Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 2.

Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 2.

V. 1. Darum sollen wir usw. Nun zeigt sich, was die vorausgegangene Vergleichung Christi mit den Engeln bezweckte: seinem Wort das höchste Ansehen zu sichern. Denn wenn das Gesetz, das durch Engel gegeben war, nicht geringschätzig durfte aufgenommen werden und auf seine Übertretung schwere Strafen gesetzt waren, was haben dann, fragt der Brief, die Verächter des Evangeliums zu erwarten, das den Sohn Gottes zum Urheber hat und durch so viele Wunder bestätigt ist? Das ist der Inhalt dieses Abschnittes: in dem Maße, als die Würde Christi größer ist als die der Engel, gebührt dem Evangelium mehr Ehrfurcht als dem Gesetz. Die Person des Urhebers dient dem Worte zur Empfehlung. Wohl rührt das Gesetz ebenfalls von Gott her; und so oft Gott redet, ist ihm Gehör zu schenken. Allein wo er in vollerem Maße sich uns kundgibt, ist es billig, dass zugleich mit der reicheren Offenbarung die Frucht und der Eifer des Gehorsams wachsen. Nicht als ob Gott zu einer Zeit kleiner wäre als zu einer andern; aber seine Größe wird von uns nicht immer gleicherweise erkannt.

Hier erhebt sich noch die Frage, ob denn nicht das Gesetz ebenfalls durch Christi Vermittlung gegeben worden sei. Wenn ja, so scheint die Beweisführung des Apostels hinfällig. Ich antworte, dass hier zwischen verdeckter und vollendeter Offenbarung zu unterscheiden ist. Wiewohl bereits im Gesetz Christus den Menschen dunkel und gleichsam verhüllt genaht ist, so ist es doch nicht verwunderlich, wenn ohne Erwähnung seiner Person die Übermittlung des Gesetzes den Engeln zugeschrieben wird; denn offen ist er dort nicht in die Erscheinung getreten. In der Verkündigung des Evangeliums dagegen ist seine Herrlichkeit deutlich sichtbar geworden.

Dass wir nicht dahinfahren. Der wahre Sinn ergibt sich aus dem Gegensatz. „Wahrnehmen“ und „dahinfahren“ stehen sich gegenüber. Das erste bedeutet „festhalten“, das zweite dagegen „wie ein Sieb oder schadhaftes Fass den Inhalt verschütten“. Ich teile nämlich nicht die Ansicht derer, die es für „sterben“ nehmen, wie es 2. Sam. 14, 14 heißt: Wir sterben des Todes und sich wie Wasser, so in die Erde verläuft. Vielmehr ist, wie gesagt, der Gegensatz von Sammlung und Zerstreuung ins Auge zu fassen. Ein gesammeltes und aufmerksames Gemüt ist gleich einem wohl verschlossenen Gefäße, das unstete und träge aber einem löchrigen.

V. 2. Fest worden ist. Das will sagen: es hat sein Gewicht bekommen, und zwar durch die beigegebenen göttlichen Strafandrohungen, indem niemand ungeahnt das Gesetz missachtete. Die Festigkeit bedeutet also Rechtsgültigkeit: das Wort, über dem Gott als Vergelter wacht, kann nicht leer oder unwirksam sein.

V. 3. So wir eine solche Seligkeit nicht achten. Nicht bloß die Verwerfung, sondern auch das Nichtachten des Evangeliums verdient schwerste Strafe angesichts der Größe der Gnade, die uns darin angeboten wird. Denn Gott will, dass seine Gaben von uns nach Würdigkeit geschätzt werden. Je wertvoller sie sind, desto hässlicher ist unser Undank, wenn sie uns nichts gelten. Die Hoheit Christi gibt einen Maßstab für die Strenge der göttlichen Rache wieder alle Verächter des Evangeliums.

Mach beachte auch, dass hier der Ausdruck „Seligkeit“ anstatt des verkündigten Wortes steht. Der Herr will ja die Menschen nicht anders selig machen als durch das Evangelium, so dass, wer dieses geringschätzt, jede Seligkeit von Gott her verschmäht; denn es ist Kraft Gottes zur Seligkeit allen Glaubenden (Röm. 1, 16). Wer daher anderswo sein Ziel sucht, will es durch andere als Gottes Kraft erlangen, was allzu närrisch wäre. Übrigens dient das Gesagte nicht allein zur Mahnung, sondern auch zur starken Stütze unsres Glaubens, weil dadurch bezeugt wird, dass im Worte gewisses Heil beschlossen ist.

Nachdem sie erstlich gepredigt ist durch den Herrn. Der Apostel stellt den Sohn Gottes als ersten Verkündiger des Evangeliums den Engel gegenüber und beugt zugleich einem Zweifel vor, der manche beschleichen konnte. Sie waren nämlich nicht durch Christus selbst, den sie großen Teils nie gesehen, unterwiesen worden. Hätten sie nun lediglich auf die Menschen geschaut, durch deren Lehre sie zum Glauben gekommen waren, so hätten sie das bei jenen Gelernte zu gering angeschlagen. Daher erinnert der Apostel, dass das Wort, wenn auch durch andrer Mund ihnen überliefert, doch nichtsdestoweniger von Christus ausgegangen sei. Es sind Christi Jünger gewesen, die das von ihm ihnen Anvertraute treulich weitergetragen haben. Daher der Ausdruck„bestätigt“ : nicht ein ausgestreutes Gerücht ohne sichere Quelle oder mit verdächtigen Zeugen ist es gewesen, sondern eine ernsthaft beglaubigte Sache. – Im Übrigen zeigt diese Stelle, dass der Brief nicht von Paulus verfasst ist. Er pflegt sich nicht so bescheidentlich als einen Apostelschüler auszugeben: nicht aus Ehrsucht, sondern weil die Feinde aus dergleichen Kapital zu schlagen suchten zur Verkleinerung seiner Lehre (Gal. 1, 12).

