Zuletzt angesehen: Geleitwort von Paul Wernle.

Geleitwort von Paul Wernle.

Geleitwort von Paul Wernle.

Calvinbriefe würden von rechts wegen keiner empfehlenden Einführung bedürfen, wenn der Mann so bekannt wäre, wie er es verdient. Was man aber in weiten Kreisen von ihm weiß, ist nicht viel anderes, als dass er den Servet verbrannte, die Genfer tyrannisierte, die berühmte, aber nicht so viel gelesene Institutio schrieb und indirekt der Begründer der Hugenottenkirche wurde. Im besten Fall rechnen wir ihn zu den großen Männern, denen wir aus gehöriger Zeitferne jenen offiziellen Respekt zollen, durch den einer sich als Gebildeter ausweist. Eine andere persönliche Stellung zu Calvin ist auch gar nicht denkbar, solange wir darauf angewiesen sind, unsere genauere Kenntnis des Mannes vorzüglich aus den Werken von Kampschulte und Cornelius zu schöpfen, denen allgemein das Lob gründlichster exakter und unparteiischer historischer Arbeit gespendet wird. Der Gesamteindruck, den man aus diesen Werken von Calvin gewinnt, ist so überwiegend ungünstig, dass ein intimeres Verhältnis zu diesem Reformator bei keinem Leser sich bilden wird.

Da ich selber meine anfängliche Auffassung Calvins aus einigen Hauptschriften Calvins und aus den Werken dieser beiden deutschen Gelehrten gewonnen habe, wäre es undankbar, nun hinterdrein ihre großen und bleibenden Verdienste zu bestreiten. Ich weiß nur, dass ich in meinen Vorlesungen bei Calvin nur dann warm werden konnte, wenn ich meine Empörung über das traurige Los aller Calvingegner in und außer Genf unverhohlenen Ausdruck gab. Wie erstaunt war ich aber, als ich zum ersten Mal an die Briefe des Mannes geriet und mich anschickte, an ihrer Hand von Jahr zu Jahr sein Leben zu durchwandern! Jene für mich so anstößigen Züge seines Charakters wurden durch die Briefe bestätigt, allein sie traten gar sehr zurück hinter andern mit gänzlich unbekannten und ordneten sich dem Ganzen eines übermächtigen, in sich geschlossenen und mit sich versöhnenden Lebensbildes ein, dessen Zauber ich trotz allem Widerstreben unterlag. Ich erkannte jetzt deutlich, warum der Eindruck des Kampschulteschen Calvin ein falscher Eindruck ist, ja sein musste. Der Calvin, den er uns besonders in seinem zweiten Band vorführt, der Ausländer, der in zehnjährigem heißem Ringen mit Hilfe von Ausländern das Genfer Volk bändigt, ist bloß ein Bruchstück und gar nicht der wahre Calvin; den gewinnt man erst, wenn man alles Gleichzeitige zusammenfasst, den Mann, der in Deutschland alles Kriegsunglück mitleidet, alle Zerrissenheit der Evangelischen mitempfindet und vergeblich heilen will, der in England nach kurzem hoffnungsvollem Aufstieg den jähen Zusammenbruch erlebt, der in Frankreich ein Märtyrerjahr nach dem andern durchkostet und auf Hoffnung, wider Hoffnung, Keime einer neuen Kirche da und dort zerstreut sich bilden sieht, der in der Nähe alles Ungemach der Neuenburger, der Waadtländer, der Montebéliardkirche, als wäre es sein eigenes, trägt, der mit Bullinger den verheißungsvollen Bund schließt, der herzliche Freund seiner Freunde Farel, Viret, Beza, der Virets Familienleben so zart und treu besorgt begleitet, der selber seine treue Gehilfin verliert und seinen Freunden sein überströmendes Leid mit tapferer Fassung als ein Mann berichtet – all das füllt jene zehn Genfer Kampfjahre mit aus und gibt ihnen eine so ganz andere Farbe. Und hätte uns auch Kampschulte in einem dritten Band das Fehlende nachgetragen, zerstückelt, auseinandergerissen, was zusammengehört, wäre es doch, und auch ohne das, man müsste ein ganz anderes Herz zu diesem Mann, ja überhaupt ein anderes Herz zu heroischer Glaubensart haben, als es der altkatholische Forscher an seine Forschung bringen konnte. Wenn man nur das versteht, was man liebt, so ist er mit seinem Arbeitsfreund und Fortsetzer trotz aller Feinheit der kritischen Methode und allem hingegebenen Fleiß zu einer wirklichen Calvindarstellung gar nicht fähig gewesen.

