Burk, Carl - Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür?

Burk, Carl - Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür?

Evang. Marci 16,1-8.
Und da der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria Jacobi und Salome Spezerei, auf dass sie kämen und salbten ihn. Und sie kamen zum Grab an einem Sabbater sehr frühe, da die Sonne aufging. Und sie sprachen unter einander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen dahin und wurden gewahr, dass der Stein abgewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab, und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes weißes Kleid an; und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht. Ihr sucht Jesum von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden, und ist nicht hier. Siehe da die Stätte, da sie ihn hinlegten. Geht aber hin, und sagt es seinen Jüngern und Petro, dass er vor euch hingehen wird in Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen schnell heraus, und flohen von dem Grab; denn es war sie Zittern und Entsetzen angekommen, und sagten niemand nichts, denn sie fürchteten sich.

Gelobet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Amen.

Christ lag in Todesbanden,
Für unsre Sünd gegeben;
Der ist wieder erstanden
Und hat uns bracht das Leben;
Des wir sollen fröhlich sein,
Gott loben und dankbar sein
Und singen: Hallelujah, Hallelujah!

Was kann es, liebe Freunde, Schlichteres und Einfacheres geben als dieser Vers? Da ist kein Schmuck rednerischer oder dichterischer Worte, da ist keine erkünstelte Begeisterung, keine gemachte Rührung, da wird ganz einfach berichtet von einem Ereignisse und wird hingewiesen auf unsere Verpflichtungen, die aus solchem Ereignis folgen. Aber so gewaltig ist dieses Ereignis, dass die bloße Erwähnung desselben von selbst schon zu einem Lob- und Triumphliede wird. Ja „Man singt vom Sieg in den Hütten der Gerechten.“ Ostern ist das rechte Siegesfest. Es ist ein Sieg, der verkündigt wird, ein Sieg nicht eines einzelnen Volkes, über welchen andere Völker trauern müssten, sondern es ist ein Sieg, gewonnen für die ganze Menschheit, ein Sieg über einen Feind, der freilich nicht vernichtet, von dem vielmehr ausdrücklich gesagt ist, dass er unter allen Feinden zuletzt erst werde aufgehoben werden. Aber der Stachel ist ihm genommen für alle diejenigen, welche an den sich halten, der diesen Sieg gewonnen hat, unseren Herrn Christum.

O welch eine furchtbare Gewalt hat der Tod über die Menschheit ausgeübt, ehe der Herr Jesus gestorben und auferstanden ist! welch furchtbare Gewalt übt er jetzt noch aus, wo man die Botschaft von der Auferstehung des Herrn nicht kennt oder nicht annimmt! Wie ängstlich fürchtet man ihn im voraus! wie trostlos klagt man, wenn er sein Zerstörungswerk vollbracht hat! Ja gerade die ernstesten und nachdenklichsten Menschen müssten ohne die Osterbotschaft die unglücklichsten sein, weil sie nicht wie die gefühllose und gedankenlose Menge durch Vergessen oder durch die flüchtigen Genüsse des Tages die Bitterkeit des Todes zu vertreiben vermögen.

Wer daher des Todes Schrecken schon gespürt hat, wen der Tod der Seinen betrübt, wen der Gedanke an den eigenen Tod geängstet hat, der freue sich dieses Sieges und bringe dem, der ihn gewonnen hat, seinen Dank dar! Ja das wollen wir alle, die wir ja alle des Todes Bitterkeit schon empfunden haben, von ganzem Herzen tun, indem wir von dem Liede 170 den ersten Vers singen.