V. 4. Und Gott hat ihr zugleich Zeugnis gegeben. Außerdem dass die Apostel ihre Verkündigung vom Sohne Gottes her hatten, hat der Herr in außerordentlichen Ereignissen ihre Predigt gleichsam mit feierlicher Unterschrift anerkannt. Deshalb versündigt sich nicht nur gegen das Wort, sondern auch gegen das Werk Gottes, wer nicht ehrfürchtig das Evangelium annimmt, dem solche Zeugnisse zur Seite stehen. In drei Ausdrücken werden jene außerordentlichen Erscheinungen geschildert. Zeichen heißen sie darum, weil sie den Sinn der Menschen auf etwas Höheres über der sichtbaren Welt lenken; Wunder, weil sie etwas Neues und Ungewohntes enthalten; Kräfte, weil in ihnen der Herr einer besondere und außergewöhnliche Probe seiner Kraft gibt. In dem „Zeugnis geben“ liegt der rechte Gebrauch der Wunder angedeutet, dass sie nämlich zur Bekräftigung des Evangeliums dienen sollen. Denn von beinahe allen Wundern aller Zeiten ließe sich herausfinden, dass sie Siegel des Wortes Gottes zu sein bestimmt waren. Umso verkehrter ist der papistische Aberglaube, der seine angeblichen Mirakel zur Untergrabung der lauteren Wahrheit ausspielt. Das „zugleich“ bedeutet, dass wir im Glauben an das Evangelium bestärkt werden durch einen harmonischen Einklang Gottes und der Menschen, indem die Gotteswunder wie bekräftigende Zeugenaussagen mit den Menschenstimmen sich vereinigen. Die Austeilung des heiligen Geistes ist ebenfalls eine förderliche Begleiterscheinung der Evangeliumsverkündigung gewesen. Denn wozu sonst hat Gott die Gaben seines Geistes ausgeteilt, als um teils die Bekanntmachung des Evangeliums zu unterstützen, teils durch das Staunen, das sie erregten, die Menschen zum Gehorsam willfährig zu machen? (Vgl. 1. Kor. 14, 22). Nach seinem Willen: alle jene erwähnten Kräfte können nur auf Gott zurückgeführt werden und sind nicht planlos zutage getreten, sondern gemäß seinem bestimmten Ratschluss, zur Besiegelung des Evangeliums.

V. 5. Denn nicht den Engeln usw. Ein weiterer Beweis für den Christo schuldigen Gehorsam: ihm hat der Vater die Herrschaft über die ganze Erde verliehen, eine Ehre, von der die Engel weit entfernt sind. Zunächst ist aber das angeführte Psalmwort zu beleuchten, da seine Anwendung auf Christus scheinbar ungeschickt ist. David erwähnt daselbst die Privilegien, mit denen Gott das menschliche Geschlecht ausstattet. Nachdem er nämlich am Himmel und an den Gestirnen die Macht Gottes betrachtet, steigt er herunter zu den Menschen, an denen seine wunderbare Güte besonders zutage tritt. Nicht von einem einzelnen Menschen ist also die Rede, sondern von der Gesamtheit. Allein das alles hindert dennoch nicht, dass jene Aussagen mit Christi Person verknüpft werden müssen. Am Anfang ist der Mensch freilich in den Besitz der Welt eingesetzt worden als ein Herr über alle Werke Gottes; aber durch seinen Abfall hat er es verschuldet, dass er dieser Herrschaft entsetzt wurde. Denn bei einem Vasallen und Günstling ist das die gerechte Strafe für Undank, dass ihm sein Herr, den anzuerkennen und dem in schuldiger Treue zu dienen er sich weigert, das zuvor bewilligte Vorrecht entzieht. Sobald sich also Adam durch die Sünde Gott entfremdet hatte, ist er aller empfangenen Güter verdientermaßen verlustig gegangen: nicht dass er ihren Gebrauch verloren hätte, aber den rechtmäßigen Anspruch konnte er, nachdem er Gott verlassen, nicht mehr aufrechterhalten. Auch was den Gebrauch betrifft, sind nach Gottes Willen Zeichen des Falles vorhanden, wie z. B. dass die Tiere in Wildheit sich gegen uns auflehnen und, statt vor unserm Blick sich zu scheuen, uns Schrecken einflößen, dass sie teils überhaupt nicht, teils nur mit Mühe zu zähmen sind und mannigfach Schaden anrichten, dass die Erde den Ertrag schuldig bleibt und Himmel, Luft, Meer und andere Naturgebiete uns oft mit Unheil bedrohen. Allein, wenn auch alle Kreaturen im Verhältnis der Unterwürfigkeit blieben, so wird doch den Söhnen Adams, was irgend sie für sich in Anspruch nehmen, als Diebstahl angerechnet. Denn was sollen sie als ihren Besitz rühmen, da sie selbst nicht Gottes sind? Auf Grund des Gesagten erhellt, dass jene göttliche Privilegierung uns nichts angeht, bis das uns in Adam verloren gegangene Recht durch Christus wiederhergestellt ist. Deshalb lehrt Paulus, dass das Genossene uns durch den Glauben geheiligt werde (1. Tim. 4, 5), und sagt anderwärts, den Ungläubigen sei nichts rein, weil sie ein beflecktes Gewissen haben. Das hängt mit dem zusammen, was wir zum Eingang dieses Briefes sahen, dass Christus vom Vater als Erbe über alles gesetzt ist. Indem das ganze Erbe einem überwiesen wird, sind ohne Zweifel alle übrigen als Fremde davon ausgeschlossen, und zwar billigerweise; denn im Reiche Gottes haben wir alle kein Bürgerrecht. Wir dürfen mithin nicht an uns reißen, was er seinen Hausgenossen zum Unterhalt bestimmt hat. Nun gibt uns aber Christus, durch den wir in die Hausgenossenschaft aufgenommen werden, zugleich Anteil an seinem Vorrecht, der ganzen Welt zu brauchen mit Gottes Segen. Daher ist auch nach Pauli Wort (Röm. 4, 13) durch den Glauben Abraham der Welt Erbe geworden, insofern er nämlich dem Leib Christi eingegliedert war. So ist denn also jene Herrschaft, von welcher der Psalm spricht, in Adam uns abhandengekommen und muss uns ganz von neuem wieder verliehen werden. Mit Christus als dem Haupte beginnt die Wiederherstellung. Auf ihn haben wir darum unzweifelhaft zu schauen, so oft von des Menschen Vorzug vor allen Geschöpfen die Rede ist.