In der ersten neuen Begeisterung meiner Calvinbrieflektüre kam mir der Gedanke: ist es recht, dass so wenig Menschen die Freude an diesem Mann genießen? Wie wäre es, wenn eine reiche Auswahl des Schönsten in weite deutsche Kreise dringen könnte? Das wäre das Calvindenkmal, das wir Deutsche diesem Mann schuldig sind und das uns selber ehrt. Eine glückliche Fügung brachte mir in Herrn Pfarrer Schwarz in Basadingen, meinem früheren Schüler, den Mann, der nicht nur die Zeit zu der gewaltigen Arbeit erübrigen konnte, sondern der die feine Übersetzergabe und mehr noch die Lust und Liebe zur Sache und Person mitbrachte. An der Auswahl war ich mit beteiligt; wir wählten unparteiisch alles aus, was charakteristisch ist für den Mann im Guten wie im Bösen. Alles Übrige ist sein Werk; nur diesen begleitenden Eingang glaubte ich ihm noch schuldig zu sein.

Ein Calvinleben in Briefen ist unser Gedanke gewesen nach Art des Carlyleschen Cromwell, bloß ohne Vollständigkeit und mit der äußersten Beschränkung der begleitenden Noten, damit der Leser nichts vor sich habe als Calvin. Ein solches Calvinleben ist natürlich einseitig; es lässt uns alle Ereignisse und alle Personen mit Calvins Augen, d. h. mit seiner Liebe und seinem Hass, sehen. Ein vorsichtiger Leser wird allemal zwischen den Tatsachen und ihrer calvinischen Beleuchtung zu unterscheiden haben, er wird bald sich sagen, dass die Gegner Calvins, besonders die in Genf, nicht die Scheusale und bewussten Gottesfeinde gewesen sind, die sie vor Calvin – übrigens auch nicht von Anfang an, die Briefe zeigen uns das allmähliche Wachsen seines Unmuts – waren. Mit einer Libertinersekte – diese Erkenntnis danken wir Kampschulte – hatten sie ja nichts zu tun, es waren die echten Kinder Genfs, die Patrioten des Genfer Befreiungskrieges, die sich ihrer Freiheit nun auch freuen wollten im Leben und Leben-lassen, ohne ein anderes Ideal oder Ziel, darum auch gar nicht imstande, Calvins rigoristischem Ideal der Gottesstadt irgendetwas entsprechend Geschlossenes, Klares gegenüberzustellen. Indes braucht Gerechtigkeit gegen die Calvingegner nicht notwendig Ungerechtigkeit gegen Calvin zu sein. Der Mann, der etwas will, etwas Ganzes, Unbedingtes, das ihn erfüllt, von dem er selbst bezwungen und über sich selbst hinausgehoben ist, der ist in der heutigen Zeit allgemeiner Charakterschwäche und vornehm tuender Gleichgültigkeit besonderer Art wert, selbst wenn wir seine Ziele gar nicht billigen sollten. Und dazu ist er während dieser Kämpfe längst nicht mehr der Kirchenmann Genfs allein, sondern der Mann, der nach Frankreich, England, Deutschland, Polen die entscheidenden Direktiven auszugeben hat, dessen weltgeschichtliche Aufgabe aber zu ihrer Bewältigung einer unbedingt sicheren Basis, eines Herr- und Meister-Seins im eigenen Haus, bedarf. Als in Genf 1555 der letzte Widerstand gebrochen wurde, da bekam es der Protestantismus der ganzen Welt zu spüren, dass dieser Mann, mit Abzug seiner täglichen Berufsarbeit, seiner literarischen Tätigkeit und seiner gebrochenen Gesundheit, seine volle Kraft nach außen verwenden konnte. Seine Briefe werden doch manches besser verstehen lassen, gerade wenn man sieht, mit was für kleinlichen Manövern, mit welcher Feigheit und Unentschlossenheit, ja eigentlichem Mangel irgendeines Willens, der Mann zu kämpfen hatte, der sein Leben nur für die größten Ziele hinzugeben entschlossen war. Einseitig bleibt das alles, wer dürfte heute an eine Wiederaufnahme denken! Auch bleibt nach Abrechnung alles Entschuldbaren immer noch viel Ungerechtigkeit und Härte, ja Grausamkeit, nicht zu reden von soviel Ärger, Reizbarkeit, grundlosem Verdacht und Schwarzseherei, über die Calvin nicht Herr geworden ist. Wir schreiben keine Apologie dafür, wünschen, dass nichts beschönigt werde, was vor dem christlichen Gewissen nicht bestehen kann. Wir haben keine wichtige