In Christo Geliebte! Die Frauen aus Galiläa, welche wir kaum noch stehen sahen unter dem Kreuze des Herrn, begegnen uns heute auf dem Weg zu seinem Grab. Doch es sind nicht alle; eine fehlt unter ihnen, Maria, die Mutter des Heilandes. Von dem Augenblick an, da der Herr vom Kreuze herab sie der Obhut und Fürsorge seines Jüngers Johannes empfohlen hatte, verschwindet dieselbe aus der heiligen Geschichte. Es wird nie mehr ihrer Erwähnung getan, wir wissen nicht, was aus ihr geworden ist, und alles was erzählt wird von ihrem weiteren Leben, das sind unzuverlässige Fabeln. Aber die drei anderen gehen miteinander zum Grab. Wie sie, als die Jünger zerstreut waren, ausgehalten hatten unter dem Kreuz in Kraft ihrer dankbaren Liebe zu ihrem Herrn und Meister, so ist es dieselbe Liebe zum Herrn, welche sie nun in der Morgenfrühe des Sonntages zum Grab hinführt. Unterwegs aber ist es eine Frage, welche ihr Herz bewegt, eine Sorge, die sie sich machen. Die Sorge um ihre eigene Zukunft mochte ja freilich schwer auf ihnen lasten, aber das ist vergessen, und nur das Eine, ob es ihnen auch möglich sein werde, dem Drange ihrer Liebe zu folgen und ihrer Dankbarkeit gegen den Herrn Ausdruck zu geben, nur das Eine bewegt ihre Seele, da sie sprachen: „Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“

Diesem Wort, Geliebte, lasst uns weiter nachdenken in dieser Stunde der Andacht. Wir fassen ins Auge:

  1. die menschliche Frage, und
  2. die göttliche Antwort auf diese Frage.

I.

„Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“ Das ist die vielsagende Frage der Frauen, eine Frage, in welche eigentlich im Grunde ihrer Seelen, wenn auch in etwas anderem Sinne, die ganze Menschheit einstimmt.

Zum Grab gehen die Frauen, zum Grab, welches nicht nur den Leib ihres Herrn, sondern zugleich mit ihm alle ihre Hoffnungen zudeckt. Zum Grab wandern wir alle. So verschieden die Ziele sind, denen die Menschen nachjagen im Leben, an einem Ziel kommen sie alle wieder zusammen am Grab. Ja unser ganzes Leben, was ist's anders, als ein Wandeln unter Gräbern? Was ist's, das von den Menschen zuletzt übrig bleibt, als eben das Grab? Ganze Menschengeschlechter, welche dahingegangen sind, von welchen man nichts mehr wusste, von denen in den Jahrbüchern der Geschichte kein Buchstabe zu lesen steht, sie steigen wieder ans Licht, wenn man ihre Gräber entdeckt. Das Grab ist das Letzte und häufig das Einzige, was der Mensch zurücklässt, und da ist's dann kein Wunder, dass wir ans Grab bei den verschiedensten Anlässen geführt werden. Bald ist es nach Gottes Führung das Grab eines lieben Angehörigen, an welchem wir stehen müssen, bald ist es das eigene Grab, an welches im Geiste zu treten göttliche Heimsuchungen uns Anlass geben, indem sie uns, so ungern wir's hören mögen, eindringlich zurufen: „Du musst von hinnen, Mensch, du musst!“

So wandert die Menschheit zum Grab. Aber dies Ziel, so unerbittlich es vor einem jeden steht, ist doch eines, dem man entgehen möchte, wenn es nur möglich wäre; denn jedem Menschen ist die Scheu vor dem Tode und die Lust zum Leben angeboren; und dass der Menschengeist, der doch ein Herr ist über die äußere Natur und ihre Kräfte, der die Gesetze der Natur erforscht, die Kräfte derselben seinem Willen dienstbar macht und für seine Zwecke sie verwendet, dass er doch von diesen äußeren Naturkräften sollte abhängig sein, dass sein Sein und sein Nichtsein durch dieselben bestimmt werden sollte, das ist ein Widersinn, der sich dem Menschen aufdrängt, und der einem jeden das Recht gibt, ja der jedem Menschen die Notwendigkeit auferlegt, zu fragen: wer wälzt den Stein von des Grabes Tür? - Aber wo eine Antwort finden auf diese Frage?