Nach der nämlichen Richtung weist der vom Apostel gewählte Ausdruck: die zukünftige Welt. Er meint damit die erneuerte. Vergegenwärtigen wir uns zu besserem Verständnis die beiden Welten: vorauf die alte, welche infolge von Adams Fall dem Verderben anheimfiel, danach die andere, wie sie durch Christus wiederhergestellt wurde. Der Zustand der ursprünglichen Schöpfung, soweit sie mit menschlichen Lebensverhältnissen zusammenhängt, ist unhaltbar geworden, mit hineingezogen in den Fall des Menschen. Erst mit der Neuschöpfung durch Christus wird also der Psalm in diesem Punkte zur Wahrheit. So ist es deutlich, dass unter der „zukünftigen Welt“ nicht bloß diejenige verstanden wird, auf welche wir nach der Auferstehung hoffen, sondern die, die mit dem Beginn des Reiches Christi ihren Anfang genommen hat; ihre Vollendung wird sie allerdings in der letzten Erlösung finden.

Gedenken und achten bedeuten (V. 6) beide das Nämliche, nur dass das letztere einen etwas volleren Sinn hat, indem es an die wirkliche Gegenwart Gottes erinnert.

V. 7. Du hast ihn eine kleine Zeit niedriger sein lassen denn die Engel. Nun taucht eine neue Schwierigkeit der Erklärung auf. Die Stelle kann zwar, wie gezeigt wurde, sehr wohl auf den Sohn Gottes gedeutet werden; aber jetzt scheint der Apostel den Worten einen ganz anderen Sinn zu geben, als den sie bei David hatten. Der Sinn bei David ist der: Herr, du hast den Menschen so hoch gewürdigt, dass er nur wenig unter Gott oder den Engeln steht, da er über die ganze Welt gesetzt ist. Hier dagegen wird das „ein wenig“ zeitlich verstanden, nämlich von der kurzen Zeit der Erniedrigung Christi, während die Verherrlichung, von David allgemein auf das ganze Leben des Menschen bezogen, mit dem Tag der Auferstehung in Beziehung gesetzt ist. Es ist eben dem Apostel nicht darum zu tun gewesen, eine unwiderlegliche Erklärung der Worte zu geben. Ohne Nachteil kann er zur Illustrierung seines vorliegenden Gegenstandes auf jene Worte anspielen, so wie Paulus Römer 10, 6 ff. bei der Anführung der Stelle aus dem 5. Buch Mose: „Wer will hinauf gen Himmel fahren?“ sogleich nicht eine Auslegung, sondern eine freie Anwendung folgen lässt von Himmel und Unterwelt. Den ursprünglichen Sinn hat der Apostel nicht umstoßen oder missdeuten wollen; nur möchte er bei Christus auf die für eine kleine Zeit zutage getretene Erniedrigung und sodann auf die Herrlichkeit, mit der er für immer gekrönt worden ist, aufmerksam machen und tut es mehr in Anspielung auf die Worte Davids als in genauem Anschluss an ihre Bedeutung.

V. 8. In dem, dass er ihm alles hat untertan usw. Man könnte vermuten, es werde hier folgendermaßen geschlossen: Dem Menschen, von welchem David spricht, wird alles untertan; nun aber ist dem menschlichen Geschlechte nicht alles untertan; also ist nicht von einem beliebigen Menschen die Rede. Indessen wäre dieser Beweisgang nicht zwingend, weil der zweite Satz auch auf Christus Anwendung findet. Denn nicht einmal ihm ist bisher alles unterworfen (1. Kor. 15, 28); der Zusammenhang ist demnach ein anderer. Nachdem zuvor festgestellt worden, dass Christus ohne Ausnahme Herr über alle Kreaturen ist, wird in Form eines Einwandes hinzugefügt: es leistet doch noch nicht alles seiner Herrschaft Folge. Um dem zu begegnen, lehrt der Apostel, in Christus sehe man nichtsdestoweniger bereits erfüllt, was gleich darauf (V. 9) von Preis und Ehre steht. Er will sagen: Obschon uns jene vollständige Unterwerfung noch nicht vor Augen liegt, wollen wir uns damit zufrieden geben, dass Christus durch seinen Tod hindurch zur höchsten Stufe der Ehre erhoben ist; denn was bisher fehlt, wird zu seiner Zeit auch noch sich erfüllen.

