Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 3.

Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 3.

V. 1. Siehe, der Herr, Herr Zebaoth usw. Wir sagten schon, dass der am Ende des vorigen Kapitels angelegte Zusammenhang noch weiterläuft. Der Prophet erinnert die Juden, dass sie trotz aller ihrer Hilfsmittel doch nichts besitzen, was sie dem Zorn Gottes entgegenstellen können: wenn dieser entbrennt, verzehrt er alle ihre Bollwerke. Es ist also unendlich töricht, wenn sie, um allen Schrecken abzuschütteln, sich an ihren Besitz, ihre Macht und kriegerische Stärke, ihre Pläne, Kräfte, einen reichen Ernteertrag und andere Dinge klammern. Das Wörtlein „siehe“ drückt nicht bloß die volle Gewissheit der prophetischen Rede aus, sondern deutet auch auf einen nahe bevorstehenden Zeitpunkt: Jesaja will die Gottlosen gleichsam zu einem vorliegenden Tatbestand hinführen. Geschieht es doch nur zu oft, dass Leute, die nicht wagen, Gottes Gerichte offen zu verlachen, ihrer doch in der Weise spotten, dass sie tun, als gingen dieselben sie nichts an oder wären noch weit entfernt. Sie sagen: Was haben wir damit zu schaffen, - oder wenn es jemals eintreffen sollte, warum sollen wir uns schon vor der Zeit elend machen lassen? Ist es nicht zeitig genug, an das Unglück zu denken, wenn es da ist? Da also die Gottlosen, um Gottes Gerichte verachten zu können, sich solche Schlupfwinkel für ihre grobe und hochmütige Sicherheit zurichten, drängt sie der Prophet desto heftiger und nachdrücklicher, dass sie nicht glauben sollen, Gottes Hand sei fern, und sich nicht vergeblich Waffenstillstand vorsprechen. Darum nennt er auch den Namen Gottes mit feierlichstem Nachdruck: seine Majestät soll den schläfrigen und stumpfen Gemütern Furcht einjagen. Denn an schmückenden Titeln liegt dem Herrn nichts; aber dass wir aus unserer rohen Gleichgültigkeit durch die Empfindung seiner Herrlichkeit aufgeweckt werden, ist eine sehr nötige Sache. Zuerst verkündigt der Prophet nun, dass die Juden all ihres Erntevorrats beraubt werden sollen, sodass sie an Hunger zugrunde gehen müssen. Dasselbe sagt er nachher vom Schutz durch ihre Truppen und der ganzen bürgerlichen Ordnung. Daraus können wir schließen, dass sich die Juden ihrer gegenwärtigen Zustände so gerühmt haben, dass sie in törichtem Selbstvertrauen über jeden Verlust erhaben zu sein glaubten. Aber Jesaja verkündigt, dass nicht bloß über die ganze Umgegend, sondern über Jerusalem selbst, die unbesiegte Schutzwehr des Volkes, Gott seine Geißel schwingen werde. Gottes Zorn soll nicht nur über den Körper ergehen, sondern durch das Herz selbst dringen. Indem nun der Prophet immer wiederholt, dass alle Stütze zerbrochen und weggenommen werden soll, deutet er ganz allgemein auf alles, auf welches ein glücklicher Zustand der Stadt und des Volkes sich stützen konnte. An die allgemeine Aussage schließen sich Einzelbeispiele. Zuerst wird die Stütze des Brots genannt. Gemeint ist alles, was zur Erhaltung des menschlichen Lebens dient. Gott kann aber Stütze und Kraft des Brots und des Wassers uns in einer doppelten Weise entziehen. Er kann uns die Nahrungsmittel selbst nehmen, oder aber ihre Nährkraft schwinden lassen. Denn der größte Vorrat von Lebensmitteln wird uns nichts helfen, wenn Gott nicht seine verborgene Kraft hineinlegt. Darum heißt es anderwärts (3. Mos. 26, 26), dass Gott die Stütze des Brots zerbrechen wird, auch wenn die Bäcker dasselbe mit Gewicht darwägen: man isst es, aber es hat keine Kraft der Sättigung. Eine überaus bemerkenswerte Aussage! Auch wenn man den Bauch voll hat, kann man hungrig bleiben! Denn allein Gottes verborgener Segen nährt und erhält uns. Doch könnte man auch einfach daran denken, dass der Prophet den Juden mit Entziehung der Nahrungsmittel droht. Immerhin scheint der Ausruf „Stütze“ auf etwas Tieferes zu deuten. In jedem Falle soll das Volk außer Stande sein, sich mit Speise und Trank zu erhalten, mögen dieselben nun ganz fehlen, oder mag ihre Kraft versagen.

V. 2. Starke und Kriegsleute. Jetzt werden andere Stützen genannt, welche Völker und Städte in unversehrtem Stand erhalten. Auch ihrer sollen die Juden gänzlich beraubt werden, sodass sie zu Hause keinen Rat noch Kraft und draußen keine Waffen haben. Übrigens hält die Rede keine ängstliche Reihenfolge ein, sondern mischt Verschiedenes durcheinander. Sie hebt mit den Kriegsleuten an, in deren Hand die Verteidigung des Vaterlandes liegt. Solche Leute nimmt Gott zuweilen durch den Tod hinweg, zum teil auch dadurch, dass er sie weichlich und weibisch macht. Dies Letztere ist eine sehr gewöhnliche Erscheinung: die Nachwelt schlägt aus der Art der tapferen Vorfahren, und ein Volk, welches nicht als furchtbar galt, wird im Lauf der Zeit furchtsam und unkriegerisch. Daneben kann es auch geschehen, dass dieselben Leute, die sonst beherzt waren, plötzlich versagen. Weiter werden Richter und Propheten genannt. Der erste Ausdruck bezeichnet bei den Hebräern bekanntlich alle regierenden Personen. Unter den Propheten sind Lehrer allerlei Art zu verstehen. Es soll also die bürgerliche Ordnung zerstört und alle Unterweisung ausgelöscht werden, was für die Juden den Untergang bedeuten muss. Denn in einem Staatswesen bedeuten Obrigkeit und Lehrstand ebensoviel, wie für den Körper die beiden Augen. In diese Gruppe gehören auch die Ältesten, die eben wegen ihres Alters, das Weisheit, Rat und Würde verleiht, zum Regieren besonders geeignet sind. Die Wahrsager werden in der Bibel oft im üblen Sinne genannt, hier aber zählt sie Jesaja unter den Leuten auf, welche zur Unterhaltung der Stadt und des Königreichs ihren Beitrag leisten. Es werden also Männer gemeint sein, die vermöge eines seltenen Scharfsinnes und großer Erfahrung verborgene Dinge ahnen können. Will man aber ja an Wahrsager denken, wie sie Gott nicht befragt wissen wollte, so wäre die Meinung, dass das Volk auch der sündhaften und verdammten Stützen beraubt werden sollte.

