Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 11

Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 11

1 So sage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn ich bin auch ein Israeliter von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin. 2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen hat. Oder wisset ihr nicht, was die Schrift sagt von Elia, wie er tritt vor Gott wider Israel und spricht: 3 „Herr, sie haben deine Propheten getötet und haben deine Altäre zerbrochen; und ich bin allein übrig geblieben, und sie stehen mir nach meinem Leben“? 4 Aber was sagt ihm die göttliche Antwort? „Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal.“ 5 Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade. 6 Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist´ s aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre Verdienst nicht Verdienst.

V. 1. So sage ich nun usw. Was der Apostel bisher über die Blindheit und Widerspenstigkeit der Juden vorgetragen hat, kann leicht den Schein erwecken, als hätte Christi Ankunft die Juden von allem Anrecht auf die Seligkeit ausgeschlossen und Gottes Verheißungen auf andere Leute übertragen. Dieser falschen Ansicht tritt Paulus nunmehr entgegen. Was er über Israels Verwerfung gesagt, erfährt eine Einschränkung. Es soll nicht so gemeint sein, als wäre der Bund, welchen Gott einst mit Abraham geschlossen, gänzlich aufgehoben, oder als habe Gott aufgehört, Abrahams zu gedenken, so dass nun Israel ebenso weit von Gottes Reich entfernt wäre wie vor Christi Ankunft die Heiden. Die Frage ist also nicht, ob Gott ein Recht besessen habe, sein Volk zu verstoßen oder nicht. Diese Frage war bereits im vorigen Kapitel entschieden: hatte das Volk in irregeleitetem Eifer Gottes Gerechtigkeit verschmäht, so war es nur eine gerechte Strafe für die Selbstüberhebung, wenn Gott es verblendete und schließlich aus dem Bunde herausfallen ließ. Also auch der Grund der Verwerfung beschäftigt den Apostel an unserer Stelle nicht mehr. Vielmehr erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: es fragt sich, ob der Bund, welchen Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohl verdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, dass die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, dass sie also fest und unbeweglich stehen muss, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muss entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.

Denn ich bin auch ein Israeliter. Bevor Paulus in die Erörterung der Frage selbst eintritt, zeigt ein Hinweis auf seine eigne Person, wie töricht der Gedanke ist, dass Gott sein Volk verlassen haben könne. Paulus war Israelit von Geburt, nicht etwa erst als Proselyt neu in Israels Gemeinschaft aufgenommen. Gehörte er nun ohne Zweifel zu den hervorragendsten der auserwählten Knechte Gottes, so war dies ein Beweis, dass Gottes Gnade in Israel noch ihre Stätte besaß. Dass sich der Apostel nicht bloß einen Israeliten nennt, sondern außerdem hinzufügt von dem Samen Abrahams, aus dem Geschlecht Benjamin, geschieht nur, um seine wirkliche Abstammung aus Israel nachdrücklich zu betonen (vgl. Phil. 3, 4).

V. 2. Gott hat sein Volk nicht verstoßen. Die Antwort, die Paulus gibt, ist nur negativ und sehr vorsichtig. Der Apostel wäre mit sich selbst in Widerspruch geraten, wenn er bestritten hätte, dass das Volk verworfen sei. Aber wenn er das auch behauptet, so muss er doch eine Einschränkung machen: es kann sich nur um eine Verwerfung handeln, die doch Gottes Verheißungen nicht unwirksam macht! So kommt es dazu, dass die Antwort des Paulus zwei Teile hat: Gott hat nicht etwa im Gegensatz zur Zuverlässigkeit seines Bundes die ganze Nachkommenschaft des Abraham verworfen – und doch kommt die Kindschaft nicht in allen fleischlichen Nachkommen des Abraham zu ihrer Wirkung, weil hier Gottes verborgene Erwählung vorgeht. (Der erste Teil der Antwort steht in den Worten: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“, der zweite in der Einschränkung: „welches er zuvor ersehen hat“.) Die allgemeine Verwerfung kann also nicht hindern, dass einige Glieder der Nachkommenschaft unversehrt bleiben; denn der sichtbare Leib des Volkes war zwar abgetan, aber aus dem geistlichen Leibe Christi sollte dadurch kein Glied herausbrechen. Man könnte aber fragen, ob denn nicht die Beschneidung allen Juden als ein Zeichen der Gnade Gottes die Gewissheit verliehen hätte, zu Gottes Volk zu gehören. Darauf ist zu entgegnen: nein, die äußere Berufung ist ohne den Glauben unwirksam, und den Ungläubigen wird also die Ehre entrissen, die sie von sich gewiesen haben. Es bleibt also ein besonderes Volk, an dem Gott seine beständige Treue erweist, und den Ursprung dieses Volkes führt Paulus darauf zurück, dass Gott es zuvor ersehen hat. Es heißt nämlich hier nicht, dass Gott auf den Glauben schaut, sondern dass er mit vorbedachtem Rat das Volk nicht verwirft, dass er zuvor ersehen hat. Unter „Zuvorersehen“ ist dabei, wie schon zu 8, 29 ausgeführt wurde, kein bloßes „Zuvorwissen“ zu verstehen, sondern Gottes fester Beschluss, Menschen zu Kindern anzunehmen, die noch gar nicht geboren sind und deshalb aus sich nicht vermögen, sich an seine Gnade heranzumachen.

Nun verstehen wir, wie die Treue Gottes doch nicht hinfällt, wenn auch die allgemeine Berufung nicht ihre volle Frucht bringt: denn der Herr hält stets seine wahre Gemeinde aufrecht, solange noch einige Auserwählte übrig bleiben. Denn wenn Gott auch das ganze Volk unterschiedslos einlädt, so zieht er doch innerlich nur, die er als die Seinen kennt und die er seinem Sohne gegeben hat: ihnen wird er auch bis zum Ende ein treuer Hüter sein.

Oder wisset ihr nicht usw. Da die Zahl der an Christus gläubig gewordenen Juden eine so überaus geringe war, so lag der Schluss nahe, Abrahams ganzes Geschlecht sei verworfen, und in dieser Verwüstung sei kein einziges Anzeichen der göttlichen Gnade mehr zu entdecken. War die Kindschaft das heilige Band, welches Abrahams Kinder an Gottes Gemeinschaft fesselte, so musste ja dieses Band wohl zerrissen sein: anders ließ sich wenigstens die elende und unglückliche Zerstreuung des Volkes nicht erklären. Um diesen Anstoß zu beheben, bringt der Apostel ein durchschlagendes Beispiel. Er erinnert, dass zu Zeiten des Elia die Gemeinde Gottes völlig verwüstet und verschwunden schien. Jedes Anzeichen der Gnade Gottes war ausgelöscht: und doch blieb Gottes Gemeinde wie in einer Grabeshöhle verborgen und wurde dadurch wunderbar gerettet. Ob eine Gemeinde Gottes vorhanden sei, darf man also nicht nach dem äußeren Eindruck bemessen. Wenn dieser große Prophet, den Gottes Geist mit einem besonderen Scharfblick ausgerüstet hatte, in seinem Urteil über Gottes Volk sich so getäuscht sah, was werden wir dann erst mit unserer Kurzsichtigkeit ausrichten? Wir wollen lieber in aller Bescheidenheit schweigen und bedenken, dass Gottes verborgene Vorsehung seine Kirche schützt, auch wo alles verlorenscheint.