Indessen stoßen sich etliche daran, dass der Apostel zu spitzfindig folgere, es sei nichts, was Christus nicht untertan wäre, während doch die Dinge, die David nachher unter dem „alles“ begreife und aufzähle, nicht so weit ausschauen, die Tiere des Feldes nämlich, die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels. Hierauf ist zu entgegnen, dass die allgemeine Aussage nicht auf diese Beispiele eingeschränkt zu werden braucht, da David nichts anderes gewollt hat, als an den sichtbarsten Dingen jene Herrschaftsverleihung aufzuzeigen, oder sie ausdehnen bis auf die geringsten Dinge, damit wir wissen, nichts sei unser ohne die Gunst Gottes und die Teilhaftigmachung durch Christus. Der Gedanke könnte daher so aufgelöst werden: Alles hast du ihm untertan gemacht, nicht allein, was zur ewigen Seligkeit dient, sondern bis herab zu den Kleinigkeiten, die den leiblichen Bedürfnissen entsprechen. Wie dem auch sei, jene Herrschaft über die Tiere hängt als das Geringere an einem Höheren.

Andererseits kann gefragt werden, wieso gesagt wird, dass wir nicht alles Christo unterworfen sehen. Die oben angeführte Stelle aus 1. Korinther 15 gibt Aufschluss darüber, und im ersten Kapitel unsres Briefes haben wir einiges davon berührt. Weil Christus mit mancherlei Feinden beständig Krieg führt, ist er noch nicht im völlig ruhigen Besitz seines Reiches. Doch treibt ihn keine Notwendigkeit zum Kriege, sondern er lässt es zu, dass es nicht unterjochte Feinde gibt bis zum letzten Tag, damit wir in den daherigen Kämpfen uns erproben.

V. 9. Den aber, der eine kleine Zeit niedriger gewesen ist usw. Unter Benützung des Doppelsinnes von „ein wenig“ ist es dem Apostel, wie schon gesagt, mehr um den in Christi Person vorliegenden Tatbestand zu tun als um eine richtige Erklärung der Psalmworte. Auch weist er in der Auferstehung die Verherrlichung nach, die David auf alle Gaben, womit der Mensch durch göttliches Privileg ausgezeichnet worden ist, bezieht. Indessen ist in dieser freien Ausführung, die doch dem wörtlichen Sinn sein Recht lässt, nichts Unschickliches.

Durchs Leiden des Todes ist Christus zu seiner Herrlichkeit erhöht worden, wie auch Paulus Philipper 2, 8 – 11 lehrt. Er ist aber mit Herrlichkeit gekrönt, damit aller Knie sich vor ihm beugen (Phil. 2, 10). In diesem Endzweck offenbart sich, dass alles in seine Hand gegeben ist.

Auf dass er von Gottes Gnaden usw. Angesichts des Grundes und der Frucht von Christi Tod kann dieser ihm in unseren Augen nichts von seiner Würde rauben. Denn wenn ein so großes Gut uns dadurch erworben ist, so hat die Verachtung keinen Raum mehr, weil die Bewunderung der göttlichen Güte die ganze Seele ausfüllt. Für alle – das will nicht bloß sagen, dass er anderen ein Beispiel gibt, etwa wie ein Arzt, der den bitteren Trank vorher kostet, damit der Kranke sich nicht zu trinken weigere; sondern Christus ist für uns gestorben, weil er durch das Erleiden des Todes an unsrer statt uns von dessen Fluch losgekauft hat. Und es wird beigefügt, von Gottes Gnaden sei es geschehen, weil der Grund der Erlösung die unendliche Liebe Gottes gegen uns ist, kraft deren er auch des eignen Sohnes nicht hat verschont (Röm. 8, 32). Die Erklärung des Chrysostomus, wonach „den Tod schmecken“ ein nur oberflächliches Nippen bedeute, da ja Christus als Sieger aus dem Tod hervorgegangen sei, verwerfe und missbillige ich nicht, weiß aber nicht, ob der Apostel so feine Unterscheidungen in der Rede hat machen wollen.

V. 10. Denn es ziemte usw. Hier geht die Absicht dahin, Christi Erniedrigung bei den Gläubigen ins Licht der Herrlichkeit zu stellen. Denn mit dem Annehmen unsres Fleisches scheint er in den gewöhnlichen Rang der Menschen einzutreten. Das Kreuz aber erniedrigt ihn unter alle Menschen; daher ist Vorsorge zu treffen, dass Christus nicht um deswillen, dass er freiwillig unsertwegen sich entäußerte, geringer geachtet werde. Der Apostel zeigt nämlich, gerade das müsse dem Sohne Gottes zur Ehre ausschlagen, weil er so zum Herzog unsrer Seligkeit geweiht worden sei. Zunächst setzt er als zugestanden voraus, dass wir uns an Gottes Ratschluss zu halten haben, da alle Dinge, wie sie zustande kommen durch seine Kraft, so auch seiner Ehre dienen müssen; für Christi Leiden gibt es insofern keinen besseren Grund, als dass es Gott so gefallen hat. Dahin weist die Ausdrucksweise: um deswillen und durch den alle Dinge sind. Der Verfasser hätte einfach Gott nennen können; aber er wollte erinnern, dass das, was Er beschließt, dessen Wille und dessen Ehre das höchste Ziel von allem ist, für das Beste zu gelten hat. Indessen ist damit das, was er dartun will, noch nicht deutlich: dass es sich geziemte, Christus solchermaßen zu weihen. Es hängt dies mit der gewohnten Weise, die Gott bei der Behandlung der Seinen einhält, zusammen. Sie sollen nämlich in Trübsal aller Art geübt werden und ihr ganzes Leben unter dem Kreuz zubringen. Darum musste Christus als der Erstgeborene nach dem allen gemeinsamen Gesetz und Los durchs Kreuz in sein Herzogtum eingesetzt werden. Das ist die Gleichförmigkeit des Hauptes mit den Gliedern, von welcher Paulus Römer 8, 29 spricht. Ausnehmender Trost liegt hierin, die Bitterkeit des Kreuzes zu lindern, wenn die Gläubigen hören, dass sie durch Leiden und Widerwärtigkeiten in der Gemeinschaft mit Christus zur Herrlichkeit zubereitet werden; da sehen sie sogar Grund, das Kreuz eher noch liebend zu küssen, als davor zu schaudern. Und dann muss ja die Schande des Kreuzes Christi also gleich auslöschen und seine Herrlichkeit hervorleuchten. Wer möchte geringschätzten, was geweiht, ja von Gott geheiligt ist? Wer achtet das für schimpflich, wodurch wir zur Herrlichkeit bereitet werden? Und dies Beides wird hier von Christi Tod bezeugt. Dass Gott den Herzog unsrer Seligkeit durch Leiden zum Amte weihte, übersetzen andere, dass er ihn „vollkommen machte“ oder „vollendete“. Ich halte es für augenscheinlich, dass die erstere Bedeutung dem Zusammenhang besser entspricht. Denn von einer feierlichen, ordnungsgemäßen Einführung ist die Rede, wodurch die Söhne Gottes in ihren Rang eingesetzt, ja von der übrigen Welt gesondert werden. Die Erwähnung der Heiligung schließt sich aber gleich an.

