der Lehre von der Göttlichkeit der heiligen Schrift muß man sich zu bevestigen suchen. Je mehr die ungläubige Freygeisterey überhand nimmt, desto nothwendiger ist diese Regel. Es hat seinen vortrefflichen Nutzen, wenn man ein Buch lieset, worin die Gründe von der Göttlichkeit der heiligen Schrift überzeugend vorgetragen werden. Nebst dem aber ist das der nächste und sicherste Weg zu solcher Ueberzeugung, welchen der Herr Jesus vorschreibt, Joh. 7,17. So jemand will deß Willen thun, (der mich gesandt hat,) der wird inne werden, daß diese Lehre von Gott sey.

4. Man muß die heilige Schrift in der rechten Absicht lesen. Unsere Absicht ist die rechte, wenn sie mit Gottes Absicht, aus welcher er uns sein Wort offenbaret hat, übereinkommt. Seine Absicht geht dahin, daß wir aus seinem Wort seinen Willen von unserer Seligkeit sollen erkennen lernen, und demselben, als der einzigen Regel unsers Glaubens und Lebens, gehorsam werden. Demnach muß unsere Absicht seyn, daß dieser Zweck an uns möge erreicht werden, und wir müssen die heilige Schrift nicht anders ansehen, als das Licht, welches uns ganz allein den Weg zum ewigen Leben weiset, dem wir also ohne Widerspruch im Glauben und Leben folgen müssen. Einem redlichen Herzen offenbaret Gott sein Licht; ein verkehrtes Herz aber kann die reine Liebe nicht fassen, Matth. 6,22.23

5. Mit der rechten Absicht muß ein herzliches Gebet verbunden werden. David war ein erleuchteter Prophet, und doch fand er noch nöthig zu beten: Oeffne mir die Augen, daß ich sehe die Wunder an deinem Gesetz, Ps. 119,18. Wer vor, unter und nach dem Bibellesen andächtig betet, um den Geist der Weisheit und des Verstandes, des Raths und der Stärke, der Erkenntniß und der Furcht des Herrn, der wird weiter kommen, als ein anderer, der ohne Gebet noch so scharfsinnig forschet.

6. Die Art zu lesen ist dreyerley, und ist entweder auf ein geschwindes Wissen, oder auf ein tieferes Forschen, oder allein auf eine andächtige Erbauung des Herzens gerichtet.

Die erste Art, welche auf ein geschwindes Wissen gerichtet ist, bestehet darin, daß man ein, zwey, oder mehrere Capitel auf einmal lieset, in der Absicht, die Bibel desto eher durchzulesen, damit man sich ihren ganzen Inhalt in kurzer Zeit bekannt machen, oder wiederholen und dem Gedächtniß von neuem einprägen möge.

Zu diesem Zweck haben einige die sogenannten biblischen Calender vorgeschlagen, und auf jeden Tag eine Eintheilung gemacht, wie viel Capitel aus dem alten und neuen Testament, und wie viel Psalmen man auf einmal lesen solle, wenn man in einer gewissen Zeit die ganze Bibel durchlesen will. Weil aber diese Weise 1) die Begriffe des Lesers zu viel zerreißt; weil sie 2) das Nachdenken unter dem Lesen zu viel niederschlägt und verhindert; weil sie 3) gar zu Menschengesetzlich ist; weil sie 4) noch die schädliche Wirkung hat, daß Viele, welche allemal ihre Capitelzahl ordentlich ablesen, darin eine eigene Gerechtigkeit suchen, oder es doch dabey bewenden lassen, ob sie schon weder für den Verstand, noch für den Willen einen Nutzen davon haben; und weil 5) Andere, die zuweilen die bestimmte Zahl der Capitel zu lesen verhindert werden, entweder das vorige ängstlich und in der größten Geschwindigkeit nachholen, oder gar das Bibellesen liegen lassen, so kann ich es niemand rathen, sich an solche Calender zu gewöhnen. Weit nützlicher ist es, wenn man die biblischen Bücher in ihrer eigenen Ordnung lieset, und zwar das neue Testament öfter, als das alte, und die wichtigsten und nöthigsten Bücher öfter, als die nicht so wichtig und nöthig sind. Auch ist es rathsamer, daß man diese Arbeit nicht bey der gewöhnlichen Morgen- und Abend-Andacht vornimmt, weil sie nicht andächtig und erwecklich genug für das Herz ist, und über das die genauere Einschränkung solcher Zeit nicht allemal gestattet, so viel auf einmal zu lesen, als die Verbindung der historischen und anderer Bücher und Capitel erfordert. Zu der Morgen- und Abend-Andacht schickt sich ohnedem die dritte Art zu lesen am besten, wovon bald soll geredet werden. Was aber die gegenwärtige oder erste Art anlangt, so kann man zuweilen einen oder mehrere Tage, wenn es andere Berufs-Geschäfte zulassen, dazu aussetzen, und ganze Bücher der heiligen Schrift durchlesen, so wie man manchmal bey dem Lesen menschlicher Bücher alle Nebenstunden anwendet, bis man sie zu Ende gebracht hat. Hierdurch wird der Zweck eines geschwinden Wissens, oder einer baldigen Wiederholung am besten erreicht werden, und ein andächtiger Leser behält dabey mehr Raum, sein Herz auch unter dem hurtigen Lesen in andächtigen Seufzern zu Gott zu erheben, und die Kraft Gottes, welche allezeit mit seinem Wort verbunden ist, an seiner Seele zu erfahren.