Die Menschen haben wohl eine Antwort sich selber zu geben versucht, aber sie haben es nicht weiter gebracht als zu Träumen ihrer Einbildungskraft. Wie einer, der vor einem Spiegel steht, sein eigenes Bild erblickt, wie wenn es hinter dem Spiegel wäre; so hat der Mensch von jeher das Bild seines gegenwärtigen Lebens gleichsam hinüberversetzt in das Jenseits, hat eine Fortsetzung dieses Lebens, vielleicht in einer etwas veränderten Gestalt, im Jenseits sich selber vorgespiegelt. So war es und ist es heute noch der Traum heidnischer Völker, dass nach dem Tode das gegenwärtige Leben mit seinen Schlachten und Jagden und Trinkgelagen seine Fortsetzung finde. Aber wenn das Licht der Erkenntnis hineinfällt in ein Volksleben, so schwindet dieser Traum, und es bleibt von demselben nur noch das übrig, dass man ein schattenhaftes Dasein, ein Fortbestehen ohne Kraft des Lebens, ohne Freude des Lebens, ein trostloses Dasein erwartet. Aber nicht einmal dies vermag der Mensch als sichere Gewissheit festzuhalten, nein, jeder, der keine göttliche Antwort hat, jedes Volk, das von der göttlichen Offenbarung nichts weiß oder nichts will, muss zuletzt dahin gelangen, dass man im Widerspruch mit jener Forderung des eigenen menschlichen Geistes und Herzens behauptet: Es ist überhaupt aus mit dem Geiste, die Seele des Menschen zerflattert im Tode, der Stein lässt sich überhaupt nicht abwälzen von des Grabes Tür, und wenn etwas hervorgeht aus dem Grab, so sind es nur die Stoffteile dieses äußeren Erdenleibes, welche andere Verbindungen eingehen und etwa in dem Gras, das aus den Grabhügeln hervorsprosst, wiederum ans Tageslicht treten. Also die Erwartung, dass der Geist lebe, dass der Leib vergehe, sie wird hier geradezu umgekehrt und als die höchste Weisheit verkündigt: der Leib, der Stoff ist unvergänglich, aber der Geist ist vergänglich! Das ist die traurige Antwort, welche der Mensch aus eigenem Denken findet auf jene sein Herz bewegende Frage: „Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“

Wo es aber so traurig aussieht, was will da der Mensch noch am Grab? Darum gehen Tausende jeder Mahnung an Tod und Grab ängstlich aus dem Wege. Andere aber zieht es hin mit ihren Gedanken zu den Gräbern der Ihrigen. Was suchen sie dort? Was suchen die Frauen am Grab des Herrn? Dass sie den Lebendigen dort finden, daran haben sie keinen Gedanken: nicht als an eine Stätte des Lebens, sondern als an eine Stätte des Todes wandern sie hinaus, und was sie dort suchen, ist nur die Erinnerung an das, was sie gehabt haben. Erinnerung ist das Einzige, womit Tausende auch heutzutage, bei dem Gedanken an den Tod und bei der Erfahrung der Bitterkeit des Todes, sich noch meinen trösten zu können. Was hilft dir's aber, wenn du in deinem Gedächtnis alle die, welche mit dir gelebt haben und welche vor dir ins Grab gesunken sind, dir wieder zurückrufst? was hast du davon für einen Trost? sind sie dir deswegen nicht genommen? wird nicht dein Lebensweg einsamer und einsamer, je älter du wirst, und stehst du nicht allmählich da unter einem andern Geschlecht, das du nicht verstehst und das dich nicht versteht? Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür?