Wie er tritt vor Gott wider Israel. Das war gewiss ein hohes Zeichen für des Elias Eifer um den Herrn, dass er um Gottes Ehre willen nicht zögerte, wider sein Volk aufzutreten und um dessen gänzliche Vernichtung zu beten, da er glaubte, es sei alle Frömmigkeit und aller Dienst Gottes geschwunden. Und doch täuschte er sich, wenn er meinte, allein übrig geblieben zu sein unter dieser allgemeinen Flut von Gottlosigkeit. Damit versündigte er sich. Übrigens enthält die von Paulus zitierte Stelle kein ausdrückliches Gebet wider Israel, sondern nur eine Klage. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dass diese hoffnungslose Anklage tatsächlich darauf hinausläuft, Gott möge dies Volk verderben.

V. 4. Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann. Mag man auch diese Zahl nicht gerade so bestimmt verstehen, wie sie lautet, so will der Herr damit doch jedenfalls eine große Menge bezeichnen. Da also Gottes Gnade auch in der äußersten Verstörung ihre Kraft nicht verliert, so sollen wir nicht leichthin für Satanskinder halten, deren Frömmigkeit wir nicht sehen. Wir wollen nicht vergessen, dass auch in der überflutenden Gottlosigkeit und allgemeinen Verwirrung das Heil vieler Auserwählten unter Gottes Siegel verschlossen und behütet liegt. Auf der andern Seite darf man aus dieser Tatsache freilich auch keinen Vorwand für die eigne Trägheit ableiten und seine Fehler unter Gottes Heimlichkeit verstecken. Wir wollen zugleich den Finger darauf legen, dass die Seligkeit doch nur denen zugesprochen wird, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal, die also innerlich unversehrt und unbefleckt im Glauben an Gott stehen und auch nicht in äußerlichem Heuchelwerk ihren Leib dem Dienst der Götzen geweiht haben.

V. 5. Also geht es auch jetzt zu dieser Zeit. Jetzt folgt die Anwendung des Beispiels auf die gegenwärtige Lage Israels: auch gegenwärtig sind im Vergleich mit der ungeheuren Überzahl der offensichtlich Ungläubigen nur wenige Gläubige übrig geblieben. Dieser Ausdruck birgt zugleich eine Anspielung an die früher (9, 29) zitierte Jesaja-Stelle (Jes. 1, 9), welche zeigt, dass inmitten der traurigsten Verwüstung Gottes Treue noch leuchtet, die wenigstens einen Samen hat lassen übrig bleiben. Dieser durch Gottes Gnade gebliebene Rest ist ein Zeugnis für die Unwandelbarkeit der göttlichen Erwählung. Gottes Kraft ist es, welche ohne menschliches Verdienst diesen Rest festhält, wie ja schon das Wort des Herrn an Elia andeutet. Diese Wahrheit prägt Paulus auch hier ausdrücklich ein, wenn er sagt: nach der Wahl der Gnade.

V. 6. Ist´ s aber aus Gnaden, so ist´ s nicht aus Verdienst der Werke. Bei dem Gedanken von der freien Gnade verweilt die Rede noch etwas ausführlicher: Gnade und Verdienst der Werke bilden einen schneidenden Widerspruch. Wer das eine Stück aufrichtet, muss das andere verwerfen. Mag man daran denken, dass Gott unsere guten Werke im Voraus sehen oder dass er seine Gnade auf dieselben gründen soll, nachdem sie getan sind -, immer wird man sich in Widerspruch mit Pauli Lehre setzen, welche neben der Gnade dem Verdienst der Werke überhaupt keinen Raum verstattet. Gottes Gnade allein führt das Regiment; sie ist der ganze, nicht bloß der halbe Grund der Erwählung.

7 Wie denn nun? Was Israel sucht, das erlangte es nicht; die Auserwählten aber erlangten es. Die andern sind verstockt, 8 wie geschrieben steht: „Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, dass sie nicht sehen, Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.“ 9 Und David spricht: „Lass ihren Tisch zu einem Strick werden und zu einer Berückung und zum Ärgernis und ihnen zur Vergeltung. 10 Verblende ihre Augen, dass sie nicht sehen, und beuge ihren Rücken allezeit.“

V. 7. Wie denn nun? Was Israel sucht usw. Bei der Schwierigkeit der zur Verhandlung stehenden Frage drückt sich der Apostel wie zweifelnd und nachforschend aus. Dadurch sollte doch die nachfolgende Antwort umso gewisser werden. Wir sollen verstehen, dass eine andere gar nicht gegeben werden konnte. Diese Antwort lautet aber: Israel musste sich bei seinem Suchen nach der Seligkeit vergeblich abmühen, denn es befand sich auf einem falschen Wege, wie der Apostel bereits früher (10, 3) dargelegt hatte. Von dieser Masse des Volkes heben sich nun die Auserwählten ab, welche nicht aus eignem Verdienst selig werden, sondern durch Gottes freie Gnade. Sie waren von Natur nicht besser als die übrigen; aber Gottes Erwählung schuf einen Unterschied: Die Auserwählten erlangten es. Paulus stellt also ausdrücklich dem ganzen Israel jenen Rest des Volkes gegenüber, der aus Gottes Gnade das Heil erlangte. Daraus folgt, dass der Grund des Heils nicht im Menschen liegt, sondern von Gottes reinem Wohlgefallen abhängt.

Die andern sind verstockt. Wie allein die Auserwählten durch Gottes Gnade dem Verderben entrissen werden, so bleiben die, welche nicht erwählt sind, notwendig verblendet. Blickt Paulus auf die Verworfenen, so kommt ihr Untergang, ihre Verdammnis letztlich daher, dass sie von Gott sich selbst überlassen sind. Alle die verschiedenen Schriftstellen, welche Paulus zum Beweise dessen alsbald anführt, scheinen nun nach ihrem jeweiligen Zusammenhange sämtlich vorauszusetzen, dass diese Verstockung und Verhärtung eine Strafe Gottes sei, welche die gerechte Antwort auf die Untaten der Gottlosen gibt. Paulus aber behauptet hier vielmehr: nicht diejenigen werden verstockt, welche es um ihrer Bosheit willen verdient haben, sondern welche Gott vor Grundlegung der Welt verworfen hat. Dieser scheinbare Widerspruch hebt sich, wenn man bedenkt, dass der Ursprung der Gottlosigkeit, welche den Zorn Gottes reizt und zur Strafe aufruft, in der Verkehrtheit eben der Natur liegt, die Gott sich selbst überlassen hat. Deshalb zitiert Paulus ganz mit Recht diese Sprüche von der Gottlosen Bosheit und ihrer Strafe auch für die Wahrheit von der ewigen Verwerfung: denn diese Bosheit geht aus der Verwerfung hervor, wie die Früchte aus dem Baum und der Bach aus der Quelle. Gewiss werden die Gottlosen um ihrer Verbrechen willen durch ein gerechtes Gericht Gottes mit Blindheit gestraft; aber wenn man nach der letzten Quelle ihres Verderbens forscht, so wird man schließlich dabei anlangen: sie konnte infolge des Fluches, den Gott über sie verhängte, mit all ihrem Tun, Reden und Raten nur neuen Fluch sich zuziehen und aufhäufen. Im Übrigen ist der Grund der ewigen Verwerfung so verborgen, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als mit stummer Verwunderung vor Gottes unbegreiflichem Ratschluss still zu stehen. Dabei ist und bleibt es töricht, wenn man es unternimmt, vermittels der näheren Ursachen der Verwerfung (nämlich der Bosheit und des Unglaubens der Gottlosen) die entferntere und entscheidende Ursache, Gottes undurchdringlichen Ratschluss, zu verhüllen. Als ob Gott nicht in voller Freiheit vor Adams Fall über das ganze Menschengeschlecht beschlossen hätte was ihm gut schien!