V. 11. Sintemal sie alle von einem kommen, beide, der da heiligt und die da geheiligt werden. Dass sich jenes alles an Christi Person erfüllte, geziemte sich wegen der engen Verbindung zwischen ihm und den Gliedern. Dass sich jenes alles an Christi Person erfüllte, geziemte sich wegen der engen Verbindung, das Annahmen unsres Fleisches von seiner Seite, ist ein besonderer Erweis göttlicher Gnade. So kommt sowohl ihm, dem Urheber der Heiligung, als uns, die wir derselben teilhaftig werden, die nämliche Natur zu. „Von einem“ beziehen zwar manche auf Adam, andere wieder – nicht unpassend – auf Gott. Ich nehme aber eher an, es sei an die gleiche Natur gedacht: von einem Stoff sind wir gebildet. Zur Mehrung unseres Glaubens trägt das nicht wenig bei, wenn wir mit dem Sohne Gottes in so inniger Verwandtschaft stehen, dass die Heiligungseinflüsse, deren wir bedürfen, in unsrer Natur zu finden sind. Denn nicht nur, sofern er Gott ist, heiligt er uns, sondern auch seiner menschlichen Natur wohnt solche Kraft inne, nicht an ihr selbst, aber dank der wahrhaften Heiligkeitsfülle, die Gott ihr, damit wir daraus schöpfen möchten, mitgeteilt hat. Damit ist Johannes 17, 19 zu vergleichen: „Ich heilige mich selbst für sie.“ Sind wir also unheilig und unrein, so braucht das Heilmittel nicht in der Ferne gesucht zu werden; in unserm Fleisch tritt es uns entgegen. Will aber jemand die Stelle lieber von der geistlichen Gemeinschaft verstehen, die zwischen den Gläubigen und dem Sohn Gottes eine ganz andere Kraft hat als im gewöhnlichen Verkehr der Menschen untereinander, so habe ich nichts dawider.

Er schämt sich nicht, sie Brüder zu heißen. Die Stelle ist aus Psalm 22, 23 entnommen. Dass dort Christus redend eingeführt ist oder David als Christi Repräsentant, bezeugen erstlich die Evangelisten, indem sie mehrmals Worte aus diesem Psalm anführen, z. B.: Sie haben meine Kleider unter sich geteilt; mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Weiter geht es aus der Sache selbst hervor; denn die Leidensgeschichte bietet ein lebendiges Bild aller dort berichteten Dinge. Auch die Schlussworte des Psalms von der Berufung der Heiden passen einzig auf Christus: Es werden sich zum Herrn bekehren aller Welt Enden und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden; denn des Herrn ist das Reich, und er herrscht unter den Heiden. Die Wahrheit von alledem ist nur in Christus vorhanden, der die engen Schranken des Gottesreichs gesprengt und es über die ganze Erde ausgebreitet hat. Daher darf gewiss auch das oben angeführte Wort ihm in den Mund gelegt werden. Sehr bezeichnenderweise wird gesagt, dass er „sich nicht schäme“. Wie groß ist doch der Unterschied zwischen ihm und uns! Er zeigt viel Herablassung, indem er uns des Brudernamens würdigt; eigentlich wären wir nicht wert, seine Knechte oder weniger als das zu sein. Und diese seine so große Gnade gegen uns erhöht noch der Umstand, dass er nicht mehr als sterblicher Mensch in Knechtsgestalt, sondern angetan mit unvergänglicher Herrlichkeit nach seiner Auferstehung so von uns spricht. Der Brudername bedeutet daher für uns ein Erhobenwerden ins himmlische Wesen. Er gibt ihn uns gleichsam zum Kleide, damit wir von der Seligkeit und jedwedem himmlischen Gut Besitz ergreifen können.

Weiter (V. 12) ist die Aufgabe zu beachten, die Christus für sich übernimmt: „Ich will verkündigen deinen Namen.“ Das hat mit der ersten Verkündigung des Evangeliums begonnen und geschieht nun täglich im Amt der Diener des Wortes. Wir ersehen daraus, dass uns das Evangelium jedes Mal angeboten wird, um uns zur Erkenntnis Gottes zu führen, damit seine Güte unter uns gepriesen werde; sodann, dass hinter dem Evangelium Christus steht, mag es uns auch durch Menschen verkündigt werden. So sagt Paulus (2. Kor. 5, 20), er und andere seien Botschafter an Christi Statt und vermahnen in Christi Namen. Das muss die

Ehrfurcht vor dem Evangelium nicht wenig vermehren: nicht sowohl Menschen als vielmehr durch ihren Mund Christus hören wir darin.