Die Erinnerung tut's nicht; im Gegenteil, mit der Erinnerung steigen allerlei Gedanken auf in deiner Seele, welche dir die Macht des Todes nur um so fühlbarer, welche dir das Herz nur um so schwerer machen. Wohl erinnerten sich die Frauen an das, was ihr Herr an ihnen getan hatte, aber in je herrlicherem Lichte seine Freundlichkeit vor ihnen stand, desto mehr empfanden sie, wie viel sie verloren hatten; desto mehr lebte ihr Schmerz auf. Und noch andere Gedanken, welche uns das Herz beschweren können, kommen mit der Erinnerung an die Dahingegangenen. Du hast, wie die Frauen im Evangelium, einen zu Grab gebracht, an dessen Leben deine schönsten Hoffnungen sich knüpften, und sie alle hat der grausame Tod vernichtet. Oder es ist eine unentfaltete Blüte, welche der Tod in deinem Hause abgebrochen hat. Welch' quälende Fragen erheben sich da! Wozu ist das Kind geboren, wenn es doch zum Lichte des Lebens, zum geistigen Leben nicht erwachen sollte? Warum habe ich den Sohn, die Tochter mit viel Sorge und Mühe erzogen, wenn sie gerade in dem Augenblick weggerafft werden, da sie von der Aussaat so vieler Jahre Früchte hätten ernten können? Da ist ferner der Gedanke, welcher gerade da, wo das Band der Liebe das allerengste war, leicht sich regt, und zu der quälenden und beunruhigenden Frage führt: Habe ich nicht vielleicht an dem Verstorbenen etwas versäumt? bin ich nicht irgendwie selbst schuld an seinem Tode? O, es sind das peinliche Gedanken, welche den Menschen bei der Erinnerung an den Dahingeschiedenen oft quälen, und so grundlos sie auch sein mögen, sie sind doch ein Stachel, den man schwer los wird. Ein noch schwererer Stein, der auf dem Grab liegt, sind die Gewissensvorwürfe, die Gedanken an das Unrecht, das man an den Entschlafenen oder mit ihnen begangen hat. O, wie fallen da dunkle Schatten auf die Erinnerung an den Entschlafenen, wenn einem dieses oder jenes lieblose Wort, diese oder jene Versäumnis dessen, was wir ihm schuldig gewesen wären in seinem Leben, dieses oder jenes Ärgernis, das wir ihm gegeben haben, in der Seele aufsteigt! Wer wälzt solch einen Stein von des Grabes Tür? Und wenn du von deinem Gott hingeführt wirst an dein eigenes Grab, wenn dir dein eigenes Scheiden nahe gelegt wird womit willst du dich trösten? womit willst du die Bangigkeit dir vertreiben, wenn du Gottes Offenbarung nicht hast? Wir wissen, wie die Gebildetsten in der Heidenwelt, die größten, berühmtesten Leute, kein anderes Mittel hatten, um des Todes Bitterkeit zu vertreiben, als die Erinnerung, d. H. die Hoffnung, dass sie selbst nach ihrem Tode fortleben werden in der Erinnerung ihrer Mit- und ihrer Nachwelt.

Aber sage selbst, ob dieser Gedanke wirklich dich trösten kann angesichts des Todes? Was hilft's dich, und wenn dein Name der allerberühmteste wäre auf Erden, was hilft's dich, wenn du dahingegangen bist? und was hilft dich das Lob der Menschen, wenn in dir etwas ist, das dich verklagt, eine Stimme, die dir Sünden vorwirft, von denen die Menschen nichts wissen? Was hilft dich aller Glanz deines Namens, wenn du innerlich das Zeugnis hast, dem sich doch keiner entziehen kann: „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht.“ Vor dem Gerichte eines heiligen Gottes erscheinen müssen mit seinen verborgenen Sünden, o das ist ein Gedanke, dem gegenüber aller Welt Ruhm erbleichen muss! Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür? wer nimmt das hinweg, was das Schwerste ist beim Gedanken an das Sterben, was den eigentlichen Stachel des Todes bildet - die Sünde, die Schuld, die auf der Seele liegt?

Die Frauen am Grab denken nur an das Vergangene, sie versetzen sich zurück in das, was sie einst gehabt haben, und das ist's eben, was sie mit Wehmut erfüllt. Dass sie aber an die Zukunft dächten, eine bessere, höhere, hellere Zukunft erwarteten, davon ist bei ihnen keine Spur, und so geht's jedem Menschen, der die göttliche Antwort nicht hat auf jene Frage: „Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür?“

Steine liegen auf unseren Gräbern, und wenn wir an der Erinnerung uns laben wollen und den Becher der Erinnerung an die Lippen setzen, sofort fällt uns ein Tropfen bitterer Wehmut hinein, die Erinnerung an - unsere eigene Schuld.

