Bunyan, John - Pilgerreise - Sechstes Kapitel.

Bunyan, John - Pilgerreise - Sechstes Kapitel.

Pilgers Erlebnisse an und auf dem Hügel Beschwerde.

Indem ich die drei Wanderer mit meinen Augen verfolgte, bemerkte ich, daß sie zu dem Hügel Beschwerde gelangten, an dessen Fuße eine Quelle war. Außer dem Wege, der in gerader Linie von der Pforte kam, waren an diesem Orte noch zwei andere Wege: der eine zog sich an der linken, und der andere an der rechten Seite des Hügels hin; der schmale Weg aber führte gerade den Hügel hinauf: es war jedoch beschwerlich ihn zu gehen. Ehe sich Christ dazu anschickte, trat er zu der Quelle1) und trank daraus, um sich zu erquicken; dann aber fing er an den Hügel zu ersteigen und sang:

„Ist gleich der Hügel steil, den ich jetzt möcht' ersteigen,
Soll mir die Mühe doch den Muth nicht niederbeugen,
Denn dieser Weg, ich weiß es, führt zum Leben:
Drum muthig, Herz! kein Bangen und kein Beben!
Schwer besser, und den rechten Weg erklommen,
Als leicht, und in der Hölle auszukommen.„

Die beiden Andern kamen auch zu dem Fuße des Hügels. Da sie aber sahen, daß derselbe steil und hoch wäre, und daß es noch zwei andere Wege gäbe, auf denen man auch gehen könne, so faßten sie den Entschluß, die beiden untern Wege einzuschlagen, um so mehr, weil sie vermutheten, daß beide wieder mit dem Wege, auf welchem Christ wandelte, zusammenkommen würden. Der eine von jenen beiden Wegen hieß Gefahr, der andere Verderben. Nun trennten sich die zwei Wanderer, indem der Eine den Weg Gefahr wählte, der ihn in einen großen Wald führte, der Andere aber sich geradezu auf den Weg Verderben begab, der ihn in eine Gegend voll dunkler Berge brachte, wo er strauchelte und fiel, daß er nie wieder aufstand. 2)

Darauf blickte ich Christ nach, um zu sehen, wie er den Hügel hinauf ging. Ich bemerkte, wie er vom Laufen zum Gehen kam und vom Gehen zum Klettern auf Händen und Knieen, weil der Weg immer steiler und steiler wurde. Als er den Hügel bis zur Hälfte erstiegen hatte, kam er an eine schöne Laube, welche der Herr des Hügels zur Erquickung der müden Wanderer hingepflanzt hatte. Als Christ dahin gekommen war, trat er hinein und setzte sich nieder, um auszuruhen. Nun zog er seine Schrift heraus und las zu seiner Stärkung darin. Auch besah er auf's Neue den Rock oder das Gewand, welches ihm gegeben worden war, als er beim Kreuze stand. Nachdem er sich so eine Weile ergötzt hatte, fiel er in einen festen Schlaf, der ihn hier zurück hielt, bis daß es fast Nacht war. Während er aber geschlafen, war ihm die Pergamentrolle, worauf das Zeugniß stand, aus der Hand gefallen. Als er noch schlief, trat einer zu ihm, weckte ihn und sprach: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler, siehe ihre Weise an, und lerne.3) Dadurch schreckte Christ plötzlich auf, eilig setzte er seinen Weg fort und ging ohne Aufhalten weiter bis er auf den Gipfel des Hügels kam.

Als er nun hier stand, kamen zwei Männer in hastiger Eile auf ihn zu. Einer von ihnen hieß Furchtsam, der Andere Mißtrauen. Christ sprach zu ihnen: Was macht ihr, meine Herren? ihr laufet ja den verkehrten Weg!

Furchts. Wir waren auf dem Wege nach der Stadt Zion und hatten bereits diesen beschwerlichen Ort überstiegen, aber je weiter wir kommen, desto größer ist die Gefahr, die uns begegnet, und deßwegen wandten wir um und wollen wieder zurück.

Mißtr. Ja, gerade vor uns im Wege liegen zwei Löwen, wir wissen nicht, ob sie schlafen oder wachen, allein wir konnten nicht anders denken, als daß sie uns in Stücke zerreißen würden, wenn wir in ihre Nähe kämen.

Chr. Ihr macht mich bange; aber wo soll ich hinfliehen, um sicher zu sein? Gehe ich zurück in meine Heimath, so werde ich dort gewiß umkommen, denn sie soll mit Feuer und Schwefel verbrannt werden; kann ich aber die himmlische Stadt erreichen, so bin ich überzeugt, daß ich mich dort in Sicherheit befinde. So muß ich's denn wagen. Umkehren ist doch anders nicht als der Tod; weiter gehen auf meinem Wege setzt zwar in Furcht des Todes, führt aber in das ewige Leben. Also schüttelte Christ die Furcht ab und sprach: Wohlan, ich will dennoch vorwärts gehen! Mißtrauen und Furchtsam aber liefen den Hügel hinunter, während Christ seines Weges weiter zog. Als er nun wieder daran dachte, was die beiden Männer ihm gesagt hatten, griff er nach seinem Zeugnisse, um dann zu lesen und sich zu stärken. Er fühlte darnach, aber siehe, er fand es nicht. Dadurch gerieth Christ in große Verlegenheit und wußte zuerst gar nicht was er anfangen sollte, denn es fehlte ihm gerade das, wodurch er sich zu trösten Pflegte und was ihm den Eingang in die himmlische Stadt verschaffen sollte. Als er nun so ganz bestürzt und rathlos dastand, fiel ihm endlich ein, daß er in der Laube, neben dem Hügel in den Schlaf gefallen wäre.4) Da warf er sich auf die Kniee und bat Gott, daß er ihm diese Thorheit vergeben möge. Sodann kehrte er wieder zurück, um sein Zeugniß zu suchen.