Mitten in der Gemeinde dir lobsingen. Hier wird noch deutlicher, dass die Verkündigung des Evangeliums immer die Lobpreisung Gottes in sich schließt. Sowie Gott uns bekannt wird, hallt Herz und Ohr wider von seinem unaussprechlichen Lob. Nach dem Beispiel Christi sollen wir aber auch davon öffentlich, möglichst vielen zu Nutz, Zeugnis geben. Es ist nicht genug, wenn jeder für sich Gott dankt für seine Wohltaten; durch Aussprache vor andern müssen wir einander gegenseitig dazu ermuntern. Und wenn wir hören, dass Christus allen voran den Preisgesang anstimmt, so ist uns das stärkster Antrieb, mit umso glühenderem Eifer zu Gottes Lob uns zu erheben.

V. 13. „Ich will mein Vertrauen auf ihn setzen.“ Da ein ähnliches Wort Psalm 18, 3 steht, stammt das Zitat vermutlich von dorther. Der Zusammenhang des Psalms zeigt, dass David als messianisches Vorbild spricht. Er rühmt sich, zum Haupt über die Heiden gemacht worden zu sein, so dass Fremde und Leute, die er nicht kannte, aus freien Stücken, auf das bloße Gerücht seines Namens hin, sich ihm unterworfen hätten (V. 44). Von solcher gepriesenen Machtfülle bemerkt man bei David indessen kaum einen schwachen Schatten. Dagegen wird der Psalm ohne Zweifel sehr passend auf Christus gedeutet, der den verschiedensten Völkern zum Haupte gesetzt ist und dem von den Enden der Welt her Fremde sich zu Füßen legen, nicht mit Waffengewalt unter das Joch gebeugt, sondern, durch das bloße Wort bezwungen, zu freiwilligem Gehorsam sich einstellend. – Was hat das alles aber mit der vorliegenden Frage zu tun? Mag Christus noch so sehr auf Gott sein Vertrauen setzen, so scheint daraus noch nicht hervorzugehen, dass wir mit ihm eines Stammes sind. Und doch ist es so: denn wäre er nicht Mensch, den menschlichen Bedürfnissen unterworfen, so täte ihm ein solches Vertrauen gar nicht not. Da er also von Gottes Hilfe abhängig ist, teilt er mit uns die gleiche Lage. Gewiss nicht umsonst oder ohne Grund sind wir aufs Vertrauen angewiesen: von Gottes Gnade verlassen, wären wir elend und verloren. So ist das Vertrauen, das wir auf Gott setzen, ein Zeugnis unsres Mangels. Freilich besteht für Christus der Unterschied, dass er die uns notwendigerweise anhaftende Schwachheit freiwillig auf sich genommen hat. Doch aber muss uns das zum Vertrauen auf Gott nicht wenig Mut machen, dass wir Christus darin zum Führer und Meister haben. Wer dürfte in seinen Fußstapfen befürchten, irre zu gehen? Ich sage es jedem: Es ist keine Gefahr, dass unser Glaube, den wir mit Christus gemein haben, je vergeblich wäre; denn dass Christus nicht zuschanden werden kann, das wissen wir.

„Siehe da, Ich und die Kinder.“ Jesaja spricht an jener Stelle (8, 18) von sich selber. Da er dem Volk Befreiung in Aussicht stellte und diese Verheißung keinen Glauben fand, befiehlt ihm der Herr, damit er nicht ob so hartnäckigem Unglauben mutlos zusammenbräche, er solle sein Zeugnis wenigen Getreuen versiegeln: von der Menge verachtet, werde es doch immer von einigen, ob auch noch so wenigen angenommen werden. An dieser Antwort richtet sich Jesaja wieder auf und bezeugt, dass er und die Jünger, die ihm gegeben seien, stets bereit sein werden, auf Gott zu hören. Nun ist ersichtlich, mit welchem Recht der Apostel die Stelle auf Christus bezieht. Wie die Ausführung aus dem babylonischen Exil gleichsam ein Vorspiel der großen Erlösung war, die Christus uns und den Vätern zuwege gebracht hat, genau so ist auch der Umstand, dass nur so wenige Juden von jener göttlichen Vergünstigung Gebrauch machten und daher bloß ein kleiner Rest gerettet wurde, eine Weissagung auf die spätere Vollendung, in der die Menge Christus verwarf und dafür hinwieder von Gott verworfen wurde. Wir haben überhaupt zu beachten, dass sich die prophetischen Verheißungen von der Wiederherstellung der Gemeinde von der Zeit der Rückkehr aus dem Exil an bis auf das Reich Christi erstrecken, wie denn der Herr mit der Zurückführung des Volkes eben dies bezweckte, seine Gemeinde bis zur Ankunft seines Sohnes zu erhalten, durch den sie dann erst in Wahrheit begründet werden sollte. Bei diesem Sachverhalt empfängt eigentlich nicht bloß Jesaja die Weisung, Gesetz und Zeugnis zu versiegeln, sondern in seiner Person alle Diener Gottes, welche gegen den Unglauben des Volkes zu kämpfen hatten, und so in erster Linie Christus, wider den die Juden heftigeren Trotz als gegen alle Propheten, vor ihm beweisen sollten. Der Apostel entnimmt aus der Jesajastelle den Gedanken, dass wir mit Christus eins sind, da er sich und uns miteinander in engem Zusammenschluss vor Gott, den Vater, hinstellt. Denn die machen einen Leib aus, die nach derselben Regel des Glaubens Gott gehorchen. Was kann zum Preis der Glaubenstreue Besseres gesagt werden, als dass wir uns kraft derselben im Gefolge des Sohnes Gottes befinden, der uns durch sein Beispiel ermuntert und uns den Weg zeigt? Sobald wir dem Worte Gottes folgen, wissen wir gewiss, dass Christus unser Führer ist, wie umgekehrt alle, die vom Gehorsamswege abbiegen, nicht zu Christus gehören. Was gibt es doch Wünschenswerteres als den Zusammenschluss mit dem Sohne Gottes? Der besteht aber in der Glaubenstreue; ohne sie setzen wir uns – das Allertraurigste in der Welt – in Zwiespalt mit ihm.