V. 8. Gott hat ihnen gegeben einen Geist usw. Ohne Zweifel beruft sich hier Paulus auf eine Stelle des Jesaja (Jes. 6, 9-10), welche auch Lukas einmal zitiert hat (Apg. 28, 26). Doch führt er dieselbe nicht wörtlich, sondern mit einigen Veränderungen an. Es liegt ihm eben nur an dem Sinne: Gott hat Israel einen Geist der Verbitterung gesandt, so dass es äußerlich sieht und hört, und doch nichts vernimmt. Ganz aus seinem eignen fügt Paulus hinzu: bis auf den heutigen Tag. Denn es soll niemand glauben, dass diese Weissagung schon zur Zeit des Propheten erfüllt worden sei, also nicht mehr auf die Zeit, da das Evangelium geoffenbart ward, bezogen werden dürfe. Die Verstockung, von welcher der Prophet spricht, hat nicht nur einen Tag gewährt, sondern hat unter der unheilbaren Hartnäckigkeit des Volkes bis auf Christi Ankunft und darüber hinaus angehalten.

V. 9. Und David spricht usw. Auch diese Worte Davids führt der Apostel etwas verändert an, aber ohne Abweichung vom ursprünglichen Sinne. Der heilige Sänger ruft auf die Gottlosen Gottes Strafe herab: was sonst im Leben wünschenswert und beglückend ist – David nennt beispielsweise ihren Tisch – soll ihnen zum Sturz und Verderben ausschlagen. Er wünscht ihnen an, dass ihr Geist verdunkelt und ihre Kraft gebrochen werden möge. Dies wollen die Worte besagen (V. 10): Verblende ihre Augen, beuge ihren Rücken! Dass dieser Spruch, der von Davids Feinden handelt, auf das Verhältnis der Juden zu Christus gedeutet wird, versteht man, wenn man sich erinnert, dass David ein Vorbild Christi war. Was hier David erbittet, wird alle Feinde Christi treffen: ihre Speise wird in Gift verwandelt, denn das Evangelium ist ihnen ein Geruch des Todes zum Tode. Welche Mahnung, mit Demut und Zittern Gottes Gnade zu umfassen!

11 So sage ich nun: Sind sie darum angelaufen, dass sie fallen sollten? Das sei ferne! Sondern aus ihrem Fall ist den Heiden das Heil widerfahren, auf dass sie denen nacheifern sollten. 12 Denn so ihr Fall der Welt Reichtum ist, und ihr Schade ist der Heiden Reichtum, wie viel mehr, wenn ihre Zahl voll würde? 13 Mit euch Heiden rede ich; denn dieweil ich der Heiden Apostel bin, will ich mein Amt preisen, 14 ob ich möchte die, so mein Fleisch sind, zu eifern reizen und ihrer etliche selig machen. 15 Denn so ihre Verwerfung der Welt Versöhnung ist, was wird ihre Annahme anderes sein als Leben von den Toten?

V. 11. Sind sie darum angelaufen usw. Das Verständnis dieser ganzen Erörterung wird man sich sehr erschweren, wenn man nicht beachtet, dass der Apostel bald von dem jüdischen Volk als Ganzem, bald von einzelnen Personen redet. So kann er einmal sagen, dass die Juden gegenwärtig aus Gottes Reich ausgeschlossen sind, abgeschnitten vom Baum, durch Gottes Gericht ins Verderben gestürzt. Das andere Mal aber kann es heißen: sie sind nicht aus der Gnade gefallen, bleiben vielmehr im Besitz des Bundes und behaupten ihren Platz in Gottes Gemeinde. Diese Unterscheidung liegt auch den gegenwärtigen Sätzen zugrunde. Denn da der allergrößte Teil der Juden sich von Christus abwandte, so dass dieses verkehrte Wesen fast im ganzen Volke die Herrschaft gewann und nur wenig rechter Sinn sich noch vorfand -, so lautet die Frage in Bezug auf das ganze Volk, ob dasselbe denn derartig an Christus angelaufen sei (9, 33), dass sein Schicksal als Volk nun endgültig entschieden wäre und keine Hoffnung auf Buße mehr bestünde? Die Antwort bezieht sich dann aber auf die Einzelnen: die Juden haben die Seligkeit nicht etwa völlig verscherzt, sie sind auch nicht derartig von Gott verworfen, dass jede Wiederherstellung ausgeschlossen oder der göttliche Gnadenbund völlig zerbrochen wäre. Denn es blieb in diesem Volke immer der gesegnete Same. So versteht man den scheinbaren Gegensatz, dass zuerst von Verstockung und völliger Verwerfung die Rede war, und dass jetzt doch eine Hoffnung auf einen Wiederaufbau gegeben wird. Die hartnäckig wider Christus anliefen, sind also gefallen und ins Verderben gegangen. Und doch ward die Hoffnung des Volkes nicht derartig vernichtet, dass notwendig jeder Jude verloren oder von Gott verstoßen sein müsste.

Sondern aus ihrem Fall ist den Heiden das Heil widerfahren. Zweierlei sagt der Apostel hier aus: erstens sind die Juden zum Heil der Heiden gefallen; zweitens aber hatte dies den Zweck, dass sie durch die Berufung der Heiden zur Eifersucht gereizt und so auf den Gedanken an ihre eigne Bekehrung gebracht werden sollten. Ohne Zweifel spielt die Rede auf den zuvor (10, 19) schon angeführten Spruch des Mose an (5. Mose 32, 21). Israel soll zur Nacheiferung angeregt werden, wenn es die Heiden sich vorgezogen sieht. Also war es Gottes Absicht nicht, einen ewigen Sturz dieses Volkes herbeizuführen. Dem Segen Gottes, welchen Israel verachtete, sollte nur eine Bahn zu den Heiden gemacht werden. Und dies sollte wiederum den Anstoß geben, dass Israel den Gott suchen möchte, von welchem es abgefallen. Wenn die Juden sahen, wie Heiden an ihre Stelle traten, sollte der Schmerz über ihre Verwerfung sie treiben, sich nach Versöhnung auszustrecken.

V. 12. Denn so ihr Fall usw. Paulus hatte gesagt, dass nach der Verwerfung Israels die Heiden an dessen Stelle getreten wären. Daraus hätten die Heiden vielleicht den Schluss ziehen können, dass für ihre eigne Seligkeit nur bei Israels Fall Raum bleibe. Dann hätten sie wahrscheinlich den Juden eine Wiederherstellung nicht gegönnt. Deshalb kommt der Apostel einer solchen falschen Ansicht zuvor und verkehrt dieselbe von vornherein in ihr Gegenteil: nichts kann mehr dazu beitragen, die Seligkeit der Heiden zu befördern, als wenn Gottes Gnade auch über Israel groß und reich ist. Der Beweis steigt von dem geringeren zum größeren Stücke empor: wenn der Fall der Juden die Heiden aufrichten und ihr Schade sie reich machen konnte, wie viel größeren Segen wird es dann stiften, wenn ihre Zahl voll würde! Das erste war ja eigentlich widernatürlich, das andere würde sich naturgemäß erwarten lassen. Hätten die Juden das Wort Gottes angenommen, so würde aus ihrem Glauben eine viel größere Frucht erwachsen sein als aus ihrem Unglauben, welcher den Heiden eine Tür öffnete. Welche Bestätigung hätte Gottes Wahrheit gefunden, wenn man die Weissagungen sich hätte in Israel erfüllen sehen! Und eine Verkündigung des Evangeliums von Seiten der Juden hätte ja ganze Scharen gewinnen müssen, während jetzt ihr hartnäckiger Unglaube vielmehr anstößig und abschreckend wirken musste.