So will und kann der Mensch von sich aus nicht hinausschauen in eine herrlichere Zukunft, sondern je näher er dem Grab kommt, desto sehnsüchtiger in fruchtlosem Verlangen geht sein Blick auf die Vergangenheit zurück. „Brächte die Gottheit zurück mir doch die vergangenen Jahre,“ lässt ein heidnischer Dichter seinen Helden beten, und „ach, dass ich wäre wie in den Tagen meiner Jugend,“ so hat der große Dulder Hiob geseufzt. Aber was hilft das? Eine Antwort auf die Frage: „Wer wälzt den Stein von des Grabes Tür?“ können sie alle miteinander nicht geben.

II.

Aber Gott sei Dank! dass Er uns diese Antwort gegeben hat. Er hat auf die rechte Antwort schon hingedeutet im alten Bunde. Wenn da gesagt ist: „Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs,“ so hat unser Herr Jesus von diesem Worte die Hülle hinweggezogen und uns gezeigt, dass darin schon ein Wegwälzen des Steines von des Grabes Tür angebahnt ist. Wenn Gott mit einem Menschen sich so verbindet, dass Er sagt: Ich bin sein Gott, so ist diesem Menschen darin die Gewähr gegeben, dass er nicht eine flüchtige Erscheinung sei, die in der Zeit entsteht und in der Zeit vergeht, sondern dass er, wie er dem ewigen Gott angehört, selbst unvergänglichen Lebens teilhaftig sei. Darin haben denn auch die Frommen des alten Testamentes eine Ahnung des ewigen Lebens gehabt, wenn auch keine sichere Gewissheit, dass sie wussten: ich gehöre meinem Gott an, Er hat mich erwählt. In der Gewissheit ihrer Verbindung mit dem Gotte des Lebens konnten sie sagen: „Ich bleibe stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an;“ und konnten rühmen: „Ich will satt werden, wenn ich erwache nach deinem Bilde.“

Und was damals angedeutet war, das ist durch des Herrn Tod und Auferstehung für uns zur hellen Wahrheit, zur felsenfesten Gewissheit geworden. In unserem Herrn Christo ist der lebendige Gott geeint mit der Menschheit, und so sind durch Ihn Lebenskräfte hereingekommen in diese Welt und es ist der Tod, „den niemand zwingen konnt bei allen Menschenkindern,“ bezwungen durch die Kraft des lebendigen Gottes. So hat der Herr den Stein weggewälzt zunächst von seinem Grab und dann von unseren Gräbern.

Er hat ihn weggewälzt von seinem Grab. Im Evangelium Matthäi wird uns erzählt, dass ein Engel vom Himmel gekommen sei und habe den Stein vom Grab gewälzt. Man hat das schon so verstanden, als ob dadurch der Engel dem Herrn hätte Bahn gemacht, dass derselbe aus dem Grab hervorgehen konnte. Wer aber die Worte des Evangelisten genauer betrachtet, der wird finden, dass dem nicht so ist. Eines solchen Engeldienstes bedurfte der Herr, der Lebendige, nicht. Wie er am Abende des Osterfestes in den Kreis seiner Jünger trat, da die Türen verschlossen waren, so ist Er aus dem Grab hervorgegangen, da des Grabes Tür noch verschlossen war, da der Stein noch auflag. Nicht damit der Herr auferstehen könne, ward der Stein hinweggewälzt, sondern damit die Frauen sich überzeugen können, dass Er auferstanden sei.

Daraus sehen wir, Er ist aus dem Grab hervorgegangen, wohl in seinem wahrhaftigen Leibe, aber nicht in einem irdischen, der Vergänglichkeit unterworfenen Leibe; Er ist hervorgegangen in einem verklärten Leibe, für welchen die Schranken des Raumes aufgehoben waren.

Zu solcher Verklärung des Leibes aber ist er dadurch gelangt, dass der Geist Gottes, der in Ihm war, auch sein Leibesleben mehr und mehr durchdrungen hat, dass die Gottheit, welche mit der menschlichen Natur vereinigt war, ihre Kräfte, ihre göttliche Art mehr und mehr ergossen hat in seine Menschheit. Das war beim Herrn ein Werk nicht eines Augenblicks, sondern es war das Werk seines ganzen Lebens. Da Er den Willen seines Vaters tat, da er sein natürliches, menschliches Wollen dem göttlichen aufopferte, da Er, wie Er im hohepriesterlichen Gebet sagte, sich selbst für seine Jünger heiligte, da wurde sein irdisches, menschliches Wesen von diesen Kräften der Gottheit mehr und mehr durchdrungen und dadurch vorbereitet für die Auferstehung. Ja sein ganzes Leben hindurch, insbesondere in seiner Leidenszeit, hat der Herr die schwere Last des Steines weggewälzt von seinem Grab. Der Kampf in Gethsemane, das Leiden am Kreuz, da das Weizenkorn erstarb, das alles war nur eine Vorbereitung für sein Wiederaufleben, das alles war nur Mittel, um den Stein von seines Grabes Tür zu wälzen. Darum ist der Herr aus dem Grab nicht bloß hervorgerufen worden. Die Auferstehung ist Ihm nicht eine bloße Wohltat, die von außen her Ihm zuteil wurde, sondern sie ist zugleich hervorgewachsen aus dem in Ihm schon vorhandenen Lebenskeime. Warum sprosst das erstorbene Samenkorn wieder auf aus der Erde? Wohl hat auch die Wärme der Sonne, die vom Himmel herabscheint, und die Feuchtigkeit des Bodens Einfluss darauf, aber es würde doch nicht aufgehen, wenn nicht in ihm selbst ein Keim des Lebens enthalten wäre. So ist bei unserem Herrn beides beisammen, der auch seinem Leibesleben infolge all seiner irdischen Seelenarbeit eingepflanzte Keim unvergänglichen Lebens und andererseits die Allmacht seines Gottes. Deswegen steht beides in der Schrift: „Gott hat Christum auferweckt,“ und „der Herr ist erstanden.“

Und wie Er nun den Stein weggewälzt hat von seines Grabes Tür, nicht durch ein Wunder göttlicher Allmacht bloß, sondern durch die innere ernste Seelenarbeit, welche durch sein ganzes Leben hindurchging, so will Er's auch tun bei uns. Er will den Stein von unseres Grabes Tür wälzen, aber auf demselben Wege, wie er von dem seinigen gewälzt wurde. Nicht ein gleichsam zusammenhanglos, plötzlich erfolgendes Wunder ist unsere Auferstehung, sondern, es ist dieselbe und muss sein, vorbereitet durch das, was in unserem irdischen Leben geschieht.

Und worin besteht nun diese Vorbereitung? Vor allem darin, dass wir die Seinen sind, denn nur wer ein Glied ist am Haupte, kann sich des Wortes getrösten:

„Lässet auch ein Haupt sein Glied
Welches es nicht nach sich zieht?“

Die Seinen aber sind wir einzig und allein durch seine Erwählung von seiner Seite, und durch unsern Glauben, welche seine Retterhand ergreift, von unserer Seite. Soll also der Stein von des Grabes Tür dir gewälzt werden, so musst du den Glauben haben, dass der Herr Christus dir die Versöhnung erworben, und dass Gott um seinetwillen dir deine Sünden vergebe. Dieser Glaube aber ruht auf des Herrn Auferstehung.

