Emmerich, Friedrich Carl Timotheus - Am Neujahrstage.

Emmerich, Friedrich Carl Timotheus - Am Neujahrstage.

Text: 1. Korinth. 3,21-23.

Wenn auch die große Menge alles anwendet, um bei dem wichtigen Wendepunkte der Zeit, auf welchem wir heute stehen, jeden ernsten Gedanken von sich abzuhalten; wenn sie auch in betäubenden Lustbarkeiten, in wilder Zerstreuung, in einem oberflächlichen Zeremoniell Hilfe sucht gegen die stille Einkehr in das Innere, wozu der heutige Tag so kräftig uns auffordert; immerhin gibt es auch für den Weltmenschen bei dem Wechsel des Jahres Augenblicke, wo die unaufhaltbare rasche Flucht der Zeit, die Unbeständigkeit der menschlichen Dinge, die Unsicherheit seiner Hoffnungen und Wünsche, wo endlich das dunkle, schaudervolle Grab, welchem er mit jedem Jahre näher rückt, auf eine mahnende, bange, niederschlagende Weise unwillkürlich sein Gemüte ergreifen, sein Herz erschüttern, und mit Traurigkeit seine Seele umhüllen. Und wohl ist es mit Recht, dass der Weltmensch zittert bei dem schnellen Fluge der Zeit, und bei dem Anblicke der Unbeständigkeit aller zeitlichen Dinge; denn durch seinen Sinn, durch sein Trachten und Streben, durch seine Wünsche und Begierden hat er sich zum Knechte, zum Sklaven der Zeit gemacht, und sich selbst dahin gegeben dem Wechsel, der Unbeständigkeit, der Vergänglichkeit. Was er liebt, wonach er sich sehnt, was zu erjagen er strebt, das gibt, das versagt, das raubt ihm die Zeit; sein Glück und sein Unglück hängt ab von äußeren, zeitlichen, mithin auch der Vergänglichkeit unterworfenen Dingen: von der wechselnden Beschaffenheit seines Körpers, von der stets neu sich gestaltenden Lage der Umstände, von den Launen, den Leidenschaften der Menschen, von der früher oder später sich öffnenden Gruft. Und da er es gar wohl erkennt, wie wenig er Herr sei über alle diese wandelbaren Dinge, da sein Herz gar wohl es fühlt, dass er von ihnen abhängig geworden, dass er sich ihnen zum Sklaven verkauft habe, so sucht er, aber freilich vergebens, bei dem Beginn eines neuen, unbekannten Jahres, durch seine eitlen Wünsche, durch seine schwankenden Hoffnungen das Zeitliche festzuhalten, welches seinen Händen entrinnt, und das Glück zu beschwören, dass es doch sich an seine Seite gesellen möge. Aber nicht nur in den äußeren Gütern, welche er liebt, nicht nur in den äußeren Schicksalen, welche er fürchtet, ist der Weltmensch ein Sklave der Zeit: er ist es auch in seinem eigenen Innern. Denn da in seinem Herzen er nicht dem ewigen Gesetze des göttlichen Willens dient, sondern den wechselnden Trieben seiner irdischen Natur; da sein Geist nicht in Gott, dem Unvergänglichen, gewurzelt ist, sondern sich versenkt hat in das bunte, wandelbare Gewühl seiner Erden Seele, seiner Erdenlüste und seiner Erden-Ansichten, so wird er bald dieses, bald jenes wollen, bald dies bald jenes zu erhaschen, zu bewirken streben, bald da, bald dorthin seine Neigung richten, je nachdem das Blut rascher oder langsamer in seinen Adern rinnt, je nachdem der eine oder der andere Gegenstand sich seinen Augen darbietet, je nachdem endlich die äußeren Umstände oder die Regungen seines irdischen Wesens auf ihn einwirken. Es ist selten etwas Festes, Gediegenes, und nie etwas Ewiges in seinem Wollen, in seinem Streben; denn die Erdennatur, welcher er als Sklave sich dahin gegeben hat, ist in ihren Neigungen, so wie alles Irdische, dem Wechsel der Zeiten und der Jahre unterworfen. Sollte es uns also wundern, wenn ein neubeginnendes, unbekanntes Jahr, ihn mit bangen, ängstlichen Gefühlen erfüllt, wenn er durch Zerstreuung diese Gefühle zu betäuben, wenn er durch jegliches Mittel den schreckenden Gedanken von sich abzuhalten sucht, dass Alles was er liebt, wünschet, sich ersehnt, so wandelbar, so flüchtig sei, ja dass ihm dies Alles in dem neuen Abschnitte der Zeit, der sich vor ihm öffnet, von dieser Zeit könne geraubt, und vielleicht auf immer entrissen werden. Wie ganz ist dies anders bei dem echten Christen, bete dem, welcher durch Christus Gottes geworden ist, und durch diese Vereinigung mit Gott in Jesu Christo das ewige, unvergängliche, unwandelbare Leben schon hier in der Zeit empfangen hat. Er ist nicht mehr Sklave der Zeit, sondern die Zeit muss ihm dienen; es ist, nach dem Ausdrucke des Apostels, Alles sein, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges, es sei das Leben oder der Tod; es ist Alles sein, denn die Zeit kann ihm 1) nichts Anderes bringen, als Segnungen; sie kann ihn 2) nichts Anderes wollen machen, als was er schon jetzt will, und muss seinen Willen ins Werk setzen und vollenden; sie kann endlich 3) seinen Frieden nicht stören, sondern muss nur dazu dienen, diesen Frieden zu befestigen und zu vermehren.