Stelle, die gegen Calvin spricht, unterdrückt; wie er war, nicht besser und nicht schlechter, soll er hier sich geben. Wer sich dann, in die ganz gleiche Zeitlage hineinversetzt, schuldfrei und überlegen sein zu können zumutet, dem sei das überlassen. Wir Protestanten haben keine Heiligen im Sinne der sündlosen Musterhaftigkeit; Calvin zumeist würde es widersprechen, soviel er auch den Menschen gegenüber sich auf sein gutes Gewissen zu gut tat, anders denn als demütiger Sünder vor der göttlichen Gerechtigkeit zu erscheinen. Wir nehmen das buchstäblich so an, und so seien auch diese Briefe als Konfessionen betrachtet mit viel mehr wirklichen Schuldbekenntnissen, als Calvin selbst während des Schreibens sich bewusst war. Soli Deo gloria!

Die ersten 7 Briefe sind vor der „Bekehrung“ geschrieben und führen uns den noch weltlichen Calvin, den Juristen und Humanisten vor, der am Ende schon im Herzen evangelisch ist, aber doch noch lacht über den blinden Eifer der Pariser Sophisten. Die Bekehrung war für Calvin und seine spätern Jünger die strikte Absage an den katholischen Kult, Messe, Bilder und Priesterschaft; da hörte das Lachen auf, wo das Martyrium in Aussicht stand. Brief 8 – 10 zeigen uns den Bekehrten in unstetem Wanderleben; welcher Abstand: der frühere Plauderer und der Konfessor vor Franz I. (Brief 9)! Briefe 11 – 17 stammen aus der ersten Genfer Zeit und widerhallen von den Kämpfen Calvins und Farels mit dem Wächter er Orthodoxie Caroli in Lausanne (12 – 14), den staatskirchlichen Berner Pfarrern, die dem Eindringen eines selbständigen Geistes in das bernische Waadtland abhold sind (15), und den Genfern, Bürgerschaft und Rat, welche von der geforderten Sittenzucht und von einer gewissen Selbständigkeit der Pfarrer in den kirchlichen Fragen nichts wissen wollen (16, 17, vgl. 18 f.). Es war auch die Zeit der versuchten Abendmahlsverständigung mit Luther; wie selbständig und freimütig tritt der Anfänger Calvin dem 18 Jahre älteren berühmten Straßburger Reformator Butzer gegenüber (15)! Auf die Genfer Vertreibung folgt die peinliche Zeit der Restitutionsversuche und der Berufslosigkeit in Brief 18 – 25. Die Seele des Vertriebenen kocht von erlittenem Unrecht und widerstrebt dem Bekenntnis eigener Mitschuld; wie ganz allmählich die Ruhe einkehrt und seinen Genfer Getreuen gegenüber der Reformator erst in Straßburg (27) seine Pflicht erkennt, nicht zu verschärfen, sondern zu mildern, der erste Schritt eigener Selbstüberwindung, das alles tritt uns hier lebendig entgegen. Man lese die Schauerschilderung der Genfer Ersatzpfarrer, vom Hass gezeichnet (22) und dann wieder die Erzählung vom Tod von Farels Neffen an der Pest, den Calvins furchtlose Liebe begleitet hat (25); es ist derselbe Mensch! Brief 26 – 75 schildern uns dann den Calvin der Straßburger Zeit, da er zum ersten Mal in die große Weltgeschichte hineingezogen wurde, selber zur weltgeschichtlichen Persönlichkeit heranreifend mit den weit ausgebreiteten Freundesbeziehungen, der Einsicht in die politischen Fäden von Deutschland nach Frankreich hinüber und mit der klaren Beurteilung aller Aktoren des viel verschlungenen politisch-konfessionellen Dramas. Was muss er jetzt schon alles mit seinem Herzen tragen, während er französischer Gemeindepfarrer in Straßburg und Teilnehmer an den wichtigen Religionsgesprächen in Hagenau (52), Worms (61 – 63) und Regensburg (65, 68 – 73) ist! Die Genfer Wirren, denen zuletzt nur durch seine Rückberufung abzuhelfen ist, das Unglück aller verfolgten Waldenser und Hugenotten, Farels, des Freundes in Neuchchatel, Ungestüm und Unbedachtsamkeit, die Abkehr der Zürcher von den gemeinsam protestantischen Interessen und dazu eben das Nächste: Gemeindesorgen und Widerstand (33, 34, 46, 48, 59, 60), Freudiges und Widriges mit Pensionären (54), nicht zuletzt die Gründung des eigenen Hausstandes, und die große