V. 13. Mit euch Heiden rede ich. Ein durchschlagender Grund dafür, dass den Heiden nichts abgeht, wenn Gott die Juden wieder in seine Gnade aufnimmt. Die Seligkeit beider Teil ist so eng miteinander verknüpft, dass ein und dieselbe Arbeit dazu dienen kann, beider Heil zu fördern. So kann Paulus den Heiden sagen: ich bin im Besonderen euer Apostel, deshalb muss ich alles andere lassen und alle meine Mühe daran wenden, für eure Seligkeit zu arbeiten, die mir aufs Herz gelegt ward. Das werde ich aber umso lieber tun, wenn ich dadurch einige aus meinem Volke für Christus gewinnen kann. Dies wird dann zum Ruhm und Preis meines Amtes und zugleich zu eurem Besten dienen.

V. 14. Ihrer etliche selig machen. In einem gewissen Sinne darf ein Diener des Wortes, welcher Menschen zum Gehorsam des Glaubens führt, seine Tätigkeit mit diesem Ausdruck beschreiben. Dabei müssen wir aber festhalten, dass alle Kraft und Wirksamkeit, selig zu machen, von Gott ausgeht, und dass ihm allein die Ehre gebührt. Aber die Predigt ist das Mittel, durch welches das Heil der Gläubigen gewirkt wird. Kann dasselbe auch ohne Gottes Geist nichts ausrichten, so erweist es sich doch überaus kraftvoll, wenn Gottes Wirkung dahinter steht.

V. 15. Denn so ihre Verwerfung usw. Noch einmal wiederholt der Apostel den bereits (V. 12) ausgesprochenen Gedanken: hat schon die Verwerfung der Juden den Anlass zur Versöhnung der Heiden geben müssen, wie viel größere Segenskraft wird ihre Wiederaufnahme in sich bergen! Sollte sie nicht Leben schaffen, wo Tod war? Damit sollen die Heiden den Gedanken vollständig fahren lassen, als würden sie herabgedrückt, wenn auch Israel sich zur Gnade wendet. Sie brauchen nicht neidisch zu werden. Denn der Gott, der aus dem Tode das Leben und aus der Finsternis das Licht wunderbar empor führt, wird vielmehr die Auferstehung seines gleichsam erstorbenen Volkes den Heiden zum Leben dienen lassen. Wir denken dabei an die gegenwärtige Auferstehung, welche uns aus dem Reiche des Todes in das Reich des Lebens versetzt. Dagegen sagen allerdings einige Ausleger, dass eine so verstandene Auferstehung sich von der Versöhnung nicht unterscheide, vielmehr beides dasselbe sei. Dies ist sachlich auch richtig: aber die Ausdrucksweise ist das zweite Mal erhabener.

16 Ist der Anbruch heilig, so ist auch der Teig heilig; und so die Wurzel heilig ist, so sind auch die Zweige heilig. 17 Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, da du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Safts im Ölbaum, 18 so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass du die Wurzel nicht trägst, sondern die Wurzel trägt dich. 19 So sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen, dass ich hineingepfropft würde. 20 Ist wohl geredet! Sie sind ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du stehest aber durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. 21 Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, dass er vielleicht dich auch nicht verschone.

V. 16. Ist der Anbruch heilig usw. Nunmehr stellt der Apostel die Würde der Juden und der Heiden einander gegenüber. Damit will er den letzteren alle Überhebung austreiben und sie dazu bringen, sich zufrieden zu geben. Ergibt sich doch, dass sie aus sich selbst durchaus keinen Vorzug vor den Juden geltend machen können. Wer auf solche angebliche Vorzüge sich verlassen will, dessen Sache ist von vornherein verloren. Dabei sind die Einzelnen darin alle gleich, dass sie von Natur überall als Kinder Adams dastehen. Nur dies begründet einen Unterschied, dass die Juden von den Heiden abgesondert und zu Gottes besonderem Eigentumsvolk gemacht waren. Sie waren also durch ein heiliges Bündnis geheiligt und in einen besonders edlen Stand erhoben, dessen Gott die Heiden zu jener Zeit noch nicht gewürdigt hatte. Nun war freilich in der Gegenwart die Kraft des Bundes nahezu erloschen. Darum lenkt der Apostel unsere Blicke auf seine Anfänge zurück, auf Abraham und die Erzväter überhaupt, bei welchen doch sicher Gottes Segen nicht leer und vergeblich geblieben war. Und er zieht den Schluss, dass von ihnen her ein heiliger Stand sich auf alle Nachkommen vererbt habe. Das lässt sich freilich nicht im Hinblick auf Personen sagen, wohl aber im Hinblick auf die einmal gegebene Verheißung, die unmöglich unwirksam sein kann. Der Vorfahr konnte nicht eine persönliche Rechtbeschaffenheit auf seine Nachkommen vererben. Aber weil Gott sich den Abraham mit der Absicht heiligte d. h. zum Eigentum nahm, dass auch sein Name sein heiliges Eigentum sein sollte, so wurde dem ganzen Volk eine besondere, heilige Stellung in Gottes Nähe zuteil. Darum schließt der Apostel ganz richtig, dass in ihrem Vater Abraham alle Juden geheiligt sind. Zum Belege dieser Wahrheit bringt er zwei Gleichnisse bei, das erste aus den vom Gesetz verordneten Zeremonien, das andere aus der Natur. Das Erstlingsbrot, welches man darbrachte, sollte ja dazu dienen, dass der ganze Teig als heilig gelten konnte (4. Mose 15, 19-21). Ebenso steigt aus der Wurzel die Kraft des Saftes in die Zweige. In dem gleichen Verhältnis aber, wie der Teig zu seinem Anbruch und die Zweige zum Baum, stehen die Nachkommen zu den Häuptern des Geschlechts. So begreift es sich, dass die Juden in ihrem Stammvater geheiligt wurden. Darin ist gar nichts Anstößiges, wenn man nur, wie gesagt, unter Heiligkeit lediglich die geistliche Vorzugsstellung des Volkes versteht, die sich nicht auf eine Naturbeschaffenheit gründet, sondern auf das göttliche Bundesverhältnis, welches sie über die Natur emporhob.

V. 17. Ob aber nun etliche von den Zweigen usw. Damit kommt der Apostel auf die gegenwärtige Stellung der gläubig gewordenen Heiden zu sprechen: dieselben sind die Zweige, welche irgendwoher entnommen und in einen edlen Baum eingepfropft wurden. Die Heiden stammen gleichsam von einem Wald-Ölbaum, der keine genießbaren Früchte trägt: denn in ihrer ganzen Art fand sich nichts als Vermaledeiung. Was sie also Rühmenswertes haben, das rührt von ihrer neuerlichen Einpflanzung her, nicht von ihrem alten Stamm. Sie haben deshalb gar keinen Grund, sich über die Juden zu erheben. Und wie milde redet dabei Paulus über Israel! Er sagt nicht, dass die ganze Oberfläche des Baumes vertilgt, sondern nur dass etliche von den Zweigen ausgebrochen sind. An ihrer Statt hat dann der Herr in den heiligen und gesegneten Stamm einige Zweige eingepfropft, die er hier und dort aus den Heiden entnahm.

V. 18. Rühmst du dich aber wider sie usw. Einen Vorzug vor den Juden könnten die Heiden nur dann behaupten, wenn sie sich auch über Abraham erheben wollten. Das aber wäre doch gar zu verkehrt, weil er ja die Wurzel ist, welche sie trägt, und aus welcher sie das Leben empfangen. Ist es also töricht, wenn Zweige sich über die Wurzel erhaben dünken, so ist es auch töricht, wenn die Heiden gegenüber den Juden einen besonderen Ruhm beanspruchen.