Weiter (V. 3) werden Hauptleute über fünfzig genannt, entsprechend der jüdischen Heereseinteilung, wie die Römer Zenturionen oder Hauptleute über hundert hatten. Als vornehme Leute werden solche bezeichnet, denen der Ruf ihrer Tüchtigkeit eine besondere Autorität im Volke verschaffte. Das Wort, welches wir als Räte übersetzen, deutet in erster Linie auf Ratgeber in öffentlicher Stellung, kann aber auch auf Privatpersonen ausgedehnt werden, welche klugen Rat zu geben wissen. Weil ferner auch Technik und Kunstfertigkeit für einen befriedigenden Zustand des Volkslebens ihre Bedeutung haben und für die Förderung des allgemeinen Lebensstandes von hohem Nutzen sind, sollen auch die weisen Werkleute weggenommen werden. Das letzte Glied in der Reihe wäre wörtlich zu übersetzen: „Kundige im Gemurmel“. Dabei denken viele an Zauberer mit ihren murmelnden Sprüchen. Unter dem Gemurmel lässt sich aber auch eine mit feierlicher Stimme gehaltene Rede verstehen, daher wir übersetzen: kluge Redner. Noch andere Ausleger denken an Leute, die zwar nicht der öffentlichen lauten Rede, wohl aber der persönlichen, mehr stillen, aber klugen und vorsichtigen Beratung anderer fähig sind. Alles in allem gibt der Prophet eine kurze Übersicht über alles, was zur Erhaltung eines rechten Zustandes im Volksleben erforderlich ist. Er nennt erstlich den Ertrag der Felder und was sonst zum Lebensunterhalt gehört, sodann kriegerische Stärke, drittens die Kunst, das Volk zu regieren und was damit zusammenhängt, viertens das Lehramt, fünftens allerlei Kunstfertigkeit. Mit solchen Mitteln rüstet Gott Völker aus, die er in gutem und unversehrtem Stand erhalten will; anderen, die er zugrunde richten will, entzieht er sie. Wir sollen also wissen, dass alles, was für ein gesundes Volksleben notwendig ist, uns aus der freien Gnade Gottes zufließt. Daraus folgt das andere, dass wir uns hüten müssen, uns durch Undank solcher herrlichen Gottesgaben zu berauben.

V. 4. Ich will ihnen Jünglinge zu Fürsten geben. Diese Beschreibung des zukünftigen, jämmerlich veränderten Zustandes soll Gottes Rache in ein besonders grelles Licht rücken. Wenn die treuen und tüchtigen Regenten aus dem Mittel genommen, will Gott träge und nichtsnutzige Menschen an die Stelle setzen: Jünglinge oder Knaben sollen sie sein, nicht bloß nach ihrem Alter, sondern nach Art und Sitten. Es werden dem Propheten weichliche und weibisch gewordene Menschen vorschweben, ohne alle Tüchtigkeit, die das ihnen anvertrauten Schwert nicht regieren können. Solche Zustände, in denen törichte und ungeschickte Leute wie würdelose und unkluge Knaben das Volk regieren, müssen den Staat zugrunde richten. Wir wollen also festhalten, dass ein rechter Führer des Volkes von Gott erweckt und mit mehr als gewöhnlicher Tüchtigkeit ausgerüstet werden muss. Schon Plato spricht davon, dass niemand zu einem obrigkeitlichen Amt berufen und begabt ist, den nicht Gott in besonderer Weise dazu gebildet hat. Wie die öffentliche Ordnung allein von Gott stammt, so muss sie auch in jeder Hinsicht von ihm erhalten werden. Leute, die der Herr nicht leitet, können nicht anders als Knaben gleichen, die ohne Verstand und Weisheit sind.