verworrene evangelische und katholische Politik zur Zeit der hessischen Doppelehe und des letzten friedlichen Einheitsversuches von katholischer Seite. In diesen Briefen gewinnt das menschlich Anziehende unser Interesse neben dem Sachlichen, das viele Hin- und Herberaten über die Heirat in den Farelbriefen (37, 44 – 46, 49, 54), der Schmerzensschrei aus Regensburg bei der Kunde vom Tod des liebsten Helfers und seines Schülers und von der Pestgefahr im eigenen Haus, vorn und am Schluss eines der feinsten, objektivsten politischen Bulletins (65), und der dann folgende Trostbrief an den Vater des einen Verstorbenen (67), die Klage über die Arbeitslast (34), auch Allzumenschliches, wie der Jähzornausbruch bei der Verhandlung mit Caroli (40) und der Ausguss alles Zornes über den Sünder dabei, den Freund Farel (40, 42, 43), zuletzt das so lang und schwer auf ihm lastende Problem der Genfer Rückberufung, der er sich mit tiefem, innerem Widerstreben und in klarer Voraussicht der Kette von Irrsalen, die dort auf ihn wartete (32, 35, 55), nur auf das unermüdliche Drängen der Genfer und Farels Blitze und Donner unterwarf. Aber wie anders kehrt er nach Genf zurück, als er es verlassen!

Brief 76 ist auf der Rückreise nach Genf geschrieben, die ganze dann folgende Briefsammlung gehört der zweiten Genfer Zeit an. Es kommen zuerst ein paar Jahre verhältnismäßiger Ruhe und Sammlung bis 1546 (Briefe 77 – 150), Calvin führt in Genf seine Kirchenverfassung und Kirchenzucht ein, entfernt nach und nach aus dem Klerus die ungenügenden Elemente, stößt auch etwa auf Widerstand der Genfer Bevölkerung oder einiger Räte, aber nichts lässt ahnen, welche Kämpfe ihm erst bevorstehen. Mit Sorgen gewahrte er in Deutschland das Steigen der kaiserlichen Macht und die Verträumtheit der Protestanten, die sich noch gar mit dem Kaiser gegen Frankreich verbünden, statt vom französischen König sich ihre Freiheit garantieren zu lassen; wir erkennen den Franzosen Calvin (Brief 115), den er zeitlebens in politischen Fragen nie ausgezogen hat. Und doch kommt gerade aus Frankreich die Kunde von den scheußlichen Waldensermassakern (132), die Calvin zu einer großen Bittreise bis nach Straßburg und zu unermüdlichem Eintreten für die erst noch politisch verdächtigen Glaubensbrüder veranlasste. Dann wieder trieb er seine Nikodemiten, die heimlichen Evangelischen in Frankreich, zu offenem Bruch mit dem katholischen Götzendienst an und versuchte sogar Luther dafür zu gewinnen, der doch eben mit den Schweizern wieder auf dem Kriegsfuß stand und dem der ängstliche Melanchthon den Calvinbrief aus der Schweiz gar nicht abzugeben sich getraute (122, 123, 125). Schon erlebte er in dem befreundeten französisch-württembergischen Montbeliard den Anfang der Konflikte zwischen lutherischer und reformierter Gottesdienstordnung (103, 113, 117), die ihm, dem geborenen Unionsmann, später am allermeisten das Leben verbitterten. Während er in Frankreich die monistischen Mystiker, die Libertiner, bekämpft und deshalb in die Ungnade der königlichen Schwester Margarethe von Navarra fällt (130), muss er erleben, dass ein Neuenburger Kollege seine Orthodoxie im Bekenntnis zu Christus in Zweifel setzt (98, 107, 121, 124) wie früher jener Caroli; dafür stempelt er wieder den begabten Castellio zu einem wegen ketzerischer Anwandlungen zum Kirchenamt untauglichen Mann um reiner Lappalien in unserm Sinn willen (108, 109), hinter denen doch die Grunddifferenz eines Geistes der relativistischen Aufklärung und eines solchen des kraftvollen Dogmatismus sich verbirgt. Auch sonst tritt uns Calvin hier mit den Schranken seiner Zeit entgegen, wenn er dem Hexenwahn in der Pestzeit grausame Opfer weiht (128, 129) oder später, wenn er die Entführung eines gottlosen Alkoholikers durch den Teufel an Ort und Stelle durch Syndics und Rat protokollarisch feststellen lässt und den Zweiflern das Gericht der Hölle verkündet (183). Dazwischen soviel Zeugnisse einfacher Menschlichkeit: die Angst bei der Niederkunft seiner Frau (89), von der ein anderer Brief (88) erzählte, wie sie Calvin bei seinen Krankenbesuchen unterstützte und vertrat, die Sorge für den Stiefsohn (142), die seine Aufnahme einer offenen Kritik Virets an einer Calvinschrift (137), der Ärger über einen nicht gefundenen und rasch für gestohlen vermuteten Brief (136).