V. 19. So sprichst du usw. Paulus legt den Heiden in den Mund, womit sie sich etwa gegen Israel rühmen könnten. Damit war es aber derartig bestellt, dass viel mehr ein Anlass zur Demut als zum Stolz daraus erwuchs. Denn wenn die Juden um ihres Unglaubens willen ausgebrochen, die Heiden durch den Glauben eingepfropft wurden, so kann man daran doch nur Gottes Gnade erkennen und sich zur Demut und Unterwerfung schicken. Demütigung und heilige Scheu folgt ja unmittelbar aus der Natur des Glaubens. Also: Sei nicht stolz, sondern fürchte dich! Natürlich ist nicht eine Furcht gemeint, welche mit der Gewissheit des Glaubens streitet. In diesem Sinne soll unser Glaube keine Furcht und zweifelnde Unsicherheit kennen. Der Apostel will nur, dass unser Geist mit einer doppelten Betrachtung und infolgedessen mit einer doppelten Gesinnung sich erfülle. Wir sollen zuerst die elende Verfassung unserer Natur stetig betrachten: und wir werden daraus nur Schrecken, Abscheu, Angst und Verzweiflung schöpfen. Daraus wird dann zweitens folgen, dass wir uns in gänzlicher Zerknirschung demütigen, bis wir endlich unsere Seufzer zu Gott empor schicken. Bei alledem wird der Schrecken, den uns die Einsicht in unser eignes Wesen erregt, nicht hindern, dass unsere Seele Vertrauen auf Gottes Güte fasst und vollen Frieden gewinnt. Der Abscheu kann nicht hindern, dass wir in Gott einen festen Trost genießen; Angst und Verzweiflung werden uns nicht die klare Freude und Hoffnung im Herrn rauben. Furcht verlangt der Apostel nur als Gegengewicht gegen eine hochfahrende Sicherheit. Wenn wir aber weiter (V. 21) die Drohung vernehmen, dass Gott vielleicht der Hochmütigen nicht schonen werde, wie er Israels nicht geschont hat, so soll damit die Gewissheit unseres Heils nicht etwa erschüttert werden. Die Mahnung richtet sich nur wider den Übermut des Fleisches, der sich auch bei den Kindern Gottes noch vielfach bemerkbar macht. Zuletzt möchte ich mit besonderem Nachdruck wiederholen, dass die ganze Darlegung weniger auf einzelne Menschen, als vielmehr auf die Schar der Heiden als ein Ganzes zielt: unter dieser Masse konnten viele aufgeblasene Menschen sein, welche den Glauben mit dem Munde bekannten, aber nicht im Herzen trugen. Um ihretwillen droht Paulus den Heiden die Abschneidung an.

V. 21. Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont usw. Dieser entscheidende Grund muss jedes falsche Selbstvertrauen niederschlagen. Wir können an die Verwerfung der Juden nicht erinnert werden, ohne dass uns eine tiefe und erschütternde Furcht ergreift. Denn was war sonst der Grund zu ihrem Sturz, als dass sie ihrer Würde gar zu hochmütig sicher wurden und das Gericht Gottes zu verachten anfingen? Ihrer wurde nicht geschont, obgleich sie natürliche Zweige waren. Wie wird es also erst uns wilden, gar nicht ursprünglich zum Baume gehörigen Zweigen ergehen, wenn wir zu hochmütig werden? Diese Betrachtung soll uns anleiten, uns selbst zu misstrauen, zugleich aber, uns umso kräftiger auf Gottes Güte zu verlassen.

22 Darum schau die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst an denen, die gefallen sind, die Güte aber an dir, soferne du an der Güte bleibst; sonst wirst du auch abgehauen werden. 23 Und jene, so sie nicht bleiben in dem Unglauben, werden eingepfropft werden; Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. 24 Denn so du aus dem Ölbaum, der von Natur wild war, bist abgehauen und wider die Natur in den guten Ölbaum gepfropft, wie viel mehr werden die natürlichen eingepfropft in ihren eigenen Ölbaum.

V. 22. Darum schau usw. Jetzt stellt Paulus seinen Lesern die Sache selbst vor Augen und zeigt und bekräftigt damit umso deutlicher, dass die Heiden keinen Grund zum Stolz haben. Sehen die Heiden an Israel ein Beispiel der göttlichen Strenge, so haben sie nur Anlass, zu zittern. Haben sie an sich selbst Gottes Gnade und Güte erfahren, so ist ihnen dies nur ein Grund, Gott zu danken und ihn zu rühmen, nicht sich selbst. Es ist, als riefe uns Paulus mit diesen Worten zu: willst du um des Unheils über die Juden willen dich schadenfroh und übermütig gebärden, so denke zuerst daran, was du gewesen bist. Denn dieselbe Strenge Gottes schwebte auch über dir, und nur seine freie Gnade hat dich herausgerissen. Weiter erwäge, was du auch jetzt noch bist: du hast die Seligkeit nur darin, dass du Gottes Erbarmen in aller Demut anerkennst. Vergisst du dies und wirst stolz, so wartet deiner derselbe Sturz, in welchen jene gefallen sind. Denn es genügt nicht, Gottes Gnade einmal ergriffen zu haben: man muss während des ganzen Lebens seinem Rufe folgen. Wer einmal von Gott erleuchtet ward, muss stets darauf sinnen, dass er Bestand behalte. Denn wer nur eine Zeitlang dem Rufe Gottes innerlich Antwort gab, dann aber des Himmelreichs überdrüssig wird, bleibt nicht in Gottes Güte stehen und erfährt ob seiner Undankbarkeit von neuem wohlverdiente Verstockung.

Sonst wirst du auch abgehauen werden. Diese Drohung mit dem Abgehauenwerden könnte verwunderlich erscheinen: denn kurz zuvor hatte der Apostel gesagt, die Betreffenden seien durch Gottes Erwählung in den Baum eingepfropft. Damit durften und mussten sie doch eine feste Hoffnung auf das ewige Leben fassen. Nun kann freilich ein wirklich Erwählter nicht aus der Gnade fallen: aber die Auserwählten bedürfen noch der Ermahnung, damit der Hochmut ihres Fleisches gezügelt werde. Dieser schlimmste Feind unserer Seligkeit muss wirklich durch die Furcht vor der Verdammnis ausgetrieben werden. Sofern also einem Christen das Licht des Glaubens leuchtet, vernimmt er das Wort (9, 29): „Gottes Gaben und Berufung mögen ihn nicht gereuen.“ So wird er seines Heils ganz gewiss. Sofern er aber noch im Fleische steckt, dessen Zügellosigkeit sich nur zu leicht wider die Gnade auflehnt, muss er zu seiner Demütigung hören: Siehe wohl zu, dass du nicht fallest! Im Übrigen wollen wir bedenken, dass Paulus hier nicht in erster Linie an jeden einzelnen Auserwählten, sondern mehr an die Heiden im Ganzen sich wendet, welche an die Stelle der Juden getreten waren. Unter dieser Masse aber befanden sich viele, die nur dem Namen nach, aber nicht in Wahrheit Glieder Christi waren. Fragt man bezüglich der einzelnen Personen, wie einer wieder abgehauen werden kann, nachdem er bereits eingepfropft, und wie er wieder eingepflanzt werden kann, nachdem er abgehauen, so wird es zur Erklärung dienlich sein, dass wir eine dreifache Einpfropfung und eine doppelte Abschneidung unterscheiden. Eingepfropft werden zuerst die Kinder der Gläubigen, welchen Gott sein Versprechen einlösen muss, weil er einen Bund mit ihren Vätern geschlossen. Eingepfropft werden weiter, die zwar den Samen des Evangeliums aufnehmen, aber keine Wurzel schlagen lassen, oder ihn ersticken, bevor er Frucht bringt. Eingepfropft im eigentlichsten Sinne werden endlich, welche auf Grund des unveränderlichen göttlichen Ratschlusses die Erleuchtung zum ewigen Leben empfangen. Die zuerst Genannten werden abgehauen, wenn sie die ihren Vätern gegebene Verheißung von sich stoßen oder in ihrer Undankbarkeit sich nicht zueignen. Die an zweiter Stelle Genannten werden abgehauen, wenn der Same des Evangeliums in ihnen vertrocknet und verdirbt. Da nun diese Gefahr von Natur allen ohne Unterschied droht, so zielt diese Ermahnung des Paulus zugleich auch in irgendeinem Maße auf die Gläubigen: sie sollen aus fleischlicher Stumpfheit aufgerüttelt werden. Alles in allem: der Apostel kündigt den Heiden dieselbe Strafe Gottes an, welche über die Juden ergangen ist -, für den Fall, dass sie dieselben Wege des Unglaubens gehen.

V. 23. Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. Auf ungläubige Menschen würde diese Erinnerung gar keinen Eindruck machen. Sie lassen ja dem Herrn im Allgemeinen seine Macht, geben sich aber der Stimmung hin, als sei diese Macht ferne im Himmel verschlossen und komme nicht zu kraftvoller Tat hervor. Sobald aber die Gläubigen von dem hören, was Gott kann, rechnen sie damit, dass er es alsbald und in unmittelbarer Gegenwart tun wird. Der Apostel darf erwarten, dass solchen Leuten seine Erinnerung einen heilsamen Anstoß geben werde. Außerdem wollen wir anmerken, wie fest dem Apostel der Grundsatz steht, dass Gott bei aller Züchtigung seines Volkes der Gnade doch nie vergessen kann. Oftmals hat der Herr, der sein Volk aus seinem Reiche verstoßen zu haben schien, demselben eine Erneuerung geschenkt. Und der gegenwärtige Zustand muss sich doch viel leichter ändern lassen, als er sich herstellen ließ (V. 24). Denn natürliche Zweige, welche man wieder an die Stelle pfropft, von welcher man sie abgeschnitten, müssen doch viel leichter den Saft ihres eignen Baumes wieder ansaugen, als wilde und unfruchtbare Zweige dies bei einem ihnen fremden Baume können. In diesem Verhältnis standen aber die Heiden zu den Juden.

25 Ich will euch nicht verhalten, liebe Brüder, dieses Geheimnis (auf dass ihr nicht stolz seid): Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren solange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei 26 und also das ganze Israel selig werde, wie geschrieben steht: „Es wird kommen aus Zion, der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob. 27 Und dies ist mein Testament mit ihnen, wenn ich ihre Sünden werde wegnehmen.“

V. 25. Ich will euch nicht verhalten. Der Apostel spannt die Aufmerksamkeit seiner Hörer noch höher, indem er gewissermaßen ein Geheimnis ankündigt. Er verfährt so mit bewusster Überlegung: denn er will die Erörterung dieser ganzen schwierigen Frage mit einer kurzen und deutlichen Aussprache schließen, die doch überraschend kommen musste. Dabei zeigt der Zusatz: „auf dass ihr nicht stolz seid“, - worauf des Apostels Absicht zielt: der Stolz und die Selbstüberhebung der Heiden gegenüber den Juden soll gebeugt werden. Diese Aussprache war nötig, wenn nicht schwache Gemüter an dem Abfall dieses Volkes Anstoß nehmen und auf den Gedanken kommen sollten, es sei nun um die Seligkeit aller Volksgenossen geschehen. Auch in unserer Zeit wollen wir ja nicht vergessen, dass für den Rest, welchen Gott noch endlich zu sich sammeln will, das Heil gleichsam unter einem festen Siegel verwahrt liegt. Freilich könnte es manchen zur Verzweiflung treiben, dass solches Heil so lange verzieht. Darum spricht Paulus von einem „Geheimnis“. Mit dieser Bekehrung wird es also nicht gehen wie mit jeder anderen; man darf sie nicht nach der gewöhnlichen Erfahrung beurteilen. Denn was kann verkehrter sein, als nicht glauben wollen, was sich unsern Sinnen entzieht! Eben deshalb ist es ein Geheimnis, weil es verborgen und unbegreiflich bleibt, bis es enthüllt wird. Nun ward es uns mitsamt den Römern kundgetan, damit unser Glaube sich mit dem Worte der Verheißung begnügen und darauf hoffen möchte, bis es klar und hell erfüllt wird.

Blindheit ist Israel zum Teil widerfahren. Das soll nicht heißen, dass nur ein Teil des Volkes verstockt sei, oder dass die Verstockung einen bestimmten Teil von Zeit währen solle. Die Worte „zum Teil“ sind lediglich ein anderer Ausdruck für „gewissermaßen“. Die an sich harte Aussage von Israels Verstockung soll dadurch etwas gemildert werden. Ebenso heißt bis die Fülle der Heiden eingegangen sei nur etwa: damit sie eingehe. Einen bestimmten Zeitverlauf, nach welchem etwa die Verstockung ein Ende haben solle, will Paulus nicht angeben. Der Sinn ist: Gott hat den Juden eine Art Verstockung auferlegt, damit das Evangelium, welches sie verschmähen, nunmehr zu den Heiden übergeleitet werde, und diese an die leer gewordene Stelle treten können. So dient Israels Verblendung dazu, dass Gottes Vorsehung den Heiden die Seligkeit bringen kann, die sie ihnen zugedacht hat. Dabei deutet die „Fülle“ auf ein ungeheures Zusammenströmen von Heiden. Schlossen sich doch nicht bloß, wie bisher, einige Proselyten an Israel an, sondern das Verhältnis erschien derartig auf den Kopf gestellt, dass die Hauptmasse der Gemeinde Heiden bildeten.

V. 26. Und also das ganze Israel selig werde. Viele meinen, der Apostel wolle hier dem jüdischen Volk in Aussicht stellen, dass der frühere Zustand seines Religionswesens wieder eingerichtet werden solle. Ich verstehe dagegen unter „Israel“ lieber das gesamte Volk Gottes. Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich werden eingegangen sein, und zugleich auch die Juden aus ihrem Abfall sich zum Gehorsam des Glaubens sammeln werden, dann wird die Seligkeit des ganzen Israel Gottes, welches er aus beiden sich sammeln will, ihr Ziel erreicht haben, doch so, dass die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz behaupten. Diese Auslegung erscheint mir deshalb am passendsten, weil Paulus hier die Vollendung des Reiches Christi beschreiben will, welches doch nicht in den Grenzen des jüdischen Volkes beschlossen werden, sondern den ganzen Erdkreis umspannen soll. Ganz in der gleichen Weise heißt Gal. 6, 16 die ganze aus Juden und Heiden bestehende Gemeinde „das Israel Gottes“. Dieses aus der Zerstreuung gesammelte Gottesvolk tritt damit in Gegensatz zu den leiblichen Kindern Abrahams, welche von dessen Glauben abgefallen waren.