Der echte Christ ist Herr der Zeit, und nicht ihr Sklave, denn sie kann ihm

1)

nichts Anderes mehr bringen als Segnungen. Und wie sollte dieses auch anders sein, meine Brüder, wenn wir von Christo gelernt haben; alle Schickungen, welche die Zeit herbeiführt, als Liebeserscheinungen unsers Gottes anzusehen, und aus den größern oder kleinern Ereignissen eines jeglichen Tages, aus seinen Freuden und seinen Schmerzen das Göttliche herauszufinden und uns anzueignen. Wer sich nicht an der äußeren süßen oder bittern Schale, an der äußeren hellen oder dunkeln Gestalt der Schicksale aufhält, sondern auf den Geist der göttlichen Liebe merkt, der aus diesen Gestalten spricht, auf den Ewigkeitskern, der in jener Schale verborgen liegt; wer also Glück und Unglück, Freude und Schmerz, Entbehrung und Besitz dazu benutzt, um seinen Gott in all diesen Dingen immer lebendiger zu erkennen, inniger zu lieben, fester ihn zu umfassen und von ihm durchdrungen zu werden: dem müssen alle diese Dinge, welche die Zeit herbeiführt, nur dazu dienen, seinem höchsten Ziele, der Vereinigung mit Gott an jedem Tage näher zu rücken; denn er ist es ja gewiss, dass nichts Zeitliches, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, dass keine Kreatur und kein Schicksal ihn scheiden kann von der Liebe seines Gottes, die in Jesu Christo ihm geoffenbart worden.

Darum, meine Brüder, hat einmal unser Herz sich also von Gott begnadigen lassen, dass es diesen seinen Gott auch in der Entbehrung, im Schmerze, in der Trauer zu suchen, zu finden und zu lieben versteht; ist es so groß geworden, dass es Alles will, was Gott in der Zeit ihm zusendet, und nichts will, was er in der Zeit ihm versagt, so brauchen wir nicht ängstlich und sorgend wie die Kinder der Welt, wie die Sklaven der Zeit an der Schwelle des neuen Jahres zu fragen: was wirst du uns bringen, du ernste, verhüllte Gestalt der kommenden Zeit? wirst du Freude oder Schmerz, wirst du Glück oder Unglück, wirst du Leben oder Tod uns darbieten, aus deinem verborgenen, geheimnisvollen Schoß? Nein, freudig in Gott, fest und gewiss in dem Geiste, liebend in unserm Herzen begrüßen wir die neue Zeit, die nichts als Segnungen uns bringen darf, die mit jedem Tage unsern Gott uns offenbaren wird, die uns nur näher, nur inniger und herzlicher mit ihm zu verbinden vermag. Und so wird das Gebet, welches ein zu hoher Vollkommenheit herangereifter Christusjünger des zehnten Jahrhunderts täglich aus der Fülle seiner Seele zu Gott hinaufsandte, es wird heute, beim Hinblick auf das beginnende Jahr, auch das unsrige sein: O! du mein Herr und mein Gott, nimm mich mir, und gib mich ganz zu eigen dir; Du mein Herr, gib alles mir, was mich fördert zu dir; Du mein Gott, nimm alles von mir, was mich abhält von dir!