Der Ausdruck „Kinder“, oft gebräuchlich zur Bezeichnung von Knechten, bedeutet hier Jünger.

Welche mir Gott gegeben hat. Das ist der vornehmste Grund zum Gehorsam: Gott hat uns als die Seinen angenommen. Nur die führt Christus zum Vater, die ihm vom Vater gegeben sind. Wir wissen aber, dass dieses „Geben“ an der ewigen Erwählung hängt: welche der Vater zum Leben bestimmt hat, die übergibt er seinem Sohn in Schutz und Gewahrsam (Joh. 6, 37). Wenn wir uns also Gott unterwerfen zum Glaubensgehorsam, so lasst uns bedenken, dass wir das ganz nur seinem Erbarmen verdanken, weil ohne dieses wir ihm niemals zugeführt würden durch Christi Hand. Überdies zieht unsere Zuversicht aus dieser Lehre kräftige Nahrung. Denn wer könnte unter Christi Hut und Obsorge ängstlich tun; wer unter einem solchen Schirmherren nicht kühnlich alle Gefahren verachten? Mit diesem „Ich und die Kinder“ erfüllt Christus seine anderwärtige Verheißung, er werde nicht dulden, dass einer von denen, die er vom Vater erhalten hat, umkomme (Joh. 10, 28). Endlich: mag auch die Welt in wahnsinnigem Trotz das Evangelium von sich weisen, die Schafe werden doch immer die Stimme des Hirten kennen. Nicht mache uns darum irre die Gottlosigkeit beinahe aller Stände und Zeiten und Nationen, wenn nur Christus die Seinen sammelt, die seiner Obhut anvertraut sind. Wenn die Verworfenen durch ihre Gottlosigkeit dem Tod verfallen, so werden ausgereutet die Pflanzen, die Gott nicht gepflanzt hat (Matth. 15, 13). Inzwischen lasst uns bedenken: Er kennt die Seinen (2. Tim. 2, 19), und ihrer aller Heil ist bei ihm versiegelt, dass keins verloren gehe. Das genüge uns.

V. 14. Nachdem nun die Kinder usw. Das schon Gesagte abschließend und erweiternd, legt der Brief dar, warum der Sohn Gottes unser Fleisch annehmen musste, nämlich um derselben Natur mit uns teilhaftig zu werden und durch sein Erleiden des Todes uns vom Tod zu erlösen. Die Stelle ist bemerkenswert, weil sie nicht nur die Realität der menschlichen Natur in Christus geltend macht, sondern auch den daraus fließenden Segen aufzeigt. Der Sohn Gottes, heißt es da, ist Mensch geworden, damit er an unsrer Lebensweise und Natur Anteil bekäme. Wodurch könnte unser Glaube mehr gestärkt werden? Denn da leuchtet seine unschätzbare Liebe zu uns hervor. Das Höchste aber ist, dass er unsere Natur anzog, um die Möglichkeit des Sterbens zu gewinnen; denn als Gott hätte er den Tod nicht schmecken können. Die Frucht seines Todes wird nur kurz berührt, aber in den wenigen Worten liegt ein überaus lebendiger und wirksamer Ausdruck der Sache: er hat uns von der Zwingherrschaft des Teufels so befreit, dass wir fortan vor demselben sicher sind, und uns vom Tode erlöst, dass wir ihn nicht mehr zu fürchten brauchen. Da indessen jeder einzelne Satzteil sein Gewicht hat, müssen wir noch etwas genauer zusehen. Jene Machtberaubung oder wörtlich sogar Vernichtung des Teufels bezieht sich darauf, dass er nichts mehr wider uns vermag. Wiewohl er nämlich immer noch tätig ist und beständig auf unser Verderben sinnt, ist doch sein Vermögen zu schaden ausgelöscht oder wenigstens abgestumpft. Das ist ein ungemeiner Trost, dass wir wissen, wir haben es mit einem Feind zu tun, der nichts gegen uns ausrichtet. Dass in der Tat die Rücksicht auf uns obwaltet, geht aus dem Nachsatz hervor: dem der des Todes Gewalt hatte. Des Teufels Reich heißt ein Todesreich, weil er uns mit Tod und Verderben bedroht; aber eben insofern er zu unserm Verderben regierte, sagt der Apostel, er sei vernichtet. Durch Christi Tod ist, wie hier gelehrt wird, nicht bloß die Zwingherrschaft des Satans aberkannt, sondern er selbst dermaßen niedergeworfen, dass er wie ein nicht Existierender nicht mehr in Betracht kommt.

Von dem Teufel ist in der Einzahl, nach Gewohnheit der Schrift, die Rede, nicht weil er bloß einer wäre, sondern weil alle zusammen ein Ganzes bilden, das nicht ohne Haupt gedacht werden kann.