Die zweyte Art, welche ein tieferes Forschen zum Endzweck hat, besteht darin, daß man den wahren Sinn des Geistes Gottes zu erkennen bemüht ist, nicht nur in deutlichern, sondern auch, so viel möglich ist, in dunklern Stellen.

Diese Pflicht geht zwar fürnehmlich die Lehrer des göttlichen Worts an, aber andere Christen haben sie doch auch in ihrem Maaße zu beobachten, und es kann niemand in der Erkenntniß göttlicher Dinge recht bevestigt werden, es sey denn, daß er dieselbe in Uebung bringe.

Gleichwie aber die Sachen, welche ein tieferes Forschen von uns erfordern, von verschiedener Art sind, und entweder zu den Glaubenslehren, oder zu den Lebensregeln, oder zu den Wegen, Führungen und Gerichten Gottes bey einzelnen Seelen, oder zu seinen Wegen in Ansehung der Kirche gehören; also muß der größte Fleiß am meisten auf das nöthigste gewendet werden. Glaubenslehren sind das nöthigste, weil eine irrige oder unzugängliche Erkenntniß einen offenbar schädlichen Einfluß in den ganzen Wandel hat. Lebensregeln sind nicht weniger nothwendig, weil man ohne dieselbe das Gute und Böse nicht von einander unterscheiden lernt. Auf diese folgt die Führung einzelner Seelen, deren Erkenntniß aus der heiligen Schrift großen Vortheil bringt, aber schon viele geistliche Klugheit erfordert. Die Erkenntniß der Wege Gottes in Ansehung der Kirche setzt, nebst einer großen geistlichen Klugheit, auch ein ziemliches Maas von andern Wissenschaften voraus und begreift einen reichen Vorrath wichtiger Betrachtungen in sich. Die beyden ersten Punkte sind zum rechten Glauben und christlichen Wandel nothwendig; die beyden letztern aber sind nicht nothwendig, und der Herr theilt sie aus, wie und wem Er will.

Die heilige Schrift ist in allen nöthigen Dingen deutlich; folglich kommt man mit dem Forschen in dem, was uns nöthig ist, leicht durch. Sie hat aber auch ihre Dunkelheiten, entweder in Glaubens-Geheimnissen, oder in prophetischen Weissagungen, und verschiedenen andern Stellen, deren Erkenntniß nicht schlechterdings zur Seligkeit nothwendig ist. Bey den Glaubens-Geheimnissen muß man sich hüten, daß man die Art und Weise, worin die Möglichkeit derselben bestehe, nicht zu ergründen trachte. Man glaubt die Sache, weil sie Gott offenbaret hat, und wagt sich nicht mit seiner Vernunft in die Tiefe, welche wir ohnedem nicht erforschen, aber doch leichtlich auf Vorwitz und Irrthum gerathen könnten. Was die prophetischen und anderen Dunkelheiten anlangt, deren Erkenntniß uns nicht nöthig ist, so können diejenigen, die Zeit, Wissenschaft und Fähigkeit dazu haben, wohl darin mit Demuth forschen; den andern aber schadet es nicht, wenn sie solche Stellen übergehen, und sich blos aus deutlichen Stellen zu erbauen suchen.

Die Hauptregel in Erforschung des Sinnes der heiligen Schrift ist diese, daß man Schrift mit Schrift, das ist, die dunkle aus deutlicheren Stellen, zu erklären suche. Diese Regel ist es allein, welche uns gegen alle Mißdeutungen des göttlichen Worts sicher stellen kann, wenn man dabey eine redliche Absicht hat, und um den Geist der Erleuchtung fleißig betet.

