Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 46.

Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 46.

V. 1. Der Bel ist gebeugt usw. Jesaja fährt in demselben Zusammenhange fort. Die Kapiteleinteilung darf uns ja nicht aufhalten: sie ist nicht immer geschickt erdacht. Wir halten uns an den Gedankengang, der in der von uns entworfenen Weise sich recht gut zusammenschließt. Wenn aber jemand hier lieber den Anfang einer neuen Rede findet, weil sich alsbald eine Weissagung über den Untergang Babels anschließt, so trete ich dem nicht entgegen. Bel, Nebo waren Götzenbilder, denen die Chaldäer Verehrung zollten. Wahrscheinlich sind sie ihre höchsten Schutzgötter gewesen. Die Götzendiener haben ja meinst einige hervorragende Göttergestalten, unter deren Schutz sie zu stehen glauben. Nebo scheint zwar ein Gott zweiten Ranges gewesen zu sein und zum höchsten Gott Bel in demselben Verhältnis gestanden zu haben, wie etwa Merkur zu Jupiter. Die beiden genannten Namen sind aber nur die Decknamen für das gesamte Götterheer. Es soll zum Ausdruck gebracht werden: aller Aberglaube und sündhafter Götzendienst der Heiden wird umgestürzt werden, wo der Herr diese selbst triumphierend unter seine Füße tritt. Dann wird es sich zeigen, dass Gott seine Gemeinde rächt. Wohl rühmen sich die Chaldäer mit Stolz des Schutzes ihrer falschen Götter. Aber der Prophet weist ihr Vertrauen als trügerisch zurück. Denn der Gott Israels wird nicht nur jenes gottlose Volk niederwerfen, sondern auch ihre Götter schmachvoll vernichten.

Darum heißt es: Ihre Götzen sind dem Vieh zuteil geworden. Auf Wagen werden sie fortgefahren und rücksichtslos weggeworfen nach dem Belieben der Fuhrleute. Diese Götter, die einst einen hervorragenden Platz einnahmen, werden von ihren Räubern auf einen großen Haufen geworfen. Das hat sich erfüllt, als die Perser und Meder Babylon eroberten. Denn die neuen Machthaber betrachteten sie als einen Teil ihrer Beute. Jesaja sah aber noch weiter: wenn Christus kommt, wird aller Götzendienst fallen. Wo sein Reich aufgerichtet ist, da stürzen alsbald alle Götzen in sich zusammen. Wo man ihn kennt, da muss Aberglauben und Götzendienst weichen. Jede Finsternis durchleuchtet er mit seinem Glanz, so dass die falschen Götter keinen Platz mehr haben. Wie stimmt Christus mit Belial? fragt Paulus (2. Kor. 6, 15); was hat das Licht für Gemeinschaft mit Finsternis? Sicherlich dachte der Prophet auch an die Zeit der jüdischen Gefangenschaft. Denn die Juden sahen, wie die Chaldäer ihren Götzen Weihrauch opferten und ihnen die höchsten Ehren erwiesen, als ob alles von ihnen abhinge. Aber der Gott Israels wurde verlacht und geschmäht: er könne ja sein Volk nicht schützen. Darum redet Jesaja von der großen Umwälzung der Verhältnisse. Die vielgerühmten chaldäischen Götter fallen, aber der scheinbar machtlose Gott der Juden erhebt sich, die Seinigen zu rächen.

V. 2. Sie können die Last nicht wegbringen. Der Prophet verlacht die Nichtigkeit dieser Götter. Sie können sich nicht regen noch bewegen, sich nicht schützen noch behaupten. Sie haben sogar noch die Kräfte der Tiere nötig, um von der Stelle zu kommen. Diesen gegenüber stellt er den wahren Gott, der niemand und nichts nötig hat. Wenn der Tiere in diesem Zusammenhang Erwähnung geschieht, so gereicht dies zur weiteren Verspottung der Götzen: sogar ihnen ist die Last zu beschwerlich, sie hätten sie am liebsten abgeworfen. Darum heißt es, sie hätten sich müde getragen an der Last derer, die ihren Verehrern keinen Nutzen brachten.