Freilich hat Er durch seine Dahingabe am Kreuz, durch das Opfer, welches Er dort gebracht, die Sünde der Welt hinweggenommen, aber wer dürfte, wer könnte fest glauben, dass jenes Opfer des Herrn dem himmlischen Vater wohlgefallen habe, wer könnte gewiss sein, dass das Wort des Heilandes, er gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele, Wahrheit sei, wenn nicht auf den Tod die Auferstehung erfolgt wäre, und wenn nicht der himmlische Vater dadurch das herrlichste Zeugnis dafür gegeben hätte, dass jenes Opfer des Herrn Ihm wohlgefällig gewesen sei? So wird durch des Herrn Auferstehung dem Vertrauen auf Sein Verdienst erst die feste, tatsächliche Grundlage gegeben; - und nun „wer sich fühlt beschwert im Herzen,“ auf wessen Gewissen dieser schwerste Stein liegt, der Stein der Sünde, des Schuldbewusstseins, der schaue auf beides hin, auf das Kreuz, das auf Golgatha stand, und auf das geöffnete Grab unseres Herrn, und lerne es dem Apostel nachsprechen: „Er ist um unserer Sünde willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt.“

Wenn aber das erreicht ist, dann ist die weitere Aufgabe die, dass auch in unser Wesen hinein, zunächst in unser Seelenleben, die Kraft der Auferstehung des Heilands sich ergieße. Denn nur derjenige, bei welchem das Leben des Herrn angefangen hat in der Seele, wird auch an seinem sterblichen Leibe dereinst die Lebenskräfte Christi erfahren dürfen. Es muss bei uns wahr werden: „So lebe nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir,“ ehe das andere Wort sich erfüllen kann in der Herrlichkeit: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“. Alles daher, was dazu dient, jenes Leben des Heilandes, sein Geistesleben hineinzubringen in unser eigenes Innere, alles Gebet, durch welches wir seine Lebenskräfte an uns ziehen, jede Betrachtung seines Wortes, jeder Gebrauch seines Sakraments ist eine Vorbereitung für das Hervorgehen unseres Leibes aus dem Grab, alles das hilft dazu, den Stein von des Grabes Tür zu wälzen. Und noch mehr: alles Halten seiner Gebote, jeder Sieg in der Selbstverleugnung ist eine Kräftigung des unvergänglichen Lebens Christi in uns. So oft wir den eigenen Willen hinuntergeben unter den seinen, so oft wir durch den Geist des Fleisches Geschäfte töten, so oft arbeiten wir daran, in seiner Kraft den Stein zu wälzen von des Grabes Tür. Und Gott der Herr hilft selbst dazu durch seine Führungen.

Wenn Er uns heimsucht mit Leiden und wenn unter der Wucht des Kreuzes der äußere Mensch zusammenbricht, zugleich aber der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird; wenn wir versetzt werden in die Gemeinschaft der Leiden des Herrn, um dann auch die Kräfte Seiner Auferstehung an unserer Seele zu erfahren; so ist das alles ein Hinwegräumen des Steines, eine Vorbereitung für die selige, fröhliche Auferstehung.

Dies ist auch der Weg, auf welchem wir dahin gelangen, dass der Stein von den Gräbern der Unsrigen gewälzt wird. Alle Hoffnung der Wiedervereinigung mit denen, die uns im Tode vorangegangen sind, aller Trost des Wiedersehens hat nur dann einen festen Grund, wenn wir mit ihnen Glieder an einem Leibe sind, wenn das Leben dessen, der den Tod überwunden hat, in ihnen und in uns vorhanden ist.

Ja Er, den, als er gestorben war, der Tod nicht zu halten vermochte, vermag nun, da Er lebt, den Stein von unseres Grabes Tür zu wälzen. Darum wollen wir uns Ihm übergeben, wollen in Seiner Nachfolge Seinen Tod an uns erfahren, um dereinst auch seiner Auferstehung teilhaftig zu werden! Ihn bitten wir:

„Hilf mir aus den Fesseln gehen,
Da die Welt mich mit bestrickt;
Hilf mir geistlich auferstehen,
Allem Sündendienst entrückt;
Schenk mir Kraft zum neuen Wesen,
Dass es täglich Ostern sei,
Dann kommt einst der Tag herbei,
Da du völlig mich erlösen
Und zu dir erheben wirst,
Auferstandner Siegesfürst!“

Amen.

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