Mit dem „Fall“ Pierre Ameaux setzt dann 1546 die eigentliche Periode der Genfer Kämpfe ein, die sich steigern von Jahr zu Jahr und Calvins dominierenden Einfluss vorübergehend völlig brechen, ihm den Zusammenbruch seines Werkes und einen schmachvollen Weggang in Aussicht stellen, bis zuletzt, dank der Unentschlossenheit und Unvorsichtigkeit der Gegner, Calvin doch wieder das Steuer in die Hand bekommt. Der Kampf ging darüber, ob Genf das alte weltlich frohe Genf bleiben oder eine geistliche Stadt der eingewanderten französischen Puritaner werden solle. Er erreicht seinen Abschluss erst in unserem zweiten Briefband. Es kann sich hier nicht darum handeln, alle diese von Jahr zu Jahr sich steigernden „Fälle“, den Fall Ameaux, Gruet, die vielen Fälle Perrin und Familie, Sept, Berthelier, die zwei berühmten Ausländerfälle Bolsec (von 327 an) und Servet (von 374 an, vgl. aber 155, 156, 242) auch nur flüchtig durchzugehen; unsere Hauptquelle dafür sind neben der Calvinkorrespondenz die Genfer Ratsprotokolle, von denen das Wichtigste in den Calvinwerken Band 21 und in Rogets Histoire du peuple de Geneve zusammengestellt ist. Worauf es mir bei ihrer Beurteilung anzukommen scheint, ist schon oben angedeutet. Es fehlt nicht an vielen komischen Intermezzi in diesen peinlichen Konflikten, die Aufregung über das Theater (168, 170), die schlitzten Hosen (201), die verschiedenen Tanz- und Singszenen und die fürchterlichen Szenen, welche die rabiaten Frauen dem Konsistorium und speziell Calvin bereiteten (203 u. a.); dazwischen die hoch dramatische Szene, wo Calvin sich zwischen die Schwerter der Tumultuanten stürzt (218), an die er noch auf seinem Sterbebette erinnerte. Wer Calvin gerecht werden will, lese vor allem Brief 165 an den Stadthauptmann Perrin; dass er nach oben und gegen seine besten Freunde, (zu ihnen gehörte dieser spätere Hauptfeind ursprünglich), wie nach unten die gleiche Forderung vertrat und in Gottes Namen kein doppeltes Recht gelten lassen durfte, das verursachte den Konflikt mit Perrin. Aber dann daneben die bittere Kritik, die Castellio an der Genfer Geistlichkeit und Calvin üben konnte (114), und die gewiss nicht grundlos war! Und wer dürfte es wagen, gegenüber Bolsec und Servet heute als Jünger Jesu zu Calvin zu stehen? Wir haben freilich nicht das geringste Recht, diese beiden Verfolgten uns zu idealisieren; wer sie in ihrem ganzen Treiben näher studiert, auch in dem, was sie Calvin positiv entgegenzusetzen hatten und der Art, wie sie es vertraten, der kann nur lächeln über die moderne Verehrung dieser angeblichen Märtyrer der Freigeisterei. Was für sie spricht, das ist schlechterdings nichts anderes als ihr grausames Leiden für ihre ketzerische Überzeugung, und das ist freilich genug. Denn was man zu Calvins Gunsten anführt, die Zustimmung, die er im Servetfall von allen schweizerischen Kirchen und von Melanchthon erhielt, kann immer nur deren Mitschuld bezeugen und weiter gar nichts. Männer wie Castellio, Toussaint, Zurkinden und viele andere sind an diesem Punkt die wirklichen Jünger Jesu und Ankläger der Reformatoren, die Männer der Zukunft, die über ihrer Zeit standen, wie es sich für einen Reformator gehört. Es darf nie eine andere Rechtfertigung Calvins geben als das schlichte Eingeständnis seiner schweren Schuld und unsre eigene Demütigung vor dem Gott, der seine erlauchtesten Kinder in so schwere Schuld will fallen lassen.