Die hier beschriebene Rache übt nun Gott auf zwiefache Weise aus. Oft glauben wir würdige und sachkundige Leute zu besitzen, die aber im entscheidenden Augenblick wie blind sind und nicht mehr Klugheit beweisen, als Knaben. Denn der Herr beraubt sie der besonderen Tüchtigkeit, mit der er sie zuvor geschmückt hatte; er nimmt ihnen den Verstand, als hätte er sie mit einem Blitz getroffen. Zuweilen geht Gott auch langsamer vor und lässt Männer mit heldenhaftem Geist, die wohl zu regieren wussten, allmählich abtreten: so gleitet das Regiment in die Hände von Leuten, die nicht einmal ein Kind oder eine Familie regieren können. Wenn dies geschieht, ist das Verderben sicher nicht mehr fern. Weiter wollen wir uns einprägen, was ich schon sagte, dass ein wohlgeordneter Zustand des Staatswesens eine ganz besondere Gottesgabe ist: da greifen denn die verschiedenen Stände, Richter und Ratsleute, Soldaten und Führer, Künstler und Lehrer in gegenseitigem Austausch ineinander und wirken zum gemeinsamen Besten des ganzen Volkes zusammen. Denn wenn der Prophet die Aufhebung dieses Zustandes als die härteste Strafe androht, so lässt sich ersehen, wie unentbehrlich für die Erhaltung der Völker solche ausgezeichneten und seltenen Gottesgaben sind. Die hier gegebene Aufzählung bedeutet also eine Anerkennung der Obrigkeiten und Herren, sowie des Lehr- und Wehrstandes. Das wollen wir wider gewisse Schwärmer ausdrücklich feststellen, die das Recht des Schwertes und alle bürgerliche Ordnung aus der Welt schaffen möchten. Der Prophet dagegen erinnert, dass dies alles nur weggenommen wird, wenn Gott zornig ist. Leute, die wider solche Wohltaten Gottes kämpfen und sie, soviel an ihnen ist, verwerfen und austilgen, sind also gottlose Feinde des öffentlichen Wohls. Desgleichen wird der Lehrstand anerkannt, ohne welchen das Staatswesen nicht in Ordnung bleiben kann – wie Salomo sagt (Spr. 29, 18): „Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst.“ Anerkannt werden ferner Technik, Ackerbau, allerlei Handwerk, Baukunst und was wir in ähnlichen Künsten nicht entbehren können. Denn alle Künstler jeglicher Art, die für menschliches Bedürfnis schaffen, sind Gottes Diener und wirken mit den andern für den gleichen Zweck zusammen, nämlich für die Erhaltung des Menschengeschlechts. Das gleiche ist vom Wehrstand zu sagen. Denn wenn auch ein rechtmäßiger Krieg nichts anderes sein darf, als ein Streben nach Frieden, so muss man doch zuweilen die Waffen ergreifen: die das Recht des Schwertes haben, sollen es gebrauchen, sich und die Ihrigen mit den Waffen zu verteidigen. Der Krieg an sich ist also unverwerflich: er ist ein Schutz zur Erhaltung des Staates. Aber auch die Redekunst ist nicht gering zu schätzen: man bedarf ihrer oft im öffentlichen und privaten Leben, um etwas vollständig und klar zu beweisen und die Wahrheit einleuchtend zu machen. Denn auch dies wird unter die Gaben und besonderen Segnungen Gottes gerechnet, wenn eine Stadt kluge und beredte Männer hat, die mit den Feinden handeln können im Tor. So ist der Hauptinhalt unserer Stelle der: wenn der Herr diese Gaben wegnimmt, so dass die öffentlichen Zustände eine empfindliche Veränderung erfahren, - mag dies durch Wechsel der Regierungsform oder durch Beseitigung der Führer zustande kommen – so muss man darin seinen Zorn erkennen. Denn er nimmt, mit Hosea (13, 11) zu reden, die Könige in seinem Zorn hinweg und setzt andere in seinem Grimm. Schreibe also niemand derartige Umwälzungen dem Zufall oder anderen Ursachen zu.

V. 5. Das Volk wird Schinderei treiben. Damit wird die äußerste Verwirrung beschrieben, in welche die Juden nach Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung geraten mussten. Es kann in keinem Volk anders gehen, wenn das Regiment fehlt und zerbrochen ist. Kennen wir doch die Frechheit des menschlichen Geistes, den Ehrgeiz, der einen jeden umtreibt, die rasenden Begierden, die sich durch keinen Zügel halten lassen. Darum brauchen wir uns nicht zu wundern, dass bei Aufhebung eines ordentlichen Gerichts einer wider den andern aufsteht, dass Grausamkeit im Schwange geht und das Verbrechen sich maßlos breit macht. Wollten wir dies klüglich bedenken, so würden wir es besser als eine Wohltat Gottes schätzen, dass er uns in einem erträglichen Stande erhält und uns nicht jämmerlicher Verstörung anheim fallen lässt. Es sind öffentliche Feinde des Menschengeschlechts, ja wilde Bestien, die ihren Eifer daranwenden, das bürgerliche Regiment ins Wanken zu bringen. Als ein Zeichen abscheulichster Verwirrung verrechnet es der Prophet, dass der Jüngere stolz sein wird wider den Alten und der geringe Mann wider den geehrten. Denn das ist das Allerverkehrteste, wenn man in schamloser Weise denen eine Schmach antut, welchen man Verehrung schuldet. Solche entsetzlichen Zustände, deren man sich schämen muss, treten aber unausbleiblich ein, wenn die bürgerliche Ordnung zerrissen ist.

V. 6. Dann wird einer seinen Bruder ergreifen usw. Indem Jesaja das äußerste Elend des Volks beschreiben will, sagt er, es werde trotz aller Bitten niemand sein, der die Sorge des Regiments auf sich nehmen will. Im Allgemeinen vermag der Ehrgeiz unter den Menschen so viel, dass alle um die Wette nach der Herrschaft greifen; selbst mit Lebensgefahr streckt man sich danach aus, wie denn zu allen Zeiten die Herrschbegier den ganzen Erdkreis erschüttert hat. Auch die geringste Landschaft auf Erden findet immer Leute, die freiwillig Regierer sein wollen: ein so ehrsüchtiges Wesen ist der Mensch. Es muss also ein vollkommen verzweifelter Zustand sein, wenn man solche Würde nicht bloß gering schätzt, sondern sogar hartnäckig von sich stößt; es ist der größte Gipfel hoffnungsloser Verstörung, wenn jedermann flieht, was er doch von Natur mit höchstem Eifer sucht. Um die Zustände noch schrecklicher erscheinen zu lassen, führt Jesaja auch das Merkmal an, dass die Juden eher alles Gefühl für Menschlichkeit und Erbarmen in sich ertöten, als ein Regierungsamt übernehmen werden. Wenn jemand über fremde Stämme nicht Herrscher werden will, so wird man sich darüber nicht allzu sehr zu wundern brauchen. Wo es sich aber um das Wohl der Brüder handelt, ist es mehr als unmenschlich, eine so ehrenvolle Aufgabe abzuweisen. Wenn jemand die Last der Herrschaft von sich abwälzt, obwohl seine Blutsverwandten ihn um seine treue Hilfe bitten und sich seinem Schutz anvertrauen wollen, so müssen die Zustände aufs äußerste verzweifelt liegen. Weiter pflegt man die Vermöglichsten zu Regenten zu bestimmen, oder wenigstens solche zu wählen, die hinreichende Mittel haben, damit nicht etwa die Armut sie der Verachtung und dem Gespött aussetze oder sie zu schmutzigem Gewinn verleite. So ist es ein neuer erschreckender Umstand, dass auch Männer die Last nicht auf sich nehmen wollen, die sie sonst wohl tragen konnten. Der Prophet schildert, wie nicht bloß Leute aus dem gemeinen Volk, sondern auch vornehme und sonst glänzend gestellte Männer ein Regierungsamt fliehen werden. Und welcher Nachdruck liegt schon in dem Wort, dass einer den andern mit Händen „ergreifen“ wird! Die Menschen, die einen Fürsten suchen, werden also nicht bloß mit Schmeichelreden und Bitten arbeiten, sondern einen lärmenden Auflauf verursachen, um irgendeinen zu greifen und zum Regieren zu zwingen. Nicht geringerer Nachdruck liegt auf dem letzten Satz: dieser Einsturz sei unter deiner Hand. Das will besagen: wenn noch irgendetwas von Erbarmen und Menschlichkeit in deiner Brust ist, so lass es dich nicht verdrießen, unserm äußersten Elend zu Hilfe zu kommen! Denn wenn ein Schwarm von Menschen wie eine zerstreute Herde in Trauer über diese Zerrissenheit einen Hirten um seine treue Hilfe bittet, so gehört schon eine eiserne Härte dazu, die hilfreiche Hand zurückzuhalten.