Allein wer vermag die Betrübniß völlig zu beschreiben, die Christ auf dem ganzen Rückwege in seinem Herzen empfand? bald seufzte, bald weinte er, aber öfter noch schalt er sich selbst, daß er so thöricht gewesen wäre, einzuschlafen an jenem Orte, der nur dazu bestimmt war, daß er sich ein wenig von seiner Müdigkeit ausruhen sollte. In solcher Weise ging er wieder um und sah den ganzen Weg über bald nach der einen und bald nach der andern Seite hin, ob er wohl so glücklich sein möchte, seine Pergamentrolle, die ihm auf seiner Reise so oft zum Troste gewesen war, wiederzufinden. Er ging, bis er die Laube erblickte, wo er gesessen und geschlafen hatte. Aber ihr Anblick machte seine Bekümmerniß um so größer, indem er auf's Neue an die Missethat erinnert ward, die er dadurch begangen, daß er geschlafen hatte. 5) So ging er weiter und beweinte seinen Sündenschlaf, indem er sprach: ach, ich elender Mensch, der ich schlafen konnte, da es Tag war! der ich schlafen konnte, da ich in einer so gefährlichen Lage war! und der ich meinem Fleische gütlich that durch eine Ruhe, welche der Herr des Hügels nur zur Erquickung für die Seele der Pilger bestimmt hat! Wie manchen Schritt habe ich vergeblich gethan! Ähnlicherweise erging es den Kindern Israels, da sie um ihrer Sünde willen wieder auf den Weg nach dem rothen Meere zurückgeschickt wurden. Mit Schmerzen muß ich nun diesen Weg wandeln, den ich mit Freuden hätte zurücklegen können, wenn ich mich nicht dem Sündenschlafe hingegeben hätte. Wie weit wäre ich jetzt wohl schon auf meinem Wege! Nun muß ich den Weg dreimal machen, den ich nur einmal hätte zurückzulegen brauchen. Ja, nun überfällt mich auch die Nacht, denn der Tag ist fast dahin. O, daß ich doch nicht geschlafen hätte!

Während deß war er wieder bei der Laube angelangt. Hier setzte er sich ein Weilchen nieder und weinte. Endlich sah er voll Sorge unter die Bank, worauf er saß, und da fügte es Gott, daß Christ seine Rolle gewahr wurde: mit Zittern und Eile hob er sie auf und steckte sie zu sich. Niemand vermag jedoch die Freude zu schildern, welche dieser Mann hatte, daß er seine Rolle wiedergefunden. War sie ja doch die Bürgschaft seines Lebens und seiner Aufnahme in den ersehnten Hafen. Darum legte er sie auf sein Herz, dankte Gott, der sein Auge dahin gerichtet, wo sie lag, und mit Thränen der Freude begab er sich wieder auf seine Pilgerfahrt.

Wie hurtig lief er nun den Hügel hinan! Ehe er indessen den Gipfel erreicht, ging die Sonne vor Christ unter. Dadurch kam er aber wiederum auf den Gedanken, wie thöricht er daran gethan, daß er eingeschlafen wäre, und so klagte er sich abermals selbst an: o, du feindlicher Schlaf! wie bin ich um deinetwillen genöthigt, meine Wallfahrt in der Nacht fortzusetzen! ich muß ohne Sonne einhergehen. Finsterniß bedeckt meinen Fußpfad und hören muß ich den Angstruf unheilverkündender Geschöpfe und das Alles wegen meines sündlichen Schlafens! Hierauf fiel ihm auch ein, was Mißtrauen und Furchtsam ihm erzählt hatten, wie sie erschreckt worden durch den Anblick der Löwen. Und so sprach er zu sich selbst: Diese Thiere gehen des Nachts auf ihren Raub aus, wenn sie mir nun aber auch in der Dunkelheit begegneten, wie könnte ich ihnen ausweichen? was sollte ich anfangen, daß ich von ihnen nicht in Stücke zerrissen würde? unter solchen Gedanken ging er seines Weges fort. Doch während er so seine unglückseligen Fehltritte beklagte, richtete er seine Augen empor und siehe, vor ihm stand gerade ein gar stattlicher Pallast, dessen Name Prachtvoll war.

1)
Jes. 49, 10.
2)
Sprüch. 4, 19.
3)
Sprüch. 6,6.
4)
Offenb. 3,3.
5)
Offenb. 2,4. f. 2 Thess. 5,6—8.
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