Aber nun nehme man dazu die Menge von erquickenden und rührenden Zügen gerade aus diesen Kampfjahren, vor allem Calvins Verhältnis zu Viret, der ihm als verheiratet damals persönlich näher stand als Farel. Wie er den Fortschritten der Krankheit von Virets Frau mit Sorge folgt (148, 150, 151, 158): „Wisse, dass wir alle um sie besorgt sind, als ob sie eines jeden Frau oder Tochter wäre!“ „Ach könnte ich doch zu dir eilen, dein Leid etwas zu erleichtern oder zum Teil mit dir zu tragen!“ Und dann die ängstliche Sorge um den Witwer, dass er sich von dem schweren Schlag erholen möge in Freundesnähe (159, 161). Wenige Monate nachher schon will er dem Freund für eine zweite Frau sorgen, und er sucht nicht nur in Genf mit größtem Eifer, sondern treibt selbst den vornehmen de Falais in Straßburg dafür an (169, 171 – 174, 181, 184). Bei der ersten Niederkunft der zweiten Frau Virets sendet er seine eigene schwerkranke Frau zu Hilfe und entschuldigt sich dann, dass sie selber ihm vielleicht zur Last gefallen sei (235). Unterdessen müssen wir dem Fortgang der Krankheit von Calvins Frau folgen durch alle Hoffnungen und Befürchtungen hindurch (219, 235, 240 – 242, 251). Farel und Viret sendet er die Todesnachricht mit den letzten Begebenheiten aus dem Leben der Sterbenden (259, 260), und noch später widmet er seinem Hausarzt Textor einen Kommentar, um ihm zu danken für das, was er seiner Frau getan (299). Aber Virets Frau und Familie bewahrt er als Witwer seine zarte Teilnahme, kondoliert dem Töchterlein Virets bei seiner Entwöhnung von der Mutter (269) und betet für die zweite glückliche Geburt der Frau (290). Und das ist der unmenschliche, finstere Fanatiker Calvin?