V. 7. Er aber wird an jenem Tage schwören usw. Dass er schwört, ist der Ausdruck entschlossener und heftiger Ablehnung. Denn oft lässt ein Mensch, der zuerst sich geweigert und abgelehnt hat, etwas zu tun, sich noch durch Bitten erweichen. Wer aber unter Einsetzung seines Eides eine Sache ablehnt, schließt jede Hoffnung aus, weil er völlig klar und fest steht. Dass er „an jenem Tage“ schwört, will vielleicht besagen, dass er es sofort tut, ohne weiter zu zögern und zu überlegen. Will man aber den Ausdruck als einen anschaulichen Hinweis auf das Elend jener Zeit verstehen, so will ich auch damit zufrieden sein. Alles in allem steht fest, dass es kein Heilmittel gegen die zerrütteten Zustände geben soll.

V. 8. Jerusalem fällt dahin usw. Damit Gott nicht grausam erscheine, wenn er ein so strenges Gericht über sein Volk ergehen lässt, wird hier kurz der Grund des Zusammenbruchs angegeben. Der Prophet will sagen, dass dies gottlose Volk, welches so hartnäckig und in vielerlei Weise seinen Gott erbittert hat, mit Recht zu Grunde geht. So wird der Welt, die gegen jede strengere Züchtigung sich in ihrer Frechheit aufzulehnen pflegt, der Grund zum Widerspruch genommen. Dass die Israeliten zu Schandtaten aller Art geneigt waren, deutet der Satz an, dass ihre Zunge und ihr Tun wider den Herrn ist. Von der Zerstörung der Stadt wird, obwohl sie doch erst in der Zukunft vor sich gehen soll, in der Gegenwartsform geredet: so wird sie uns anschaulich vor Augen gestellt.

Dass sie den Augen seiner Majestät widerstreben. Dass Israel den Herrn absichtlich reizt, lässt sein Verbrechen besonders schändlich erscheinen. Ist es doch für uns eine schwere Beleidigung, wenn man vor unsern Augen etwas tut, was uns missfällt. Freilich spotten die Gottlosen des Herrn, als könnten sie ihn täuschen. Aber weil nichts so verborgen ist, dass es ihm entgehen könnte, wirft ihnen Jesaja vor, dass sie offen und ohne Scheu vor seinem Angesicht ihre Schandtaten vollbringen. Ausdrücklich wird an Gottes Majestät erinnert: denn wer sich durch sie nicht zur ehrfürchtigen Scheu stimmen lässt, muss schon ganz rasend sein. Gott hatte seine Majestät so herrlich vor dem Volk Israel erhoben, dass es sich mit gutem Grund hätte demütigen müssen, wenn noch etwas von Scham oder Bescheidenheit in ihm gewesen wäre. Mögen also die Gottlosen wider den Herrn murren und ihn der Grausamkeit zeihen, so wird doch der Grund des Unglücks, das auf ihnen lastet, bei ihnen selbst gefunden werden.

V. 9. Das Aussehen ihres Angesichts zeugt wider sie. Da der Prophet mit unverschämten und frechen Heuchlern zu tun hatte, die sich in ihrer Schamlosigkeit für gute Leute ausgaben, darum sagt er, dass man Zeugen für ihre Schlechtigkeit nicht von weit her holen müsse: sie steht ihnen schon auf dem Gesicht geschrieben. Mögen sie andere Menschen oft mit ihrer heuchlerischen Miene täuschen, - Gott zwingt sie doch, sich zu zeigen und zu verraten, wie sie sind. So müssen sie wider Willen das Zeichen ihrer Trügereien und Heucheleien gleichsam auf der Stirn tragen. Schließlich rühmen sie ihre Sünde, wie die zu Sodom. Sie sind derartig der Bosheit ergeben, dass sie mit ihren Schandtaten schamlos prahlen. Es gilt bei ihnen als rühmlich und löblich, den Unterschied zwischen ehrbarem und schändlichem Tun niederzutreten und sich alles zu erlauben. In dieser verblendeten Lust, die stumpfsinnig und tierisch in jedes Unrecht hineinstürmt, gleichen sie den Leuten von Sodom. Darin besteht also das Zeugnis ihres Angesichts, von welchem soeben die Rede war, dass man offenbare Zeichen der Gottlosigkeit an ihnen sieht, die reichlich genügen, sie schuldig zu sprechen.

Weh ihrer Seele! Damit wiederholt der Prophet, dass der Grund allen Übels in ihnen selbst liegt: sie bringen sich selbst in alles Unglück, weil sie mit ihren Verbrechen und Schandtaten den Herrn reizen. Darum werden sie vergeblich zu entschlüpfen suchen und allerlei Vorwände ausdenken; denn das Böse wohnt in ihren Gebeinen, - und man wird nicht heuchlerisch dem Herrn zuschieben können, dass er sie ohne Grund verfolgt. Der Prophet ruft ihnen zu: Erkennet, dass der Anlass bei euch selbst ist. Gebt dem gerechten Richter seine Ehre, und schreibt alle Schuld euch selbst zu!