Wie geschrieben steht. Dieses Zeugnis aus Jesaja dient nicht zum Belege der ganzen vorigen Aussage, sondern nur des einen Gliedes, dass die Kinder Abrahams die Erlösung empfangen sollen. Wenn nämlich jemand behaupten wollte, ihnen sei ja Christus verheißen und angeboten, aber sie hätten ihn verschmäht und darum seine Gnade verloren -, so geben demgegenüber die Worte des Propheten eine bessere Hoffnung: es wird immer ein Rest verbleiben, der sich bekehrt und die Gnade der Erlösung empfängt. Übrigens zitiert Paulus den Spruch des Jesaja nicht wörtlich. Es kommt ihm eben mehr auf den Sinn, als auf den Buchstaben an. Dazu wird (V. 27) ein Satz aus Jeremia gefügt, welcher von der Vergebung der Sünden handelt. Diese beiden Stücke begreift ja das Amt und Königreich Christi in sich: Christus ist gekommen, uns durch die Vergebung der Sünden mit dem Vater zu versöhnen, und durch seinen Geist ein neues Leben in uns zu schaffen. Das alles betrifft nun freilich auch die Heiden: da aber Israel der erstgeborene Sohn ist, so muss wohl an ihm zuerst solche Weissagung sich erfüllen. Es steht ja auch ausdrücklich (wenigstens im hebräischen Text, welchem der Apostel freilich nicht folgt) bei Jesaja, dass der Erlöser „denen zu Zion“ kommen werde. Und in jedem Falle lesen, dass er das gottlose Wesen „von Jakob“ nehmen soll. Gottes Verheißung steht also fest: Gott wird in seinem auserwählten Eigentumsvolke allezeit einen Samen haben, an welchem seine Erlösung sich wirksam erweist. Diese Gewissheit lässt sich namentlich auch auf den Spruch aus Jeremia gründen. Er behebt den Anstoß, der sich aus der unüberwindlichen Hartnäckigkeit Israels ergeben musste, und lässt die Weissagungen trotz allem glaubhaft erscheinen. Denn er lehrt, dass der Neue Bund einfach in freier Vergebung der Sünden bestehen wird, ohne welche freilich Gott mit seinem abtrünnigen Volk nicht verkehren kann.

28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Wahl sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn gleicher weise wie auch ihr weiland nicht habt geglaubt an Gott, nun aber Barmherzigkeit überkommen habt durch ihren Unglauben, 31 also haben auch jene jetzt nicht wollen glauben an die Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, auf dass sie auch Barmherzigkeit überkommen. 32 Denn Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme.

V. 28. Nach dem Evangelium usw. Was an den Juden der schlimmste Fehler war, das konnte sie doch nicht verwerflicher machen als die Heiden waren. Das war nämlich der Unglaube. Nun lehrt aber Paulus, dass Gott diese Verstockung für eine gewisse Zeit über sie verhängt habe, um dem Evangelium die Bahn zu den Heiden frei zu machen. Im Übrigen sollten sie nicht für alle Zeit von Gottes Gnade ausgeschlossen sein. Sie sind nur für den Augenblick in Rücksicht auf das Evangelium von Gott entfremdet. Dadurch sollte das Heil, welches früher bei ihnen seinen Platz hatte, auf die Heiden übergeleitet werden. Dennoch konnte Gott des Bundes nicht vergessen, den er mit ihren Vätern geschlossen und durch welchen er bezeugt hatte, dass er kraft seines ewigen Ratschlusses dieses Volk in seine Liebe aufgenommen hatte. Diese Wahrheit bestätigt der Apostel durch die herrliche Aussage, dass die Gnadengabe der göttlichen Berufung nie vergeblich sein kann. Denn dies wollen die Worte sagen (V. 29): Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Die nachdrückliche Zerteilung der beiden Begriffe „Gaben und Berufung“ sagt doch inhaltlich nichts anderes, als wenn dastünde: „Gnadengabe der Berufung“. Dabei denkt Paulus zunächst an den Bund, welchen Gott mit Abraham und seinen Nachkommen geschlossen hatte und welchen er nie wieder lösen kann (1. Mose 17, 7): „Ich will deines Samens Gott sein.“ Das Evangelium und die Wahl (V. 28) treten aber einander gegenüber -, nicht als ob sie sich widersprächen: denn welche Gott auserwählt hat, beruft er durch das Evangelium -, sondern weil das Evangelium den Heiden so plötzlich und wider aller Welt Erwartung kundgetan wurde; und wie stach doch dies ab gegen die uralte Erwählung der Juden, die vor so vielen Jahrhunderten schon geschehen war! Sie sind und bleiben aber Geliebte um der Väter willen, natürlich nicht in dem Sinne, als ob die Väter diese Liebe verdient hätten, aber sie musste sich von den Vätern her auf die Nachkommen vererben, gemäß der Verheißung: ich will dein Gott sein „und deines Samens nach dir“. Wie dann aber die Heiden um des Unglaubens der Juden willen Barmherzigkeit empfingen, ist schon früher dargelegt wurden: Gott ward den Juden Feind wegen ihrer Untreue und wandte nunmehr seine Güte den Heiden zu. Dass bei dieser Wendung der Dinge Gott die Hand im Spiele hatte, spricht der Apostel alsbald mit voller Schärfe aus (V. 31): es lag in Gottes Plan, dass er sich der Heiden erbarmen wollte; dazu aber mussten die Juden zunächst des Lichtes des Glaubens beraubt werden.

V. 32. Denn Gott hat alle beschlossen usw. Das ist ein herrlicher Abschluss. Wer selbst in der Hoffnung auf ewige Seligkeit steht, braucht deshalb an den übrigen nicht zu verzweifeln. Denn wie es auch jetzt mit uns bestellt sein mag: wir waren einst nicht besser als alle andern. Hat allein Gottes Gnade uns aus dem Unglauben gerettet, so wird sie dies auch bei den andern können. Der Apostel schiebt den Juden keine andere Schuld zu als auch den Heiden: so können beide merken, dass auch dem andern Teile die Tür des Heils offen steht. Es ist ein und dieselbe Gnade Gottes, welche das Heil schafft: sie kann sich hier und dort anbieten. So stimmt der Spruch des Paulus mit dem früher (9, 25) zitierten Worte des Propheten überein (Hos. 2, 25): „Ich will sagen zu dem, das nicht mein Volk war: du bist mein Volk.“ Wenn Gott, um dieses Ziel zu erreichen, alle beschlossen hat unter den Unglauben, so will dies nicht so verstanden sein, als fiele die Schuld ihrer Verstockung und ihres Unglaubens auf ihn. Vielmehr hat Gottes Vorsehung so gewaltet, dass sie alle selbst des Unglaubens schuldig wurden und damit dem gerechten Gerichte Gottes verfallen mussten. Das geschah aber zu dem Zweck, damit die Seligkeit auf kein menschliches Verdienst, sondern allein auf die Gnade sich gründen müsse. Zweierlei also liegt in diesen Worten: erstens findet sich in keinem Menschen irgendein Anlass, um dessentwillen er einen Vorzug vor andern verdiente; der Vorzug liegt allein in Gottes Gnade. Zweitens aber sieht sich Gott durch nichts gehindert, seine Gnade mitzuteilen, welchen er will. Das Wort „erbarmen“ prägt uns sehr nachdrücklich ein, dass Gott niemandem etwas schuldig ist, dass also alle Menschen nur durch Gnade gerettet werden, weil sie alle unter dem gleichen Verderben stehen. Wollte man aber aus unserer Stelle den Schluss ziehen, dass alle Menschen ohne Ausnahme selig würden, so wäre dies eine gewaltige Torheit. Denn Paulus will nur sagen, dass Juden und Heiden keinen andern Weg zur Seligkeit haben als Gottes Erbarmen. Es soll niemand einen Grund besitzen, sich zu beklagen. Allerdings wird dieses Erbarmen allen öffentlich angeboten. Aber die Bedingung lautet dabei, dass man es im Glauben ergreife.