Ihre Seelen müssen ins Gefängnis gehen. Dieser Ausdruck weist auf die Götter, die weder Seele noch Gefühl haben. Es soll also ihre gänzliche Unfähigkeit, sich zu betätigen, verhöhnt werden: sie werden samt ihrer Seele in die Gefangenschaft fortgeführt werden. Aber kann nicht solcher Spott auf den wahren Gott selbst zurückfallen? Wurde doch seine Bundeslade, die ein Zeichen seiner Gegenwart war, von den Philistern erbeutet. So schien Gott gleichsam selbst gefangen. Die Antwort auf solchen Einwurf ist nicht schwer. Obwohl der Herr die Lade zum Zeichen seiner Gegenwart bestimmt hatte, wollte er doch nicht, dass die Juden sich an sie hängen und klammern sollten. Zum Himmel sollten sie aufschauen, dort ihren Gott zu suchen und zu verehren. Der Herr wollte stets auf geistliche Weise verehrt sein, und man betete nicht etwa die Lade wie einen Gott an: sie war ein Symbol, durch welches das Volk gleichsam wie an Gottes Hand aufwärts geführt wurde. Die Heiden dagegen hingen an ihren Bildern und messen diesen himmlische Kräfte bei. Wenn die Philister einmal die Bundeslade in die Hand bekamen, so war das keine Gefangennahme Gottes, sondern Gott gab das Heiligtum dem Spott der Feinde preis, um die Missetat seines Volkes zu ahnden. Als der Tempel durch Feuer zerstört und die heiligen Geräte nach Babel gebracht wurden, da konnten die Juden keinen Augenblick darüber im Zweifel sein, dass derselbe Gott, den sie verehrt hatten, diese Strafe über sie habe kommen lassen; hatten doch seine Propheten so oft angedroht, was alsdann sich ereignete.

V. 3. Höret mir zu usw. In glänzender Weise zeigt der Prophet den Unterschied zwischen dem wahren Gott und den Götzen. Von den babylonischen Göttern hatte er vorher gesagt, sie müssten auf Wagen und Fuhrwerken weiter befördert werden. Sie seien ja nur toter Stoff. Von dem Gott Israels sagt er dagegen, er trage sein Volk; von Mutterleibe an habe er das getan und trage sie noch stetig. Er ruft die Juden zusammen: sie sollen ihre Erfahrung ihm mitteilen, dass er in der Tat sie und ihre Lasten getragen habe. Aus dem ganzen Zusammenhang zieht er den Schluss: Erkennt mich als den wahren Gott an, der mit den Götzen nicht die geringste Ähnlichkeit hat! Denn sie sind eitle, tote Gewichte. Aber meine Kraft habt ihr in den beständigen Wohltaten erfahren, die ich euch von Mutterleibe an erwiesen habe. Nicht nur in sich ist der Herr mächtig; seine Macht erstreckt sich auf alle Geschöpfe. Alle fühlen seine Kraft und Wirksamkeit.

Die ihr von mir getragen werdet von Mutterleibe an. Dies ist ein ganz eindringliches Bild. Es veranschaulicht die Gnadenerweisungen Gottes, die sein Volk von Anfang an von ihm erfahren hatte. Man hätte es einfacher ausdrücken können, etwa wie Ps. 22, 11: „Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an.“ Weil aber Gott sich dem Volk nicht erst als Vater und Ernährer bewiesen hat, nachdem dasselbe geboren war, sondern weil er es selbst geistlich geboren hat, lassen sich unsere Worte recht wohl auch darauf mitbeziehen, dass die Kinder Israel wie aus Gottes Herzen heraus in ein neues Leben und zur Hoffnung auf ein ewiges Erbe geboren wurden. Dem Einwurf, Gott werde überall Vater genannt, und das sei auch die passendere Benennung für ihn, entgegne ich: kein Bild kann das einzigartige Liebesverhältnis Gottes zu den Menschen zum Ausdruck bringen. Es übersteigt jedes Maß. Würde man auch alles, was sich über die Liebe sagen und denken lässt, zusammentragen, so würde die Größe göttlicher Liebe noch weit darüber hinausgehen. Keine Vergleichung vermag seiner unvergleichlichen Güte gerecht zu werden. Wenn man die Stelle einfach so nimmt: seit Gott die Kinder Israel gezeugt hat, hat er sie in seinem Busen sanft getragen und gehegt, so stimmt das am besten mit einem Ausdruck im Lied Moses überein (5. Mose 32, 11): „Er nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln, wie ein Adler ausführt seine Jungen.“ Kurz, die Meinung des Propheten ist die: wenn die Juden ihres Ursprungs nicht vergessen wollten, so müssten sie zugeben, dass sie nicht umsonst geboren sind. So dürfen sie gewiss sein, dass Gott, der ihnen bisher Vater und Mutter gewesen, auch fernerhin ihnen beistehen werde. Die Erfahrung seiner Kraft müsste ihnen aber jeglichen Götzendienst unmöglich machen.