V. 10. Prediget von den Gerechten, dass sie es gut haben. Weil das schwere Strafgericht für die Frommen eine bittere Versuchung sein konnte, zumal jedes öffentliche Unglück die Guten mit den Bösen zu treffen pflegt, erinnert der Prophet an Gottes Vorsehung, die nichts achtlos durcheinander mischt, sondern selbst in scheinbarer Verwirrung Gute und Böse zu unterscheiden weiß. Dass man von den Guten predigen soll, will besagen, dass man von dem, was man damit ausspricht, fest überzeugt sein darf. Wie unglücklich der Fromme augenblicklich zu sein scheint, so wird er doch glücklich dastehen. Weil aber dieser Glaube dem Menschen nicht leicht eingeht, wird noch hinzugefügt: sie werden die Frucht ihrer Werke essen, d. h. sie werden um den Lohn ihrer Gerechtigkeit nicht betrogen werden.

V. 11. Weh aber den Gottlosen usw. Jetzt wird von den Gottlosen das genaue Gegenteil gesagt. Sie sollen also mit Gottes Gericht geschreckt, die Frommen aber getröstet werden. Denn wenn ein schwereres Unglück sich ereignet, welches unterschiedslos viele Menschen trifft, fangen wir an zu zweifeln, ob die Welt durch Gottes Vorsehung, oder durch ein blindes Schicksal regiert werde. Die Frommen zittern und fürchten samt den Gottlosen, in dem gleichen Verderben untergehen zu müssen. Andere spinnen den Gedanken aus, es sei gleich, ob man ein gutes oder böses Leben führe: sähe man doch, dass Pestilenz, Krieg, Hungersnot und andere Plagen die einen wie die anderen hinraffen. Es schleicht sich die gottlose Meinung ein, dass zwischen dem Lohn der Guten und der Bösen kein Unterschied besteht. In solchen Täuschungen lassen sich dann viele durch die Empfindung ihres Fleisches zur Verzweiflung treiben. Darum prägt der Prophet ein, dass Gottes Gericht recht ist, damit man fortfahre, den Herrn zu fürchten, und wisse, dass nicht ungestraft ausgehen wird, wer in der Erwartung, dass Gott alles gehen lasse, seiner spottet. Er mahnt, dem Herrn das Lob der Gerechtigkeit zu spenden. Wähne nur niemand, dass in der Welt ein blindes Schicksal regiere, oder dass Gott in blindem Ansturm ohne Recht und Billigkeit losbreche! Jedermann sei tief im Herzen überzeugt, dass es dem Gerechten gut gehen werde. Der Herr wird ihm vergelten, was er verheißen hat, und wird seine Hoffnung nicht enttäuschen. Auf der andern Seite soll man ganz gewiss sein, dass den Gottlosen das unglücklichste Los treffen wird, weil er sich selbst das Übel herbeizieht, das ganz sicher endlich einmal auf seinen Kopf zurückfallen wird. Der Prophet tadelt also mit diesen Worten den Stumpfsinn des Volkes, welches keine Empfindung für Gottes Gericht hat. Denn es musste die Strafe für seine Sünden tragen und blieb doch gleichgültig und stumpf. Ein schlimmerer Zustand, als dass jemand gegen alle Schläge sich unempfindlich zeigt und nicht einmal fühlt, dass Gott ihn züchtigt, lässt sich nicht denken. Wo solche Stumpfheit herrscht, steht es ganz verzweifelt um einen Menschen.

V. 12. Kinder sind Gebieter meines Volks. Noch immer straft der Prophet die Verkehrtheit und Stumpfheit des Volkes, das in ganz klaren Dingen blind ist. Gewöhnlich lassen die Menschen sich nicht gern ein Joch auflegen, noch unterwerfen sie sich willig der Herrschaft eines Mächtigeren. Es muss also ihr Geist schon gebrochen und entnervt sein, wenn sie schwachen und weibischen Menschen gehorchen und sich von ihnen unterdrücken lassen. Wer wie ein Esel den Sattel freiwillig auf seine Schultern legen lässt, dem hat Gott ohne Zweifel den Geist der Trägheit eingegeben. Gewiss müssen auch edle Naturen zuweilen tyrannische Gewalt leiden. Was aber Jesaja den Juden vorwirft, ist dies, dass sie widerspenstig das Joch des Herrn abschütteln, aber knechtisch bereit sind, jede schändliche und schmutzige Herrschaft zu tragen. Auch damit konnten sie sich nicht entschuldigen, dass sie nur der Gewalt wichen: denn sie unterwarfen sich aus freien Stücken einem Regiment, dem sie doch gern entgangen wären. So wurde es klar, dass Gottes Hand sie mit Wahnsinn geschlagen hatte und im Schrecken umtrieb, sodass sie Kraft und Mut völlig verloren. Das war die Strafe, die Mose dem Volke angedroht hatte (5. Mos. 28, 28). Ist des doch die Weise der Propheten, sich stets auf die von Mose gegebene allgemeine Lehre zurück zu beziehen. Wie sollten Menschen, die Kraft zum Widerstand haben, sich in freiwillige Knechtschaft begeben, der sie doch nur zu gern entfliehen möchten, - wenn nicht Gott ihnen Sinn und Verstand nähme, um ihre Sünden zu strafen? So oft wir selbst Ähnliches leiden müssen, sollen wir es nicht für einen Zufall ansehen. Wir sollen es vielmehr als ein Gericht des Zornes Gottes empfinden, wenn nichtswürdige und mehr als kindische Menschen über uns herrschen. Wer dies nicht fühlt, ist nach dem Urteil des Propheten gänzlich stumpf.