Nehmen wir dazu noch das Verhältnis zu dem vornehmen Refugianten de Falais und seiner Familie, das freilich später dadurch, dass Bolsec Falais´ Hausarzt wurde, so betrübend in die Brüche ging. Man möchte nur einmal berechnen, welche Zeit Calvin diesem Mann gewidmet hat, nicht nur in der Menge der Briefe, von denen bloß ein Teil hier aufgenommen ist, sondern in einer Reise extra für ihn nach Basel, und in Geschäften in Genf und Umgebung für den Kauf eines Hauses oder Landguts, dessen Ausstattung, Preis, Weinvorräte usw., wozu eine höchst unglückliche Verlobungsgeschichte einer nahen Verwandten de Falais´ mit einem französischen Geistlichen sich gesellt, bei der Calvin auseinanderwirren, gegenseitige Ansprüche schlichten, für eine neue standesgemäße Verlobung sorgen muss; nicht zu vergessen die Apologie, die Calvin für den Mann verfasst hat, damit er seiner Güter nicht verlustig gehe. Das ist ein Fall, den wir zufällig kennen; mit gar manchen der französischen Refugianten hatte Calvin ähnliche Sorgen, bis er sie heraus hatte aus ihrer Heimat und Verwandtschaft und bis er sie in Genf soweit gebracht hatte, dass sie ordentlich leben konnten. Dazwischen auch sehr häufig Verhandlungen etwa eines Basler- und eines Genfer Bürgers wegen Austausch ihrer Söhne, die Calvin vermittelte (167). Es sind aber auch ganz feine, innerlich vornehme Männer zu Calvin umgesiedelt wie jener de Normandie, dessen Heroismus trotz allen Ärgernissen der Welt Calvin in einer seiner Vorreden ein so prachtvolles Denkmal setzte (300). Und über den neuen Freunden vergaß Calvin die alten nicht. Der Dank, den er seinem ersten guten Lateinlehrer, Mathurin Cordier, und seinem ersten Griechischlehrer, Volmar, jetzt nach so vielen Jahren erstattet durch Widmung einzelner seiner Werke (175, 292), ist für Calvin selber so menschlich ehrenwert. Das ist der Mann, von dem es heißt, dass er nur hassen konnte.

Freilich für ihn selbst sind das Nebensachen. Mit Luthers Todesjahr brach in Deutschland endlich der schmalkaldische Krieg aus, der den deutschen Protestantismus zunächst vernichtete. Wir können uns kaum vorstellen, was das für einen Mann bedeutete, der selber sein Evangelium aus Deutschland bekommen hatte, der jahrelang dort gewesen war, die Verhältnisse studiert, alle wichtigen evangelischen Führer als Freunde gewonnen hatte. Nicht auf einmal, sondern allmählich mit unheimlicher Steigerung brach eine Säule des Protestantismus nach der andern zusammen; wie lange hat er für Konstanz, für Straßburg gezittert und gehofft (187, 207, 212, 216). Als der württembergische Montbeliard unter Herzog Christoph dem Sohn noch tapfer ausharrte gegen das Interim, feierte Calvin diesen Fürsten in der Widmung eines Pauluskommentars als letzten deutschen Helden (225), er vernahm später, dass Christoph sich doch in die Gnade des Kaisers begeben habe. In solchen Zeiten größter menschlicher Dunkelheit erhebt sich das Gottvertrauen Calvins zu heroischer Größe, und allein um dieser Briefstellen willen (194, 198, 199, 204, 206) lohnt sich die Lektüre dieses Buchs. Wie hat er sich damals als Lutheraner gefühlt, den Brenz getröstet (248), den tapferen Magdeburgern zugejubelt, den feigen Melanchthon scharf an seine Pflicht gemahnt (298)! Gerade darum betrieb er so eifrig den Ausgleich mit Bullinger in der Abendmahlsfrage, damit endlich in der höchsten Not die Evangelischen geeinigt retten könnten, was noch zu retten war. Da war es für ihn eine wahre Gottesführung, dass eben jetzt, da der deutsche Protestantismus ohnmächtig daniederlag, England unter dem minorennen Eduard VI. und seinem Protektor Somerset der Reformation freie Bahn gab, so dass selbst alle Flüchtlinge vom Kontinent als allen Sprachen in London eine neue Heimat fanden. Jetzt ist das Reformatorenbewusstsein über Calvin gekommen, das ihn die gewaltigen Episteln und Vorreden an Herzog Somerset (238, 246, 293, 322) und König Eduard (305, 311, 312, 343) und bald darauf auch an Sigismund August von Polen (263) und Christian von Dänemark (337) richten lässt, mit denen er den weltgeschichtlichen Vorstoß des Calvinismus in allen Ländern Europas eröffnet. An Enttäuschungen freilich und an Kräften des Widerstandes