V. 15. Durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte. Dieser Vers drückt sehr gut das elende Leben derer aus, die sich vor dem Tode fürchten. Er muss ja als etwas Fürchterliches empfunden werden von allen, die ihn ohne Christus betrachten: da tritt einem nichts als Fluch daraus entgegen. Denn woher der Tod, wenn nicht aus dem Zorn Gottes wider die Sünde? Darum jene Knechtschaft das ganze Leben hindurch, d. h. beständige, lähmende Angst der armen Seelen. Im Bewusstsein der Sünde schwebt den Augen immer das Gericht Gottes vor. Von dieser Frucht hat Christus uns befreit, da er unsern Fluch auf sich genommen und, was am Tode Schreckhaftes war, getilgt hat. Wiewohl wir immer noch von hinnen scheiden müssen, können wir doch im Leben und Sterben ruhig und unbesorgt sein, da Christus uns vorangeht. Wenn also einer sein Herz nicht beschwichtigen kann durch Verachtung des Todes, so mag er wissen, dass er im Glauben an Christus noch zu wenig weit gekommen ist. Denn übermäßige Angst, aus Unbekanntschaft mit der Gnade Christi hervorgehend, ist ein sicheres Zeichen von Unglauben.

„Tod“ bedeutet hier nicht nur die Trennung von Seele und Leib, sondern die vom erzürnten Gott uns auferlegte Strafe, worin das ewige Verderben begriffen ist. Denn wo Schuld ist vor Gott, zeigt sich dem Blick also gleich die Hölle.

V. 16. Denn er nimmt sich ja nicht der Engel an. Mit dieser Vergleichung wird die Auszeichnung und Ehre hervorgehoben, deren uns Christus durch Annehmen unsres Fleisches würdigte, indem er den Engeln niemals gleiches erwiesen hat. Weil der so schreckliche Fall des Menschen ein außerordentliches Heilmittel dringend erforderte, wollte der Sohn Gottes ein unvergleichliches Pfand seiner Liebe zu uns schaffen, wie es nicht einmal den Engeln zuteil ward. Unsere Bevorzugung gegenüber den Engeln geschah mithin nicht mit Rücksicht auf unsre Vortrefflichkeit, sondern auf unser Elend. Wir haben daher keinen Grund, uns stolz über die Engel zu erheben; der himmlische Vater hat uns nur, nach unserm Bedürfen, reicheres Erbarmen widerfahren lassen, also dass selbst die Engel in der Höhe bewundernd die Gnadenströme schauten, die sich auf die Erde ergossen. Im Sohne Gottes finden wir unsern Bruder zufolge der wahren und wirklichen Gemeinsamkeit der menschlichen Natur.

V. 17. Daher musste er allerdinge seinen Brüdern gleich werden. In der menschlichen Natur Christi kommen zwei Dinge in Betracht, die leibliche Existenzform und die Gefühle; und der Apostel lehrt, er habe nicht bloß das Fleisch der Menschen angenommen, sondern auch alle Gefühle, die den Menschen eigentümlich sind. Auch die daraus hervorgehende Segensfrucht nennt er uns, wie es denn zum rechten Glauben gehört, dass wir innerlich wahrnehmen, warum der Sohn Gottes unsere Schwachheiten auf sich genommen hat. Ohne diese Frucht lässt alles bloße Wissen kalt. Den menschlichen Leidenszuständen ist nun Christus unterworfen gewesen, auf dass er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester. Ich deute diese Worte so: barmherzig und darum treu. Denn vom Hohenpriester, der den Zorn Gottes zu versöhnen, Unglücklichen beizustehen, Gefallene aufzurichten, Mühselige zu erleichtern hat, wird in erster Linie Barmherzigkeit erfordert, wie Mitleid und gleiche Erfahrung sie in uns erzeugen. Wem es immer gut gegangen ist, wird selten durch fremdes Leiden berührt. Jenes Wort des römischen Dichters ist gewiss aus täglicher Erfahrung geschöpft1):

„Fremd nicht blieb ich dem Kummer und lernt`
Unglücklichen beistehn.“

Nicht als ob der Sohn Gottes nötig gehabt hätte, eine Schulung durchzumachen, um das Gefühl des Erbarmens auszubilden; aber wir konnten von seiner Milde und seiner Geneigtheit, uns zu helfen, nur dadurch überzeugt werden, dass er in unsern Mühsalen geübt wurde. Denn auf uns ist hierin, wie in allem andern, Rücksicht genommen. So oft uns daher Übel irgendwelcher Art drücken, mögen wir uns gleich darauf besinnen, dass nichts uns begegnet, was nicht auch der Sohn Gottes an sich erfahren hätte. Und zweifeln wir nicht, dass er bei uns ist, wie wenn er mit uns litte!

Der „treue“ Hohepriester ist der wahre und rechte, im Gegensatz zum angeblichen oder dem, der seinen Platz nicht ausfüllt. Die Erfahrung unseres Jammers bewegt Christus so sehr zum Mitleid, dass es ihn drängt, für uns göttliche Hilfe zu erflehen. Und mehr noch – zur Versöhnung der Sünden hat er sich mit unsrer Natur bekleidet, damit wir den Sühnpreis in unserm eigenen Fleisch hätten; ja damit er uns auf Grund der gemeinsamen Natur mit sich in Gottes Heiligtum einführen könne.

Vor Gott, Gott gegenüber: mit Beziehung auf alles das, was zur Versöhnung der Menschen mit Gott dient. Da aber der erste Schritt zu Gott hin ein herzhafter Glaube ist, so braucht es eines Mittlers, der jeden Zweifel benimmt.

V. 18. Denn darinnen er gelitten hat usw. In unseren Anfechtungen geübt, ist er auch bereit zur Hilfeleistung: denn dass er versucht ist, bedeutet hier nichts anderes, als dass er erprobt und bewährt wurde; und dass er helfen kann, besagt, dass er geeignet, willig oder geschickt dazu ist.

1)
Vergil in Vergils Aeneis I, 630.
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