Der Christ ist Herr, und nicht Sklave der Zeit, denn sie darf ihm nur Segnungen bringen; aber auch

2)

sie kann ihn nicht anders wollen machen, als was er schon jetzt will, und muss seinen Willen ins Werk sehen und vollenden. Der echte Christ will immer und überall nur Eines, nämlich was Gott will. Mit diesem ewigen Gotteswillen hat er den seinen vereint, verbunden, verschmolzen; daher auch die erhabene Einfalt, die aus seinem Wesen spricht, daher die schöne Harmonie seines Daseins, daher die feste, unverrückte Richtung auf einen einzigen Punkt, die in seinem Tun und Lassen, in seinem Reden und Schweigen sich äußert. Und diese Einheit, diese Festigkeit, diese Harmonie kann die Zeit nicht stören und abändern; denn, was sie auch bringen möchte, immer hat der Christ etwas zu tun, das diesem göttlichen Willen gemäß ist; es gibt keine Lage, kein Verhältnis, kein Geschäft, keine Erholung, in welcher er nicht darauf zu sinnen, dahin zu streben hätte, in Gottes Geist zu handeln, und als sein getreues Werkzeug seinen Willen zu vollbringen. Von diesem leitenden Sterne seines Wollens und seines Handelns könnte nicht die Zeit, und was sie ihm bringt, sondern nur die Untreue des eigenen Herzens ihn abwendig machen und abkehren. Freilich, die Zeit kann die äußere Gestalt unsers Handelns abändern, nicht aber den Geist, der aus unserm Handeln spricht, der unser Streben belebt. Das neue beginnende Jahr kann uns andere Geschäfte anweisen, als die bisherigen; es kann frühere Verbindungen, Verhältnisse und Lagen, in welchen wir wirkten, abändern, zerreißen, und neue anknüpfen; aber bei allem diesem Wechsel der äußeren Geschäfte und Lagen, bei all dieser Wandelbarkeit unsers äußeren Wirkungskreises, was bleibt uns unverändert und unangetastet von der Zeit? Die feste, treue, ewige Richtung unsers Willens auf Gott, nach welcher wir in jeder Lage und in jedem Kreise seinen Willen zu erkennen und nach besten Kräften ins Werk zu sehen suchen. Was bleibt uns? Der unerschütterliche siegende Glaube mit dem wir mutig alles beginnen und vollbringen was Gott von uns fordert, wenn auch Hindernisse auf Hindernisse sich uns entgegenstellen, wenn auch kein sichtbarer Erfolg unser Wirken belohnt. Was bleibt uns? Die reine, innige, herzliche Liebe zu Gott, zu Christus und den Brüdern, mit der wir in all unsern Verhältnissen und Verbindungen wirken, dulden, hoffen, entsagen und wohltun. Was bleibt uns? die ungeheuchelte Herzensdemut, womit wir es erkennen, dass Gott es ist, der in uns und durch uns das Gute wirkt, und dass ohne ihn wir so nichts, so gar nichts wären. Was bleibt uns endlich, die Vergessenheit unser selbst, die Entsagung, nach der wir nicht uns, sondern das Göttliche suchen, nach der wir uns willig bescheiden, wenn Gott unsere Kräfte lähmt, unsern Wirkungskreis einschränkt, unsere Tätigkeit hemmt, Gott jetzt zu loben und zu preisen durch unsere kindliche Unterwerfung, und durch unser frommes Dulden seinen Willen auszuüben, wenn er nicht Taten, sondern das Dulden von uns fordert. An jene treue, ewige Richtung unsers Willens zu Gott, an diesen Glauben und diese Liebe, an diese Demut und Entsagung, meine Brüder, reicht nicht die Gewalt der Zeit; dahin reicht weder das Gegenwärtige noch das Zukünftige, weder Leben noch Tod; nein, alles was die Zeit, alles was das kommende Jahr uns bringen mag, es kann uns nichts anderes wollen machen, als was wir schon jetzt wollen, wenn wir nämlich durch Christus Gottes geworden sind, oder vielmehr, es müssen alle die Geschäfte, die unser in dem beginnenden Jahre warten, es muss der Wechsel von Verbindungen, von Wirkungskreisen, von Lagen, der uns bevorsteht, nur dazu dienen, jene Richtung des Willens zu befestigen und in Taten übergehen zu lassen; jenen Glauben zu bewähren, jene Liebe zu üben, jene Demut zu prüfen, jene Entsagung wirklich ins Werk zu setzen.