Deine Leiter verführen dich. Noch immer verfolgt der Prophet den Gedanken, dass Gott den Juden heftig zürnt, weil er zu allgemeiner Verwirrung den Gottlosen die Zügel schießen lässt. Denn wenn Gott sich gnädig bewiese, könnte nur ein heiliges und glückliches Regiment walten. Wahrscheinlich war auch die große Masse ihren Fürsten so wahnsinnig ergeben, dass sie ihre Sitten und Gebote wie Orakel verehrte. Daraus war dann die überall herrschende Verderbnis entsprungen. Wegen der Gedankenlosigkeit des Volks griff die Ansteckung immer weiter um sich, sodass Jesaja eindringlich vor den Führern warnen muss, die das Volk rettungslos zugrunde richten. Es gibt keine verderblichere Seuche, als wenn die Fürsten, die doch um heilsamer Ordnung willen eingesetzt wurden, böse werden und nach Laune regieren. So schildert es aber hier der Prophet: die andere durch ihr Beispiel auf einen besseren Weg leiten sollten, stiften sie vielmehr zum Bösen an und vergiften alles.

V. 13. Der Herr stehet da, zu rechten. Solange das gottlose Wesen sich zügellos ausbreiten darf, ohne dass Gott von seiner Höhe eingreift, kann uns der Gedanke anwandeln, dass er müßig sei und sein Amt versäume. Wenn insbesondere die Herrscher geschont werden, so scheint ihnen volle Freiheit zum Sündigen eingeräumt: es scheint ein Unrecht, sie in ihrer unantastbaren Erhabenheit anzugreifen. Darum schließt der Prophet an die Klage über die Fürsten die Erinnerung, dass Gott seines Amtes walten und solche Schandtaten nicht ungestraft hingehen lassen werde. Ist doch kaum ein Anstoß schwerer und verwirrender, als wenn die Obrigkeit öffentlich das böseste Beispiel gibt, wobei niemand murrt und sogar jedermann Beifall spendet. In solcher Lage klagen wir: Wo ist der Herr, dessen Herrlichkeit im Amt der Obrigkeit widerstrahlen sollte, die aber nun durch Missbrauch der Autorität geschmälert wird! Solchem Zweifel will Jesaja jetzt begegnen: Mag das Volk durch und durch verbrecherisch und seine Führer ganz verderbt sein, mögen sie mit ihren Lastern das Volk verderben, - Gott sitzt doch als Richter im Himmel; Er wird endlich Rechenschaft fordern und einem jeglichen seinen Lohn geben. Spricht der Prophet auch die Volksmasse nicht von Schuld frei, so deckt er doch den eigentlichen Quell des Übels auf, indem er die Fürsten insbesondere angreift und ihnen die verdiente Strafe androht. Heißt es zuerst, dass der Herr als Richter aufgetreten ist, so wird des Weiteren hinzugefügt, dass er ins Gericht gehen wird (V. 14) und zwar mit den Ältesten seines Volks. Wir haben hier also denselben Sinn wie in Davids Worten (Ps. 82, 1 ff.): „Gott ist Richter unter den Göttern.“ Mag es also gegenwärtig scheinen, als könnten die Fürsten ungestraft alles tun, ohne dass irgendjemand ihrer maßlosen Laune widersteht, - einst müssen sie doch spüren, dass Gott über ihnen steht und dass sie ihm für alle ihre Taten Rechenschaft schulden. Solche tadelnde Rede werden die Richter in dieser Welt ohne Zweifel nicht gleichmütig anhören wollen. Eine so strenge und raue Behandlung behagt ihnen nicht, sie halten sie wohl gar für einen Frevel: denn sie glauben alle Macht in der Hand zu haben; ihr Wille soll wie ein Gesetz gelten; sie erlauben sich alles und meinen, dass jedermann ihnen schmeicheln und Beifall spenden müsse; auch mit ihren schlechtesten Taten soll man zufrieden sein, - niemand soll ihr Treiben richten, selbst Gott dem Herrn wollen sie nicht unterworfen sein. Weil sie sich nun derartig gehen lassen, dass sie weder Mahnungen noch Drohungen annehmen wollen, ruft sie der Prophet vor Gottes Richterstuhl.

Dass die Ältesten in ehrenvoller Weise als Älteste des Gottesvolks bezeichnet werden, geschieht in einem gewissen Entgegenkommen. Das ist bemerkenswert. Denn diese Richter meinten durch ihre Würde eine Ausnahmestellung zu besitzen, die sie über alle Gesetze erhob: mochten heidnische Könige und Fürsten Rechenschaft geben müssen, - sie wähnten, unantastbar zu sein. Sie dünkten sich über jeden Tadel erhaben und weigerten sich, mit Drohungen und Schrecken behandelt zu werden, wie gemeine Menschen. Darum erinnert Jesaja ausdrücklich, dass der Herr sich nicht an beliebige Fürsten wendet, sondern gerade auch an die hochmütigen Heuchler, denen er sein Volk anvertraut hatte.

Ihr habt den Weinberg verderbt. Diese gleichnisweise Bezeichnung des Volks Israel kehrt mehrfach wieder (5, 1 ff.). Die Sünde der Ältesten wiegt doppelt schwer, weil sie des Volks, das Gott mit einziger Liebe umfasste, nicht schonten, sondern es wie ein unheiliges Geschlecht tyrannisierten. Mit großem Nachdruck werden sie darum angeredet: „Ihr.“ So spricht Gott zu eben den Weingärtnern, die über den Weinberg gesetzt waren, um ihn zu pflegen, und die ihn wie wilde Tiere verwüstet haben. Welch´ unerhörte Grausamkeit und Untreue, dass sie verderben, was sie erhalten und schützen sollten! Der Herr zeigt mit diesem Gleichnis, wie er für die Seinen sorgt und wie unvergleichlich er sie liebt. Nicht bloß, dass die Gemeinde sein Weinstock und Erbe heißt, - der Herr versichert auch, dass er die verbrecherische Untreue der tyrannischen Gewaltherrscher nicht gewähren lassen will. Er greift ein Beispiel heraus, welches ihr Leben und Treiben überhaupt erkennen lässt: der Raub von den Armen ist in eurem Hause. Das Haus einer obrigkeitlichen Person sollte wie ein Heiligtum dastehen. Denn ein Richter sitzt auf Gottes hochheiligem Stuhl. Es ist also der schlimmste Gottesraub, aus einem Heiligtum eine Räuberhöhle zu machen. Vollends schwer wird das Verbrechen, wenn es sich gegen die Armen richtet. Denn einem dürftigen und elenden Menschen, der sich selbst nicht schützen kann und dem man noch helfen müsste, sein Eigentum zu nehmen, ist die grausamste Art aller Räuberei.