Bey dem Forschen hat man Hülfsmittel nöthig, welche in der mündlichen oder schriftlichen Anweisung solcher Menschen bestehen, die ein größeres Maas des göttlichen Lichts und anderer nöthigen Wissenschaften besitzen. Dieser Mittel muß man sich bedienen. Wer nun einen Lehrer hat, dem Gott diese Gaben geschenkt, der thut wohl, wenn er ihn in solchen Dingen fragt, die er nicht versteht, da er denn durch einen treuen mündlichen Unterricht in einer Stunde mehr lernen kann, als durch eigenes Forschen in langer Zeit. Nebst dem hat Gott seiner Kirche die große Wohltat erwiesen, daß er viele Männer erweckt hat, welche uns schriftliche oder gedruckte Erklärungen der heiligen Schrift mitgetheilt haben. Hat man eine solcher Erklärung, so wird dadurch das Forschen ungemein erleichtert. Anstatt vieler andern kann Christoph Starkens Synopsis Bibliothecae exegeticae, oder kurzgefaßter Auszug der gründlichsten und nutzbarsten Auslegung über alle Bücher alten und neuen Testaments, zu diesem Zweck mit großem Nutzen gebraucht werden.

Die dritte Art zu lesen, welche allein auf eine andächtige Erbauung des Herzens gerichtet ist, hat vor den beyden vorhergehenden Arten einen großen Vorzug, und ist die nothwendigste. Weder bey dem geschwinden Lesen, noch bey dem tiefern Forschen, darf man den Zweck der Andacht und Erbauung aus den Augen setzen. Ein Liebhaber des göttlichen Worts findet allemal neue Erweckung und Nahrung für seine Seele, so oft er dasselbe lieset. Es ist aber dieses himmlische Wort so köstlich, und so ganz auf unsere Erbauung gerichtet, daß man es billig zum öftern in keiner andern Absicht betrachtet, als ganz allein Rührung, Erquickung, Trost und Heiligung für das Herz aus demselben zu haben.

Man kann zu dem Ende ein Buch der heiligen Schrift in der Ordnung fein langsam und bedächtlich lesen, und allemal, wo das Herz gerührt wird, stille stehen; oder man nimmt bald hier bald da eine Geschichte, oder ein Sprüchlein heraus, und ergötzt sich damit. Man thut solches bald in einer andächtigen Betrachtung, bald in kurzen Seufzern, worin man die Anwendung auf sich selbst macht. Zum Exempel, wenn man den Spruch Joh. 3,16 Also hat Gott die Welt geliebet etc., vor sich nimmt: so kann man erstlich den Worten ein wenig nachdenken, und darauf also zu Gott seufzen: Ach, mein Gott! du hast auch mich von Ewigkeit geliebet; du hast auch mir deinen eingebornen Sohn gegeben; Ach, Herr Jesu! du hast dich auch für mich verdammten Sünder in den Tod gegeben, und mich dadurch theuer erlöset. Ach, gib mir Gnade, daß ich recht an dich glaube, damit ich nicht verloren werde, sondern das ewige Leben erlange. Zuweilen wird unter solchen Seufzern eine größere Fülle der Gnade über uns ausgegossen, daß wir recht inbrünstig fortbeten können, da man dann billig dem heiligen Geist Raum läßt, was er darunter in dem Herzen wirken will. So wird das Wort recht unser eigen. So wird dieser göttliche Same in das Herz gesäet, untergeeget, oder mit dem Glauben vermenget, da er denn oft zu eben der Zeit schon Wurzel gefaßt, wächst und Früchte bringt.

Ich habe schon oben gesagt, daß sich diese Art des Lesens am besten zu der Morgen- und Abend-Andacht schicke; aber sie schickt sich auch in andern Stunden, in und außer den andern Berufsgeschäften, in Gesellschaften, und wenn wir allein sind, sonderlich wenn wir des Nachts aufwachen und schlaflose Stunden haben; auch in Krankheiten, da die Leibes- und Gemüthskräfte vieles Lesen und Forschen nicht zulassen. Kurz, es soll diese Art der Betrachtung unsere beständige Richtung des Geistes seyn. Man braucht da nicht allemal die Bibel vor sich zu nehmen, sondern kann sich nur an ein schönes Sprüchlein erinnern, und dasselbe mit stellen Seufzern vermischen. Wer sich so mit dem Worte Gottes unterhält, dem wird es lieber werden, als viel tausend Stück Gold und Silber, und süßer als Honig und Honigseim.

Ich könnte diese Anweisung leicht vollständiger ausführen, wenn ich mir nicht die Kürze vorgesetzt hätte. Folgt man diesen wenigen Regeln, so wird man aus der heiligen Schrift selbst das weitere lernen.

(…)

Der Herr lasse es seinem Wort gelingen, daß der Erdboden erfüllet werde mit seiner seligmachenden Erkenntniß, um Christi willen, Amen.

Geschrieben zu Frankfurt am Mayn
in der Herbstmesse 1751

Johann Philipp Fresenius,
der heiligen Schrift Doctor, des evangelischen Predigtamts Senior, Consistorialrath, und Prediger an der Hauptkirche zu den Barfüßern


Quelle: Die Bibel, oder die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Uebersetzung Dr. Martin Luthers

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