Herr der Zeit ist der echte Christ, denn sie kann ihn nichts Anderes wollen machen, als was er jetzt will, was in alle Ewigkeit hin er wollen wird, ja sie muss selbst, durch alles, was sie herbeiführt, ihm dienen diesen seinen ewigen Willen ins Werk zu setzen und auszuüben, und so kann sie auch

3)

seinen Frieden nicht stören, sondern muss ihn nur vermehren und befestigen. Die Zeit, das jetzt sich uns öffnende Jahr kann uns bald Freude, bald Schmerz, kann was die Welt Glück oder Unglück nennt, uns zuführen. Dies sind Dinge, die den äußern, sinnlichen, irdischen Menschen angehen, und dieser äußere, sinnliche irdische Mensch ist der Zeit unterworfen. Wer daher, durch seinen weltlichen Sinn, durch sein sich selbst suchen, weiter nichts ist, als ein äußerer, sinnlicher, irdischer Mensch, der muss entweder leichtsinnig sich betäubend oder ängstlich sich kümmernd den Empfindungen entgegensehen, die das kommende Jahr ihm bringen wird; denn dieses Jahr kann ja Freude und Glück ihm versagen und rauben, kann Schmerz und Unglück ihm bereiten, und ein solcher Sohn und Sklave der Erde kennt weiter nichts als Freude und Schmerz, weiß von nichts als Glück und Unglück, und lässt von diesen Empfindungen und Gütern des äußeren Menschen sich beherrschen, sich unterjochen. Wer aber durch Christum Gottes geworden ist, dessen unsterblicher Geist, in welchem das Ebenbild Gottes sich ausgedrückt findet, hat sich emporgeschwungen über die äußere, sinnliche, der Zeit unterworfene Erdennatur; und durch sein Halten an Gott, durch die unsichtbare geistige Verbindung mit der Quelle des ewigen Lebens, fließt einem solchen in Gott seligen Menschen jener Friede zu, den die Welt gar nicht kennt, und nicht zu kennen vermag, jener Friede, der etwas ganz anderes, weit höheres ist, als Freude und Glück, jener Friede endlich im innersten Heiligtum der menschlichen Brust, an welchen auch Schmerz und Unglück nicht zu reichen vermögen. Dieser Friede ist das Bewusstsein unsers ewigen, über alles Zeitliche erhabenen Lebens; die Zuversicht unsers Vereintseins mit Gott, die Gewissheit, dass wir der Gegenstand sind seiner unergründlichen Liebe. Er wohnt nicht im äußeren Menschen, sondern in den tiefsten Gründen unsers Geistes. Er hebt weder die Empfindungen der Freude auf, noch die des Schmerzes; aber er erhebt uns über diese zeitlichen, vergänglichen Empfindungen des äußeren Menschen, und macht aus ihren Sklaven uns zu ihren Herren. Wir fühlen dann wohl den Schmerz, und dennoch haben wir Ruhe; es weint wohl das Auge, und dennoch ist es stille in der Tiefe des Herzens; wir trauern wohl nach dem äußeren Menschen, aber der im Innern ist selig in Hoffnung. Diesen Frieden Gottes, der uns zu Herren macht über die vergänglichen Erdengefühle, wir empfangen ihn nicht durch die Zeit, sondern durch die unbedingte kindliche Hingabe unsers Herzens an Gott, und die gänzliche Vereinigung unsers Willens mit dem seinigen. Und so wie die Zeit diesen Frieden nicht gibt, so kann sie ihn auch nicht rauben dem Herzen, das nicht von seinem Gott lässt. Im Gegenteile, da an jedem neuen Tage, in jedem neuen Jahre die Verbindung des Christenjüngers mit seinem Heiland, und durch ihn mit seinem Gott immer fester und inniger wird, so kann auch die Zeit, so kann auch dieses kommende Jahr bei ihm jenen Frieden nicht stören, sondern muss ihm nur dazu dienen, dieses Friedens immer teilhaftiger, immer inniger von ihm durchdrungen zu werden. Und nun, meine Brüder, kehrt ein in eure Herzen. fragt und prüft euch wie ihr es meint, denn von diesem Zustand eures Herzens, von der Richtung eures Willens hängt es ab, was das gegenwärtige Jahr euch bringen wird. Liebt ihr die Welt, lebet ihr im äußeren, irdischen, sinnlichen Menschen, sucht ihr euch, und nicht Gott, so müsst ihr es erwarten, von den unbekannten Schicksalen dieses Jahres beherrscht, unterjocht, als ein Spielball umbergeworfen zu werden, ohne freudige auf Gott sich stützende Hoffnung. Habt ihr aber der Welt entsagt, seid ihr durch Christum Gottes geworden, sucht, liebt ihr euern Gott von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, so ist alles euer, es sei gegenwärtig oder zukünftig, es sei Leben oder Tod; so habt ihr von diesem Jahre nichts als Segnungen zu erwarten; so kann es nur die ewige Richtung eures Willens auf Gott befestigen, und den Frieden Gottes in eurem Herzen immer völliger machen.

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