33 O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! 34 Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? 35 Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass ihm werde wieder vergolten? 36 Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

V. 33. O welch eine Tiefe usw. Dieser Ausruf, welcher sich dem Gläubigen bei frommer Betrachtung der Werke Gottes auf die Lippen drängt, enthält zugleich eine Warnung vor dem gottlosen Hochmut, welcher den Gerichten Gottes zu widersprechen wagt. Wenn wir vernehmen: „O welch eine Tiefe!“ – so ist nichts geeigneter, alle Anmaßung des Fleisches niederzuschlagen, als solcher Ausbruch der Bewunderung. Bisher war der Apostel den Gedanken des Wortes und Geistes Gottes nachgegangen. Nun überwältigt ihn selbst die Tiefe des Geheimnisses. Er kann nur noch staunen und rufen, dass dieser Reichtum der Weisheit Gottes alle unsere Erkenntnis übertrifft. Wenn wir in das Nachdenken eintreten über Gottes ewige Ratschlüsse, so müssen wir dem Geist und der Zunge einen Zügel anlegen. Wie nüchtern wir auch versuchen, unsere Gedanken in den Schranken des göttlichen Wortes zu halten -, das Ende wird doch nur Staunen sein! Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, wenn wir schließlich nicht klüger sind als der Apostel, der bis in den dritten Himmel entzückt ward und unaussprechliche Worte vernahm (2. Kor. 12, 1.3), und der zuletzt doch nur in demütiger Selbstbescheidung in die Knie sinken kann: Wie gar unbegreiflich usw. Nach hebräischer Weise, welche denselben Gegenstand gern in doppelter Wendung ausdrückt, spricht der Apostel zuerst von den Gerichten, dann von den Wegen Gottes, d. h. von seiner Weise, zu handeln, oder seiner Ordnung, zu regieren. Je höher seine bewundernde Rede die Majestät des göttlichen Geheimnisses erhebt, desto mehr hält sie unsern neugierigen Wissenstrieb zurück. Wir sollen also lernen, Gott nichts zu fragen, was er uns nicht in der Schrift offenbart hat. Andernfalls verwirren wir uns in ein Labyrinth, aus welchem wir keinen Ausgang finden.

V. 34. Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt? Hier legt der Apostel nun geradezu auf den kühnen Menschen, der wider Gottes Gerichte murrt, seine Hand und hält ihn zurück. Zwei Gründe hält er ihm (V. 34 und 35) entgegen. Zuerst: alle Sterblichen sind zu blind, um mit ihren Sinnen Gottes Erwählung durchschauen zu können; über einen unbekannten Gegenstand aber sich ein Urteil zu erlauben, ist anmaßend und töricht. Halten wir also unsere Gedanken in den Grenzen des göttlichen Wortes! Denn wir selbst vermögen das Geheimnis der Erwählung nicht zu enthüllen. Wir sehen soviel wie ein Blinder im Dunkeln. Und dennoch steht die Gewissheit unseres Glaubens völlig fest, denn sie hängt nicht von unserm Scharfsinn ab, sondern lediglich von der Erleuchtung durch Gottes Geist. An einer andern Stelle (1. Kor. 2, 9.10.12) sagt ja auch Paulus, dass alle Geheimnisse Gottes freilich weit über das Verständnis unseres Geistes hinausgreifen. Aber sofort fügt er hinzu: weil wir nicht den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott empfangen haben, so kennen wir Gottes Absichten und seine sonst unbegreifliche Güte. Vermögen wir aus eigner Kraft von Gottes Geheimnissen nichts zu verstehen, so erschließt uns doch die Gnadengabe des göttlichen Geistes eine klare und gewisse Erkenntnis. Wir folgen diesem Geiste, so weit er uns führt. Wo er zu schweigen beginnt, da stehen wir still und hemmen unsern Schritt. Wer mehr wissen will, als er uns offenbart, wird von dem Glanz des Lichtes, da niemand zukommen kann, geblendet werden. Dabei gilt es, den Unterschied zu beachten zwischen Gottes verborgenem Ratschluss und seinem in der Schrift geoffenbarten Willen. Auch die gesamte Lehre der Schrift geht ja hoch über die Kraft des Menschengeistes hinaus, aber sie bleibt für die Gläubigen doch nicht unzugänglich, welche demütig und nüchtern von Gottes Geist sich leiten lassen. Ganz anders steht es dagegen mit dem verborgenen Ratschluss, dessen Höhe und Tiefe keine Forschung durchmessen wird.

V. 35. Wer hat ihm etwas zuvor gegeben usw. Nunmehr folgt der zweite Grund zur Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes gegen alle Einwürfe der Gottlosen. Niemand hat Verdienste aufzuweisen, die Gott zu seinem Schuldner machten. Also kann auch niemand sich mit Recht darüber beklagen, dass er nicht den beanspruchten Lohn empfängt. Wer sich einen andern zu Wohltaten verpflichten will, muss selbst zuvor seine Pflichten gegen ihn erfüllt haben. Paulus will also zu verstehen geben: nur dann dürfte man Gott der Ungerechtigkeit zeihen, wenn man sagen könnte, er gäbe nicht jedem das Seine. Nun steht aber fest, dass Gott niemanden seines Rechtes beraubt, da er niemandem etwas schuldig ist. Oder wer könnte irgendein Werk vorweisen, das Gott mit seiner Gnade lohnen müsste? Unsere Stelle prägt uns vielmehr tief ein, dass es nicht in unserer Kraft steht, mit unsern guten Taten Gott die Seligkeit abzuzwingen. Er vielmehr kommt in freier Gnade uns zuvor, die wir gar nichts verdienen. Paulus spricht dabei nicht von einer Verfassung, in welcher sich die Menschen vielfach befinden, sondern von ihrem ganz allgemeinen, ausnahmslosen Zustande. Wollen wir uns scharf prüfen, so werden wir nicht bloß finden, dass Gott uns durchaus nichts schuldet, sondern dass wir alle ohne Ausnahme seinem Gericht verfallen sind und nicht nur keine Gnade, sondern den ewigen Tod verdienen. Dass uns Gott nichts schuldig ist, behauptet Paulus nun gar nicht bloß in Rücksicht auf unsere gefallene und verderbte Natur: selbst wenn der Mensch sündlos wäre, würde er nichts vor Gottes Angesicht bringen können, um dessentwillen Gott ihm notwendig seine Gnade zukehren müsste. Denn sobald der Mensch nur zu existieren anfängt, bleibt er schon nach dem Rechte der Schöpfung derartig in seines Schöpfers Hand, dass er eigne Ansprüche nicht geltend machen kann. Ganz vergeblich werden wir versuchen, Gott das Recht abzustreiten, dass er frei und nach seinem Ermessen über die Gebilde seiner Hand verfüge. Die Kreaturen stehen mit Gott nicht auf Rechnung und Gegenrechnung.

V. 36. Denn von ihm usw. Eine Begründung für den soeben ausgesprochenen Satz. Es ist gar nicht daran zu denken, dass wir uns gegen Gott irgendeines eignen Gutes rühmen dürften: denn wir sind von ihm aus Nichts erschaffen, und unser ganzes Wesen hat jetzt nur in ihm seinen Bestand. Daraus folgt, dass es ganz und gar der Ehre Gottes zu Dienst gestellt werden muss. Denn welchen andern Zweck sollten die Kreaturen haben, die er selbst geschaffen hat und erhält, als dass sie zum Ruhme seiner Herrlichkeit dienen? Die ganze Ordnung der Natur wird auf den Kopf gestellt, wenn nicht Gott, welcher der Ursprung aller Dinge ist, auch ihr Zweck und Ziel bleibt.

Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Damit setzt der Apostel das Siegel unter seine ganzen Ausführungen. Es soll ganz feststehen, dass des Herrn Ehre unantastbar gilt. Diese Worte sind zwar, für sich genommen, eine kühle, unbeteiligte Erwägung, aber durch die Stellung am Schluss dieser Kapitel empfangen sei einen ganz eigenartigen Nachdruck: dem Herrn gehört das Regiment, und wenn man den Zustand des menschlichen Geschlechts und der ganzen Welt recht beurteilen will, so muss man lediglich die Frage nach Gottes Ehre stellen. Alle Gedanken, die dazu beitragen könnten, Gottes Ruhm und Ehre zu verkleinern, müssen abgeschnitten werden: sie sind töricht und vernunftwidrig, ja sie sind frevelhaft.

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