V. 15. Warum zertretet ihr mein Volk? Jetzt zählt der Prophet noch andere Stücke auf, aus denen man sieht, wie hochfahrend, grausam und schmählich jene Leute ihr Regiment führten. Alles aufzuzählen, was an den Fürsten Tadel verdiente, war nicht erforderlich: schon die genannten Stücke kennzeichnen ihre ungerechte, wüste und tyrannische Herrschaft. Wo anders als bei der Obrigkeit soll der Arme seine Zuflucht suchen, die eine Mutter des Vaterlandes und eine Helferin für die Elenden sein soll! Die Frageform, in welche der Tadel gekleidet ist, wirkt besonders nachdrücklich: Welch` freches und barbarisches Wüten, so schonungslos die hilflose Lage der Armen auszubeuten? Dabei wird die hochmütige Unterdrückung des Elenden mit einem doppelten Bilde beschrieben.

Spricht der Herr, Herr Zebaoth. Um dem Tadel die nötige Autorität zu geben, wird er dem Herrn selbst in den Mund gelegt. Was der Prophet sagt, soll man nicht annehmen, als käme es bloß aus Menschenmund. Gott selbst erhebt Anklage und will das Unrecht verfolgen und rächen. Wer eine gewisse Stufe der Ehre erreicht hat, pflegt sich maßlos zu erheben und alle Mahnungen zu verachten. Gegen solchen Übermut setzt der Prophet Gottes Majestät, damit man nicht wage, sich über seine ernsten und schweren Drohungen hinwegzusetzen. Übrigens darf die Stelle nicht so verstanden werden, als wolle der Prophet lediglich Gottes Erbarmen gegen die Elenden verkündigen. Denn er hat zuvor ganz im Allgemeinen Gottes Rache für alle verkündigt und wendet sich dann insbesondere an die Häupter, damit niemand glaube, der Hand des Herrn entfliehen zu können. Er zieht einen Schluss vom Größeren auf das Kleinere: Wie sollte Gott das gemeine Volk schonen, wenn er sogar die Fürsten strafen will, die seinen Weinberg verderbt haben.

V. 16. Darum dass die Töchter Zions stolz sind usw. Jetzt folgt eine weitere Drohrede, die sich gegen die Eitelkeit und den hochfahrenden Luxus der Frauen richtet. Dabei hält der Prophet nicht eine bestimmte Ordnung inne, sondern tadelt, wie es die Sache zu erfordern scheint, bald dieses, bald jenes Laster. Am Schluss seiner Predigt fasst er dann noch einmal alles zusammen, wie wir schon beim ersten Kapitel sahen. So fährt er hier gegen kostbare Kleider und überflüssigen Schmuck los als gegen gewisse Zeichen hohler Prunksucht. Überall, wo man in seiner Haltung und dem Glanz seiner Kleidung ausschweifend wird, steckt ein hochfahrendes Wesen im Hintergrunde, und ein Fehler reiht sich an den andern. Denn woher anders als aus dem Stolz erwächst bei Männern und Weibern der Luxus? Diesen Stolz nennt also der Prophet mit Recht zuerst; denn er ist die Quelle des Übels. Dann wendet er sich zu seinen Anzeichen: die Töchter Zions gehen mit aufgerichtetem Halse einher. Denn wie es ein Zeichen von Bescheidenheit ist, den Blick zu senken, so ist eine gar zu starke Erhebung desselben ein Beweis anmaßlichen Gebarens. Vollends bei einem Weibe kann ein steif getragener Nacken den Stolz nur noch weiter aufblasen. Es ist sehr klug vom Propheten, dass er mit der Quelle den Anfang macht. Hätte er mit den äußeren Kennzeichen angehoben, wie Kleidung, Gang und Gebaren, so hätte man entgegnen können, dass das Gemüt dennoch recht und rein sei; auch sei ein etwas feinerer Schmuck in der Kleidung noch kein hinreichender Grund, die Betreffenden so hart anzulassen und vor Gottes Richterstuhl zu zitieren. Um solch eitlen Einwürfen von vornherein zu begegnen, deckt der Prophet den inwendigen Fehler auf, der sich in der ganzen äußeren Haltung kundtut. Dass die Töchter Israels mit herumschweifenden Augen einhergehen, wird als ein Zeichen schamloser Gesinnung angemerkt, die sich am meisten in den Augen zu verraten pflegt. Unzüchtige Augen lassen auf ein unzüchtiges Herz schließen. Ehrbare Frauen haben dagegen einen gesammelten, nicht einen unsteten und herumschweifenden Blick. Dass die Töchter Israel einhertreten und schwänzen, deutet ebenfalls auf ein leichtfertiges Gebaren, welches einen lüsternen Sinn verrät. Dass sie mit den Füßen klirren, erinnert daran, dass die Frauen auf ihren Sandalen Glöckchen trugen, die beim Gehen ihren Schall von sich gaben.

V. 17. So wird der Herr die Scheitel der Töchter Zions kahl machen. Jetzt verkündigt der Prophet, da freundliche Mahnungen und Worte nichts bessern, werde der Herr ganz anders mit den Töchtern Zions verfahren: er wird nicht bloß mit harter und strenger Rede, sondern auch mit bewaffneter Hand zu schrecklicher Rache kommen. Und wie die Weiber ihren frechen Stolz vom Kopf bis zu den Füßen gezeigt hatten, so wird auch der Herr über alle Teile ihres Körpers seine Rache beweisen. Der Anfang wird mit dem Haupt gemacht, als dem hervorragendsten und am meisten geschmückten Teil; die übrigen Stücke folgen nach. Wir wollen uns nun einprägen, dass der Prophet mit gutem Grunde so heftig und eifrig wider die Üppigkeit der Weiber losfährt. Denn von allen ihren Fehlern ist der größte eine krankhafte Sucht, sich zu schmücken. Obwohl von Natur geizig, scheuen sie doch keinen Aufwand, um sich Schmuckstücke zu schaffen. Sie ziehen lieber an der Nahrung etwas ab, betrügen auch den Geist um seine Bildung, nur um sich eleganter und kostbarer kleiden zu können. Das ist ein zu allen Zeiten verbreitetes Laster. Da wir aber sehr geschickt und scharfsinnig sind, Entschuldigungen auszudenken, um unseren unmäßigen Luxus zu decken, darum legt der Prophet, wie wir schon sagten, den Finger auf die Quelle des ganzen Übels und deckt als solche den krankhaften Ehrgeiz auf, durch welchen die Menschen sich zeigen und einander übertreffen wollen. Um ja in die Augen zu fallen und aller Blick auf sich zu lenken, wollen sie durch geschmückte Kleider glänzen. Nachdem aber der Prophet auf diese Quelle hingewiesen, zählt er eine Unsumme von einzelnen Stücken auf, um die Torheit der Weiber an den Pranger zu stellen. Die Reihe wird so lang, weil die Frauen in der Aufhäufung solcher Dinge nur zu eifrig sind. Der Wortreichtum dieser Aufzählung ist nicht überflüssig: er will über die unersättliche Begierde spotten. In der Erläuterung der einzelnen Schmuckstücke besteht bei den gründlichsten Kennern der hebräischen Sprache und Sitten mancherlei Verschiedenheit, sodass ich mich dabei nicht länger aufhalten will. Genug, dass wir die Absicht des Propheten verstehen: er hat alle diese Kindereien auf einen Haufen gebracht und hergezählt, um eben an dieser Masse die unentschuldbare Hoffart und Verschwendung zu zeigen. Denn das wäre doch gar zu unverschämt, zu behaupten, dass alle die Unnatur, welche die leichtfertige Eitelkeit der Weiber ausgedacht hat, zur Bedeckung des Körpers notwendig wäre. Wie viele Stücke zählt doch der Prophet auf, die weder durch die Natur noch durch irgendein Bedürfnis noch durch ein würdiges Auftreten erfordert werden! Was haben (V. 20) Nasenringe, Bisamäpfel oder Riechbüchschen, Ohrspangen u. dgl. für einen Zweck? Es ist doch ganz klar, dass man diesen Haufen von Überflüssigkeiten mit keiner Entschuldigung decken kann. Es ist das alles maßloser Luxus, den man eindämmen und zügeln sollte, oft auch ein Lockungsmittel, welches den Geist verweichlicht und zu böser Lust reizt. Darum dürfen wir uns nicht wundern, wenn der Prophet gegen dieses Laster so heftig losfährt und schwere Strafen androht.

V. 24. Und wird Gestank für guten Geruch sein. Wir wissen, dass der Orient wohlriechende Salben im Überfluss besitzt. So ist kein Zweifel, dass man, wie in anderen Stücken, so auch in einschmeichelnden Wohlgerüchen einem wahrhaft überfließenden Luxus huldigte. Sehen wir doch schon bei Völkern, die vom Morgenlande sehr weit entfernt wohnen, dass man sich weder durch den räumlichen Abstand, noch durch hohe Kosten abhalten lässt, in solchem Luxus zu schwelgen. Wie wird es nun erst stehen, wo man vom Überfluss geradezu umgeben ist! Man wird sich ohne jeden Zweifel zu lüsterner Üppigkeit verlocken lassen. Ist doch die Begier der Menschen nur zu erfinderisch und unersättlich. So begreifen wir, dass der Prophet über den Missbrauch von Salben und Wohlgerüchen sich beklagen muss. Für die Strafen, der er ankündigt, wählt er Ausdrücke, die im Gegensatz zu der betreffenden Form des Luxus stehen, z. B. eine Glatze für ein kraus Haar. Endlich: Verbrennung anstatt deiner Schöne. Wagten doch vornehme Frauen kaum, in die Sonne zu gehen, um sich nicht zu verbrennen; so soll gerade dies ihnen geschehen. Es werden hier also Männer und Weiber ermahnt, in Nahrung, Kleidung und ganzer Lebenshaltung die Gaben Gottes mäßig zu gebrauchen. Ein luxuriöses Wesen ist dem Herrn unerträglich; da er ihm mit leichteren Züchtigungen kein Ziel setzen kann, droht er ihm schwerere Strafen an.

V. 25. Deine Mannschaft wird durchs Schwert fallen. Dieser Ausdruck passt nicht mehr für die einzelnen Frauen, sondern wendet sich an das ganze Jerusalem und das Königreich Juda. So kehrt der Prophet zu allgemeiner Rede zurück, nachdem er gezeigt hat, dass nicht bloß der ganze Körper, sondern auch jedes einzelne Glied, insbesondere die Weiber, von Ansteckung ergriffen sind. Auch die nächsten Sätze passen allein auf das ganze Volk. Ihm wird die Strafe angedroht, dass Gott seine Kraft im Kriege zerschmettern will. Durch mancherlei Niederlagen wird bewirkt (V. 26), dass die Tore trauern und klagen werden. Damit ist gesagt, dass die Stätten, wo das Volk am dichtesten sich versammelte, schaurig leer stehen werden. Denn bekanntlich pflegten unter den Toren Zusammenkünfte gehalten zu werden. Wie die Tore sich über die Menge der Bürger gleichsam freuen, so heißt es von ihnen, dass Ödigkeit und Verwüstung sie betrübt. Dabei vergleicht der Prophet das ganze Jerusalem einem trauerndem Weibe, welches seine Witwenschaft beweint: es wird jämmerlich sitzen auf der Erde. So pflegte man es im Morgenlande in Trauerstimmung zu tun, wie man denn weit mehr, als wir es gewöhnt sind, an solchen Zeremonien und äußeren Darstellungen hing. Alles in allem will der Prophet sagen, dass die Stadt von Einwohnern verlassen sein wird.

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autoren/c/calvin/calvin-jesaja/calvin-jesaja_-_kapitel_3.txt · Zuletzt geändert: von aj
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