Von den Übrigen vom Hause Israel redet der Prophet, weil der größte Teil durch seinen Abfall der Gemeinde entfremdet war, so dass die Hoffnung auf Erlösung nur wenigen winkte. Deshalb fordert er von ihnen Gehör. Waren doch die Ungläubigen seiner Stimme gegenüber ebenso taub wie die Heiden. Obwohl aber damals nur ein Überrest des Volkes vorhanden war, befiehlt Gott doch zu bedenken, wie wunderbar sie bisher geführt worden seien, und keinem Zweifel Raum zu geben, als ob er nicht auch künftig seine Vater- und Mutterpflicht ihnen gegenüber üben würde. Mit der Forderung des Gehorsams aber zeigt er, dass das einzige, wahre Heilmittel für alle Drangsal und Not ist, ihm aufs Wort zu gehorchen und auf seine Gnadenerweisungen zu merken. Dabei wird man genug Mut bekommen, alles zu tragen. Auf anderem Wege geht man in Verzweiflung unter und hat keine andre Hoffnung als den Tod.

V. 4. Ja, Ich will euch tragen usw. Ich fasse dies als Folgerung, so nämlich: Ich habe euch gezeugt und geboren, alsdann habe ich euch als schwache Kinder auf meinen Armen bisher getragen, also werde ich auch der Hüter eures Lebens bis ans Ende bleiben. So folgert auch David (Ps. 22, 10): „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen; du warest meine Zuversicht, als ich noch an meiner Mutter Brüsten war. Auf dich bin ich geworfen von Mutterleib an; von meiner Mutter Schoß an bist du mein Gott.“ Der Herr verheißt also den Juden, beständig ihr Vater bleiben zu wollen. Wir dürfen daraus die Gewissheit nehmen, dass Gott das Vertrauen, das er einmal in uns erweckt hat, auch als sein Werk bewahren wird bis ans Ende. Der Herr wird vollenden, was er in uns angefangen hat, sagt David (Ps. 138, 8): „Herr, deine Güte ist ewig, das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen.“ Buchstäblich wäre an unserer Stelle zu übersetzen: „Ich, derselbe, will euch tragen.“ Dieser Ausdruck ist von besonderem Gewicht: Gott bleibt unveränderlich derselbe, nicht bloß in seinem Wesen, sondern auch in Rücksicht auf uns, wie wir ihn erfahren dürfen. Dass uns aber Gott bis ins Alter tragen will, könnte ungereimt erscheinen: nachdem er uns von Kindheit an erzogen, sollten wir doch zur Selbständigkeit heranwachsen. Aber bei rechter Prüfung wird jeder finden, dass er bei jeder Altersstufe Gottes Kraft nötig hat. Denn auch der Vollkommenste wird in einzelnen Augenblicken seine Ohnmacht fühlen. So bezeugt auch David (Ps. 71, 9): „Verwirf mich nicht in meinem Alter; verlass mich nicht, wenn ich schwach werde.“

Ich will heben usw. Dies ist ein Beweis, wie wir ihm soeben schon begegneten. Gott sieht nicht auf unser Verdienst, sondern schenkt uns seine Gnade. Darum dürfen wir das Vertrauen haben: Du hast uns geschaffen, nicht bloß zu Menschen, sondern zu deinen Kindern, so wirst du auch in Vater- und Muttersorge beharren bis ans Ende.

V. 5. Nach wem bildet ihr mich? Hier hört der Prophet, wie der Herr den Juden die Frage entgegenhält: Warum begegnet ihr meiner Macht mit Misstrauen und Zweifeln? warum stellt ihr mich auf die Stufe der Götzen, ja zieht sie sogar mir vor? Die Juden sahen nämlich das Glück der Chaldäer und glaubten deshalb, ihre eigne Hoffnung sei nichtig gewesen, Gott habe seinen Bund vergessen, er sei im Himmel und kümmere sich nicht um die Seinen. Darum klagt der Herr, dass sie durch ihr Zutrauen zu der Macht der Götzen seine Macht verdunkelten. Schon früher (Kap. 42 ff.) begegneten wir den gleichen Gedanken; darum können wir uns hier kurz fassen. Die Juden sollen nicht nach dem jetzigen Stand der Dinge Gottes Macht einschätzen, sondern die Herzen höher heben. Die Stelle lehrt uns: es ist ein Raub an Gottes Ehre, wenn man ihn mit stummen, eitlen Dingen vergleicht. So sagt auch Paulus (Apg. 17, 25): „Sein wird auch nicht von Menschenhänden gepflegt, als der jemandes bedürfe, so er selber jedermann Leben und Odem allenthalben gibt.“

V. 6 f. Sie schütten das Gold aus dem Beutel usw. Das war schon einmal gesagt worden (44, 12 ff.). Der Prophet wiederholt es, um es eindrücklicher zu machen: der Aberglaube wurzelt so tief im menschlichen Herzen, dass er nicht ausgerottet werden kann, außer wenn der Herr unsre ganze Natur umwandelt. Ein kleines Körnlein vom Aberglauben tragen wir stets in uns, und zu nichts sind wir mehr bereit, als in ihn zurückzufallen. Bei derer Herstellung der Götzenbilder liefert also einer den Stoff, der andre die Form. So haben sie gleichsam zwei Schöpfer: einen, der Silber und Gold zur Verfügung stellt, und einen, der es zum Bilde gestaltet. Dadurch wird die Torheit derer offenbar, die in diesen Gebilden der Menschenhand etwas Göttliches suchen. Wie kommt es, dass sie sich vor Metall niederwerfen, gleich als wäre es nicht mehr Metall, und zwar aus eigenem Antrieb und Willen, wenn es doch einen anderen Gott gibt, den sie mit ihren Mitteln nimmermehr herstellen können? Man könnte es entschuldigen, wenn sie es in plötzlichem Irrsinn getan hätten. Aber diese Menschen beharren hartnäckig bei ihrem Wahn und sind ganz und gar verblendet. Es ist nur zu wahnwitzig, etwas als Gott anzubeten, was man mit eigner Hand gefertigt hat. Das soll auch durch die Worte: sie heben ihn auf die Achseln zu schärferem Ausdruck gebracht werden. Da die Götzen jedes Gefühls ermangeln, so müssen die, welche von ihnen Hilfe in Not erwarten, keine Spur von Vernunft, ja einen unbeugsamen Nacken haben.

V. 8. An solches gedenket doch usw. Man kann diese Worte auf die Juden oder auf die Völkerwelt beziehen. Die Menschen, welche im Gesetz nicht unterwiesen sind, kommen deshalb zu Fall, weil sie die Erkenntnis Gottes in ihren Herzen ersticken. Es gibt ja niemand, der nicht von Natur irgendein göttliches Samenkörnlein in sich trüge. Aber die Menschen vernichten es durch ihren Unglauben oder verderben und fälschen es durch ihre Gebilde. Insofern könnten diese Worte von dem gesamten Menschengeschlecht gelten. Ich ziehe trotzdem die andre Auslegung vor, die durch den Zusammenhang gefordert ist. Nur die Juden können ja, wie es alsbald geschieht, als „Übertreter“ angeredet werden. Sie waren nach kurzer Versuchung vom wahren Gott abgefallen. Die Gefangenschaft hatte scheinbar das Gedächtnis an alle erfahrenen Wohltaten in ihren Herzen ausgelöscht. Da ihnen also der wahre Glaube abhandengekommen war, tadelt der Prophet sie wegen ihrer Undankbarkeit, weil sie so leicht zu gottwidrigen Erfindungen sich hinreißen ließen. Wenn er ihnen befiehlt: Gehet in euer Herz! – so spricht er ihnen den gesunden Sinn ab. Ein Vergessen der Wohltaten Gottes ist ein Zeichen von Torheit. Dahingestellt mag bleiben, ob man die vorangehenden Worte übersetzen soll: Seid fest, nämlich in unerschütterlichem Glauben an meine Hilfe, - oder: „Schämt euch!“ Dies letztere würde sich ziemen, nachdem den Juden ihre Schande aufgedeckt wurde. Sie sollen sich ihrer Hartnäckigkeit, Undankbarkeit und Gottlosigkeit schämen und zu Gott zurückkehren.

V. 9. Gedenkt des Vorigen usw. Dies ist eine weitere Ausführung des zuvor Gesagten: Gott hat sich durch reichliche Taten bezeugt und gezeigt, wie es um sein Herz und seine Macht bestellt ist. Nicht bloß drei Jahre lang oder einige Jahre, sondern von Ewigkeit her hatte er seine Wohltaten erwiesen und sein Volk beständig in seiner Gnade getragen. Darin lagen gewichtige Zeichen seiner Gottheit, so dass sie sich nicht abwenden sollten. Gott will ja nicht nur anerkannt, sondern als der Einzige anerkannt werden. Darum will er von allen Göttern, die Menschen sich gemacht haben, so geschieden sein, dass wir ihm allein anhangen. Würde er noch einen andern neben sich dulden, so würde sein Thron wanken und stürzen. Denn einer ist Gott oder keiner.

V. 10. Der ich verkündige zuvor usw. Jesaja sagt nun genauer, wie die Juden der vergangenen Zeiten gedenken sollen. Sie seien nie ohne Verheißungen und Unterweisungen gewesen. Dieser Eingang leitet aber alsbald zu hoffendem Ausblick auf die Erlösung über. Wir dürfen uns nicht wundern, dass von diesen Dingen immer wieder die Rede ist: sie sind so schwer zu glauben. Und das Volk war nicht nur langsam zum Glauben, sondern auch halsstarrig. Der Prophet erinnert sie also daran, dass sie schon vor Zeiten und nicht bloß einmal gelehrt worden waren, wie geborgen man im Glauben an Gott sei. Er redet nicht bloß davon, dass Gott alles zuvor wusste, sondern betont auch, dass Gott seine Anschläge durch die Propheten kundgetan habe. Aber nur dann trugen die Verheißungen in sich die unveränderliche Gewissheit, wenn der Gott, der sie gab, auch die Geschicke in der Hand hatte. Indes erinnert er daran, dass er die Wahrheit sage und seinen Willen in allen Verheißungen kundtue, so dass die Juden nicht mehr zu zweifeln brauchten, sobald die Propheten geredet hätten. Ausführlicher ist davon schon früher die Rede gewesen.

V. 11. Ich rufe einem Adler vom Aufgang. Der Prophet hat von dem Vorherwissen und der Macht Gottes geredet. Jetzt gedenkt er dessen, was Gott zur Durchführung seines Vorhabens gebraucht. Die Juden sollten ja getröstet werden. Sie sollten wissen, dass sie nicht ohne jede Hoffnung auf Befreiung in die Verbannung geführt worden seien. Er lässt ihnen also einen Hoffnungsstern leuchten: Kyrus werde kommen, verheißt er, wenn es auch noch so unglaublich schien. Einen Vogel will er rufen: dessen Flug ist schnell. Sein Plan, also das Auftreten des Kyrus, wird plötzlich erfüllt werden. Gott sagt von Kyrus: er ist der „Mann meines Anschlags“, d. h. der Mann, der meinen Anschlag tue. Er richtete des Herrn Befehle aus. Einem Vogel gleich, so plötzlich und unerwartet, war Kyrus gekommen. Plötzlich drang er in Babylon ein und eroberte es, während die Chaldäer glaubten, er finde nirgends einen Eingang. Wer will, mag annehmen, Jesaja habe hier auf die Weissagekunst durch Vogelflug angespielt, welche die Chaldäer eifrig übten. Wie sie aus den Sternen weissagten, so beobachteten sie auch Vogelflug und –geschrei und glaubten daraus sichere Schlüsse auf die Zukunft ziehen zu können. Gott aber erklärt, er werde einen Vogel senden, den sie zuvor nicht gesehen hatten. Schnell und unversehens kommt dieser Vogel; kein Weg ist ihm verschlossen, keine Befestigung kann ihn hindern, alsbald in Babylon einzudringen. Wenn ganz bestimmt darauf hingewiesen wird, dass Kyrus vom Aufgang kommt, so ist dies ein Anzeichen für die Zuverlässigkeit der Weissagung, zugleich aber eine Erinnerung daran, dass keine noch so große Entfernung Gottes Werk hemmen kann. Darum heißt es auch erläuternd im zweiten Satzglied: aus fernem Lande. Wir entnehmen daraus, welchen Zweck die vielen Stellen in der heiligen Schrift haben, in denen von dem Vorherwissen und der Kraft Gottes die Rede ist: wir sollen nicht argwöhnisch dabei stehen bleiben, sondern sie für uns ausnutzen. Gottes Rat steht aber jetzt im Widerspruch mit unsern Gedanken. Er befreit die Seinen so, dass Menschen seine Art nicht verstehen können. Wenn nun auch Gottes Verheißung unglaublich scheint, so wird er doch leicht einen Weg auftun. Wir sollen seine so hohen Gedanken nicht mit unsrem Verstande messen.

Was ich denke, das tue ich auch. Damit wird das zuvor Gesagte bestätigt: so ist es von Gott beschlossen, so bleibt es auch unwiderruflich und unumstößlich. Die vorhergehenden Worte: Was ich sage, lasse ich kommen, - wollen besagen: Nichts ist umsonst vorher verkündigt; jede Weissagung, die Gott kundtun lässt, ist schon wie eine Erfüllung anzusehen. In erster Linie will Gott durch diese Sätze den Glauben auf sich lenken; und dann verknüpft er seine Gedanken mit dem Wort der Verkündigung. Das ist beachtenswert. Denn wir werden von den verschiedensten Gedanken umgetrieben und zweifeln, ob Gott von Herzen so geredet habe. Wir argwöhnen, er sei uns ähnlich, d. h. er heuchle und treibe ein Doppelspiel. Aber er verkündet, dass nichts aus seinem Munde gehe, als was er schon zuvor beschlossen habe. So ist die Wortpredigt nichts anderes als ein gewisses Zeugnis seines verborgenen Ratschlusses, den er uns offenbaren lässt. Sobald Gott also etwas kundtut, dürfen wir von dessen Wahrheit und Gewissheit fest überzeugt sein.

V. 12. Höret mir zu, ihr von stolzem Herzen. Abermals werden die Israeliten gescholten: sie könnten keinen Glauben an Gott haben und hätten keinen Trost im Unglück. Hart und bitter ist freilich dieser Tadel. Aber die Leute hatten ihn verdient, die durch keine Verheißung, durch keine auch noch so freundliche Einladung Gottes sich erweichen ließen. Die beiden den Israeliten beigelegten Bezeichnungen sind beachtenswert. Sie zeigen, dass Elende und Angefochtene der Hilfe Gottes durch ihre Herzenshärtigkeit die Tür verschließen. Durch ihr Lärmen und Murren entschlagen sie sich der Furcht Gottes und wüten, von Verzweiflung ergriffen, offen gegen Gott. Die Juden sind angeredet. Obwohl sehr unterdrückt, blähten sie sich doch stolz und hochmütig auf, setzten alle Gottesfurcht beiseite und wurden je länger je mehr unsinnig, wie es heutzutage vielen geht, die durch Drangsal und Unglück nur noch halsstarriger werden. Kein Heilmittel für ihre Nöte nehmen sie an. Verhärtete Menschen, die Gottes Verheißungen nicht annehmen wollen, stoßen ihn zurück und verachten seine Gnade. Sie wollen sich keine Wohltat von Gott erweisen lassen, der ihnen doch seine Hilfe anbot. Dass jemand ferne ist von der Gerechtigkeit, lässt sich auch so deuten, dass die Hilfe Gottes ihm entzogen ist.

V. 13. Ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht. Nimmt man die soeben gegebene Deutung an, so steht „Gerechtigkeit“ im vorigen Satze in dem gleichen Sinne wie hier. Versteht man aber die Aussage, dass die Juden von Gerechtigkeit fern waren, dahin, dass sie sich ihn ihrer aussichtslosen Verstockung allerlei Lastern ergeben hatten, so liegt ein aufeinander angelegter Gegensatz zwischen den Menschen und Gottes Gerechtigkeit vor: obwohl die Juden von jedem frommen Eifer sich losgesagt haben und abgewichen sind, erzeigt Gott seine Gerechtigkeit doch durch sein Nahesein. Der Herr will sagen: Euer Unglaube ist das größte Hemmnis, das aber doch mich nicht hindern kann, endlich meiner Wahrheit freie Bahn zu machen. Der Unglaube des Menschen kann ja, wie Paulus (Röm. 3, 3) sagt, die Wahrheit Gottes nicht unwirksam machen. Wenn auch die Menschen Lügner sind, Gott ist immer wahrhaftig. Und es ist gewiss, dass alle ohne Ausnahme zu Grunde gingen, wenn nicht Gottes Güte größer wäre als der Menschen Bosheit. Denn wer lässt den Herrn so an sich wirken und gebraucht seine Gnade so, wie es sich gebührte? Wenn wir also seine Wohltaten an uns nicht erfahren, so hat das keinen andren Grund, als dass wir ferne sind von seiner Gerechtigkeit. Und doch naht er sich uns bei allem Widerstand und aller Abneigung unsrerseits, um seine Gerechtigkeit auszusäen, wenn wir auch noch so unwürdig sind. Dies geschieht aber so, dass die Gottlosen überhaupt keine Frucht daraus empfangen. Denn nicht von den gottlosen Abtrünnigen redet der Prophet, als ob sie des verheißenen Heiles teilhaftig würden. Er bringt vielmehr nur die Meinung zum Ausdruck: Gott sei bereit, seine Gerechtigkeit kommen zu lassen. Da muss man aber auf den Zustand des Volkes achten, zu dem dies gesagt wurde. Alles war durch Unglauben verdorben. Sehr wenige hielten sich an Gottes Verheißungen. Und die, welche zu den Auserwählten gehörten, zeigten sich manchmal unbeugsam, so dass es schien, als wären sie von derselben Pest des Unglaubens wie die andern erfasst. Der Herr tadelt also das ganze Volk, um die Verworfenen zu überführen und die Auserwählten zu strafen und auf den rechten Weg zurückzuführen. Doch trifft sein Tadel, wie gesagt, besonders die Ungläubigen, die gleichsam vorsätzlich jede Hoffnung auf Gnade abwehrten.

Und mein Heil usw. Hier wird noch klarer, was mit dem Wort „Gerechtigkeit“ gemeint ist: die Hilfe, die Gott seinem Volke verheißen hatte. Heil und Gerechtigkeit ist also dasselbe. Darin tritt die Gerechtigkeit Gottes am meisten zu Tage, dass er die Seinen bewahrt, schützt und errettet.

Säumet nicht. Damit wird uns die große Milde beschrieben, die sich darin zeigt, dass der Herr seiner Gerechtigkeit freien Lauf lässt, obwohl sein Volk sich widersetzt und sie fast abwehrt.

Ich will Heil geben. Das bisher Gesagt wird bestätigt; weil der Herr einmal beschlossen hat, Jerusalem zu retten, so kann ihr nichts diese Gabe rauben. Mit dem Heil der Frommen verknüpft aber Gott seine Herrlichkeit oder Ehre. So setzt auch Paulus (Eph. 1, 6; 3, 16) Gottes Herrlichkeit und Gnade einander gleich. Dann erscheint nämlich die Ehre Gottes am klarsten, wenn er die Seinen vom Untergang rettet und zur Freiheit führt. Denn nach seinem Willen soll das Heil seiner Gemeinde unauflöslich mit seiner Gerechtigkeit verknüpft sein.

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