gegen ihn eine Reihe ohne Ende: in England schwere politische Wirren der sich den höchsten Einfluss nicht gönnenden Großen, zäher Widerstand des alten Kirchenwesens, Beginn der Spaltung unter den Evangelischen selbst, der Anglokatholiken und der Puritaner und zuletzt plötzlicher Zusammenbruch des ganzen Reformationswerkes durch die Thronbesteigung der katholischen Maria, in Frankreich Verfolgung ohne Ende unter Heinrich II. wie unter seinem Vater Franz und Jahr für Jahr keine andere Aussicht für jeden Evangelischen als Tod oder Auswanderung (die berühmten Studentenmärtyrer in Lyon 340, 344, 359, 361, 364, 365, 366), in der Schweiz die fortwährenden Konflikte der Berner Kirche zwischen Lutheranern und Zwinglianern, Staatskirchlichen und mehr Freikirchlichen, Deutschen und Welschen, verbunden mit fortgesetzter Anfeindung Calvins selbst aus dem Bernbiet mit Unterstützung der Berner Regierung, Widerstand gegen den Consensus im Abendmahl in Bern und Basel, auch Irrungen mit Bullinger, dessen selbständige Art sich dem calvinischen Geist nicht einfach unterordnen konnte. Wer kann das nur aufzählen, was diesem Kämpfer bei jeder seiner Aktionen sofort von Hemmnissen, Missverständnissen, Verdächtigungen in den Weg getreten ist? Aber er geht seinen Weg vorwärts, mag kommen was kommen will, oft verzagt, aber nie verzweifelt, bekümmert, aber nie verbittert, entschlossen, auch alle Niederlagen als Zuchtruten Gottes aufzunehmen, zum Schwärmer viel zu nüchtern, zu klar, zu demütig, aber dennoch den Blick auf das Unsichtbare gerichtet, seiner Sache und ihres Sieges absolut gewiss, weil es Gottes Sache ist. Ihn beseelte ein Enthusiasmus für Gottes Ehre und Reich, aber es ist ein Enthusiasmus, der sich selbst gebändigt hat, der sich genau Rechenschaft gibt, dass die Welt draußen unsern Wünschen nie folgen wird, dass aus unserer Schwachheit und Sünde selbst die schwersten Verwicklungen sich ergeben müssen, selbst wenn gar keine Widerstände von außen kämen, dass vor dem Erreichbaren die Sehnsucht nach dem Überschwänglichen zurückzutreten hat, und ein Fortschritt nur langsam, maßvoll, Schritt für Schritt, ja auf Umwegen und im Zickzack sich anbahnen wird, aber dennoch Hoffen, Glauben an ein Reich Gottes, das Gott auf dieser Erde, obschon nur provisorisch und immer unvollkommen, sich durch die Menschen schaffen will, das ist Calvin.

Auf wie manches andere wäre noch hinzuweisen! Man muss die einzelnen Freundschaften jede für sich durch die mannigfachen Krisen begleiten, die nicht ausbleiben konnten, wenn der eine Freund Calvin hieß, die Melanchthonkorrespondenz, die Bullingerkorrespondenz, die Freundschaft mit Farel; leider ist von der Butzerkorrespondenz, die zum allerwichtigsten gehörte, fast nichts erhalten. Calvin als Freund, das müsste ein Glanzkapitel einer Calvinbiographie sein; wie freimütig, offenherzig und doch wie taktvoll, vornehm verkehrt er mit diesen Männern! Von einem solchen Mann Kritik zu empfangen, muss immer ein innerer Gewinn gewesen sein; es gibt da nur eine Ausnahme, das Verhältnis zu Toussaint, in das später (im zweiten Band) dritten Personen unheilbare Dissonanzen brachten. Einmal kam es vor, dass Farel Calvins Fleiß besonders herausstrich. Calvin antwortete, er habe nicht ohne Beschämung die Stelle in Farels Brief gelesen, in der Farel seinen Fleiß lobe, „da ich mir doch meiner Faulheit und Langsamkeit bewusst bin“ „Der Herr gebe, dass ich trotz meines langsamen Kriechens doch etwas ausrichte“ (303). Was muss der Mann von sich selbst verlangt haben?

Damit schließe dieser kurze Versuch, unter deutschen Lesern Interesse und Freude zu wecken für einen Mann, mit dem sich niemand ohne persönlichen innern Gewinn näher beschäftigen kann. Der zweite Briefband wird nach dem Abschluss der Genfer Kämpfe die machtvolle Entstehung der Hugenottenkirche und ihre ersten kriegerischen Aktionen, den Sieg der Reformation in England und Schottland, das Vordringen des Calvinismus in Deutschland und die Leidensgeschichte der evangelischen Union uns mit Calvins Augen und Herz erleben lassen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/c/calvin/briefe/geleitwort.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain