Brockhaus, Rudolf - Das Reich Gottes

Brockhaus, Rudolf - Das Reich Gottes

Es gibt in den Ratschlüssen Gottes bezüglich der Erde zwei große Systeme oder göttliche Verwaltungen (Haushalte), das eine gegründet auf die Verantwortlichkeit des Menschen bzw. die Treue, mit der er dieser Verantwortlichkeit entsprochen hat, das andere gegründet auf den Ratschluß und die wirksame Kraft Gottes. Das erste ist der Haushalt des Gesetzes, das zweite der Haushalt des Reiches. Das erste begann mit dem Gesetz auf dem Berge Sinai, unter das der Mensch sich freiwillig stellte (vergl. 2 Mose 19,8), und es währte bis auf Johannes den Täufer; das zweite trat mit dem Zeugnis dieses Vorläufers des Herrn Jesus in Erscheinung und wurde von ihm von vornherein als nahe herbeigekommen angekündigt. Diese Predigt wurde dann von dem Herrn Jesus und seinen Jüngern ausgenommen und fortgesetzt.

Das Volk Israel stand auf dem Boden des Gesetzes, und wenn es das Gesetz gehalten und die Botschaft des Reiches angenommen hätte, so würde dieses Reich in Macht aufgerichtet worden sein, und Friede und Ordnung hätten unter dem Scepter des Friedensfürsten auf dieser Erde herrschen können. Aber wir wissen, daß der Mensch nicht imstande ist, das Gesetz zu halten, und als das wahrhaftige Licht zu leuchten begann, da zeigten sich die tiefen Schatten der Finsternis erst recht. Der wahre Zustand des Menschen, sein natürliches Verderben und seine Feindschaft gegen Gott wurden offenbar. Das Zeugnis des Johannes und des Herrn Jesus selbst wurde verworfen, Johannes wurde enthauptet und Christus ans Kreuz geschlagen.

Damit war die Aufrichtung des Reiches in Macht und Herrlichkeit selbstverständlich unmöglich geworden. Die Prophezeiung Daniels war erfüllt: „Der Messias wird weggetan werden und nichts haben„ (Daniel 9,26), und statt einer Zeit äußerer Machtentfaltung kamen für Israel Jahrhunderte der Schmach und Verwerfung. Diese Zeiten werden so lang währen, bis der Messias Israels als „Sohn des Menschen“ wiederkehren wird, um seine Herrschaft über alles, was im Himmel und auf Erden ist, anzutreten. In Übereinstimmung damit sagte der Herr in der letzten Nacht zu den Leitern des jüdischen Volkes: „Von nun an werdet ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels„. (Matthäus 26,64).

Ist denn das Reich damals überhaupt nicht aufgerichtet worden? Ja, es ist aufgerichtet worden, aber es hat eine ganz neue, geheimnisvolle Form angenommen. Über diese neue Form belehrt der Herr seine Jünger in den bekannten Gleichnissen von Matthäus 13. Ihnen, und damit uns, war es gegeben, in die „Geheimnisse des Reiches der Himmel“ eingeführt zu werden. Dem in dieser Beziehung bereits geoffenbarten „Alten„ sollte jetzt „Neues“, bisher nicht Geoffenbartes, hinzugefügt werden. Darum sagt der Herr von dem im Reiche der Himmel unterwiesenen Schriftgelehrten, daß er „Neues und Altes aus seinem Schatz hervorbringe„.

Doch beschäftigen wir uns zunächst einen Augenblick mit der Bedeutung des Ausdrucks

Reich Gottes.

Das Wort Reich (eigentlich Königreich) Gottes erweckt schon an sich den Gedanken an einen Bereich oder einen Zustand, in welchem die regierende Macht Gottes unter dem jeweils nach seiner Weisheit gegebenen Umständen zum Ausdruck oder zur Ausübung kommt. Es ist die weiteste, umfassendste Bezeichnung unter den verschiedenen ähnlichen Ausdrücken, denen wir im Worte Gottes begegnen. Wir hören da von

  1. dem Reich,
  2. dem Reich der Himmel,
  3. dem Reich meines (oder ihres) Vaters,
  4. dem Reich des Sohnes des Menschen,
  5. dem Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus.

„Reich Gottes“ ist gleichsam ein Sammel- oder Gattungsname, unter den die anderen Namen sich gruppieren, oder dem sie sich angliedern. Das Wort hat eine innere, geistliche oder sittliche, und eine äußere, mehr in den Bereich der Sinne fallende Bedeutung. Selten erscheint es ausschließlich in der ersten, mehr in der zweiten Bedeutung, oft aber auch in beiden zugleich. In seinem geistlichen Charakter tritt es unverkennbar vor unsere Blicke, wenn wir lesen: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geiste„ (Römer 14,17); oder: „Das Reich Gottes besteht nicht im Worte, sondern in Kraft“. (1 Korinther 4,20.) An den gleichen Sinn dürfen wir auch zunächst wohl denken in Stellen wie Apostelgeschichte 1,3; Apostelgeschichte 8,12; Apostelgeschichte 20,25; Apostelgeschichte 28,21; doch darf der andere hier keineswegs ausgeschlossen werden. (Vergl. auch Matthäus 6,33; Johannes 3,3; Apostelgeschichte 8,12 u. v. a. St.) In dem inneren oder geistlichen Sinne kann begreiflicherweise nur der Glaube das Reich Gottes sein. Darum sagt der Herr zu Nikodemus: „Es sei denn daß jemand von neuem (oder von oben her) geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen„.

Als Gott in der Person Seines Sohnes auf dieser Erde erschien, war das Reich Gottes da, weil er, der König des Reiches, da war und sich in seiner ganzen göttlichen Macht und Weisheit offenbarte. Darum sagt der Herr auch zu den Pharisäern, die in der Feindschaft und Verblendung ihrer Herzen behaupteten, er treibe die Dämonen aus durch Beelzebub, den Obersten der Dämonen: „Wenn ich durch den Geist Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch hin gekommen“ (Matthäus 12,28; Lukas 11,20), und in Lukas 17,20-21 lesen wir: „Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es beobachten könnte; noch wird man sagen: Siehe hier! oder: Siehe dort! denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch„.

In der zweiten, mehr äußeren, sinnfälligen Bedeutung war das Reich Gottes noch nicht da. Es war nahe gekommen, aber noch nicht da. Der König Israels war erschienen, um es aufzurichten, und wir sagten uns schon: wenn Israel ihn ausgenommen hätte, so würde der Aufrichtung des Reiches nichts im Wege gestanden haben. Der nach Johannes Kommende, aber vor ihm Seiende war da mit seiner Worfschaufel in seiner Hand, um seine Tenne (Israel) durch und durch zu reinigen und den Weizen in die Scheune zu sammeln. (Matthäus 3,11-12). Aber infolge der Verwerfung Christi mußte die Errichtung des Reiches in richterlicher Macht und in Herrlichkeit hinausgeschoben werden. Diese Errichtung ist heute noch zukünftig und wird sich erst erfüllen bei der zweiten Wiederkunft Christi, d. i. bei der „Erscheinung des Sohnes des Menschen“, wenn alles Fleisch, jedes Auge ihn sehen wird, auch die ihn durchstochen haben. Inzwischen hat er sich gesetzt zur Rechten der Majestät droben und wartet auf die Zeit, da Gott alle seine Feinde ihm zum Schemel seiner Füße legen und „den Stab seiner Macht aus Zion senden wird„. Dann, „am Tage seiner Macht“, wird sein Volk (der gläubige Überrest aus Israel) „voller Willigkeit sein„, und er wird als „Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks“ auf seinem Throne sitzen und „herrschen von Meer zu Meer und vom Strome bis an die Enden der Erde„. (Psalm 110; Sacharja 6,13; Psalm 72; Jesaja 9,7 u. v. a. St.)

Der Glaube sieht Jesum jetzt schon droben verherrlicht und mit Ehre gekrönt und weiß, daß ihm bald alles unterworfen sein wird. Für den Glauben ist alles gesichert in dem Löwen aus Juda, der überwunden hat, dem geschlachteten Lamme, das auf dem Throne des Vaters sitzt — noch nicht auf seinem eigenen Throne. (Offenbarung 3,21). Ich sagte bereits, daß das Reich seit der Verwerfung und „Auffahrt des Sohnes des Menschen dahin, wo er zuvor war“ (Johannes 6,62), einen ganz neuen, eigenartigen Charakter angenommen hat. Es ist ein Reich geworden, dessen König verworfen ist, und in welchem alle, die diesen König lieben, Schmach und Verwerfung mit ihm teilen müssen, ein Reich, das auf dieser Erde aufgerichtet ist, in welchem aber himmlische Grundsätze herrschen, das mit anderen Worten vom Himmel her geleitet und regiert wird. Das ist der Grund, weshalb es in dem Evangelium nach Matthäus, in welchem uns die Verwaltungswege oder wechselnden Haushalte Gottes in besonderer Weise vorgestellt werden, fast immer, mit wenigen Ausnahmen (Matthäus 6,33; Matthäus 12,28; Matthäus 19,24; Matthäus 21,31; Matthäus 21,43: Reich Gottes; Matthäus 26,29: Reich meines Vaters) die Bezeichnung trägt:

Reich der Himmel.

Der Ausdruck „Reich der Himmel“ findet sich in keinem anderen Evangelium. Er wird nur von Matthäus gebraucht, dem Evangelisten also, der uns die Person unseres Herrn vornehmlich als Messias (Christus) vor Augen stellt. Und wo er vorkommt, wird das Reich ausnahmslos als zukünftig bezeichnet oder gedacht. Warum? Der Grund ist einfach. Während das „Reich Gottes„ notwendigerweise da war, als der Sohn Gottes auf Erden wandelte, oder mit anderen Worten, als Gott hienieden war, konnte das „Reich der Himmel“ nicht bestehen, solang Jesus nicht verworfen und in den Himmel zurückgekehrt war. Ich wiederhole: „konnte„ nicht. Denn die Einführung des „Reiches der Himmel“ als eines Zustandes der Dinge in diese Welt ist gerade das Ergebnis dieser Rückkehr, die Darstellung oder Entfaltung des Reiches Gottes in seinem himmlischen Charakter. Diese Darstellung folgte auf die Verwerfung des Königs dieses Reiches durch Israel und die ganze Welt. Sobald man diese Tatsache erfaßt hat, schwindet manche Schwierigkeit. Man versteht dann sofort, warum der Herr Jesus in Matthäus 72,28 nicht sagen konnte: „Das Reich der Himmel ist zu euch hingekommen„, oder in Matthäus 21,43: „Das Reich der Himmel wird von euch weggenommen werden“. Das Reich Gottes war da, konnte also weggenommen werden, aber als Reich der Himmel bestand es noch nicht.

Der hochgeborene Mann, dessen Reich „nicht von dieser Welt„ war, ist in ein fernes Land gezogen, um ein Reich für sich zu empfangen und dann wiederzukommen. (Vergl. Lukas 19,11; Lukas 19,12; Lukas 23,42) Während der Zeit seiner Abwesenheit steht er mit seinem Reiche hienieden nur in geistlichem Sinne in Verbindung. Jede äußere Beziehung ist abgebrochen und jeder Anspruch seinerseits auf die äußere Entfaltung und Anerkennung seiner königlichen Rechte aufgegeben. Zugleich vollzieht sich ein ganz neues Werk, die Berufung der Braut des Lammes aus allen Völkern der Erde, die Sammlung der Gemeinde des lebendigen Gottes, deren erste Anfänge wir in dem Überrest aus Israel, den eigentlichen Kindern des Reiches, in Apostelgeschichte 2 erblicken. „Der Herr tat täglich zu der Versammlung (Gemeinde) hinzu, die gerettet werden sollten.“ (Apostelgeschichte 2,47). Alle Gläubige, ja, alle, die sich heute zu Christo bekennen, ob bekehrt oder unbekehrt, befinden sich in dem Reiche der Himmel, gehören äußerlich zu ihm und sind darum gehalten, dessen Grundsätze, wie sie in Matthäus 5-7 niedergelegt sind, zu beobachten.

Johannes der Täufer stand gleichsam auf der Grenzlinie der beiden Verwaltungen oder Haushalte Gottes. Als der Vorläufer des Königs, der im Geist und in der Kraft des Elias seine Ankunft ankündigte, ähnlich wie am Ende der Tage Elias, der Prophet, von Gott gesandt werden wird, um das Herz der Väter zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern zu wenden (Maleachi 4,5-6), war er der größte der Propheten, stand aber noch auf dem Boden der alten Ordnung, die dem Verschwinden nahe war. Darum konnte der Herr in Bezug auf ihn zu den Jüngern sagen: „Wenn ihr es annehmen wollt, er ist Elias, der kommen soll„. Johannes war für den Glauben damals das, was der kommende Elias einmal tatsächlich sein wird, wenn „der Tag Jehovas kommt, der große und furchtbare“. Johannes selbst wurde, ehe das Reich errichtet wurde, von dem gottlosen König Herodes ins Gefängnis geworfen und bald nachher ermordet. Seltsame Wege Gottes! Sie waren für jeden Juden, der Johannes als den großen Propheten Gottes betrachtete, unbegreiflich. Johannes „ärgerte sich“ für einen Augenblick an dem Herrn und sandte einige seiner Jünger zu ihm mit der Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir eines anderen warten?„ und der Herr mußte ihn daran erinnern, daß alle die Zeichen, die nach der Aussage der Propheten mit der Gegenwart des Messias verbunden sein würden, da seien: Blinde wurden sehend, Lahme wandelten, Aussätzige wurden gereinigt usw. Aber nichtsdestoweniger blieb Johannes der größte der von Weibern Geborenen, den Herrn selbstverständlich ausgenommen; ja, er war, wie der Herr sagt, „mehr als ein Prophet“, indem die Propheten selbst von ihm geredet hatten.

Wie ist nun demgegenüber das Wort des Herrn über Johannes zu verstehen, daß „der Kleinste im Reiche der Himmel größer ist als er„? Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß in diesen Worten nicht an den persönlichen Zustand der betreffenden Personen zu denken ist, als wäre etwa ein schwacher Gläubiger heute größer als ein mächtiger Zeuge Gottes wie Johannes, oder als wäre ein ängstlicher Christ der Gegenwart in einem besseren geistlichen Zustand als ein Glaubensmann im Alten Bunde. Nein, der Herr will einfach darauf hinweisen, daß eine ganz neue Ordnung der Dinge im Begriff war zu kommen, eine Ordnung, in welcher es auf Grund der bedingungslosen Gnade Gottes und der Wirkungen des Heiligen Geistes Segnungen und Vorrechte für den Menschen gibt, die den Kleinsten derer, die sie besitzen und genießen, größer erscheinen läßt, als den Größten unter denen, die auf dem Boden des gesetzlichen Haushalts standen. Es handelt sich hier nicht um den Zustand, sondern ausschließlich um die Stellung der Betreffenden. Zugleich bestätigen die Worte des Herrn das weiter oben schon Gesagte, daß das Reich als eine für den Menschen auf dieser Erde aufgerichtete Segensordnung damals noch nicht da war. Johannes kündigte sein Herannahen als unmittelbar bevorstehend an, aber es konnte erst seinen Anfang nehmen, nachdem Jesus nach vollendetem Werk zum Vater zurückgekehrt war; und zwar zunächst in geistlichem Sinne, um später, am Ende der Tage, in Macht und Herrlichkeit zu erstehen.

Die Schlüssel des Reiches der Himmel

wurden einst Simon Petrus übergeben. In Verbindung mit dem bekannten Wort des Herrn: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung (Gemeinde) bauen usw.“, hören wir: „Und ich werde dir (Petrus) die Schlüssel des Reiches der Himmel geben; und was irgend du auf der Erde binden wirst, wird in den Himmeln gebunden sein, und was irgend du auf der Erde lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst sein„. (Matthäus 16,19).

Beachten wir zunächst, daß der Herr nicht sagt: die Schlüssel „des Himmels“ oder „des Hauses Gottes, der Versammlung„, auch nicht die Schlüssel „des Himmelreichs“, wie Luther übersetzt. Diese Übersetzung ist zwar zulässig, aber nicht ganz genau und vor allem irreführend, indem sie unwillkürlich den Gedanken erweckt, der Himmel sei der Schauplatz dieses Reiches, und schließlich zu der ganz verkehrten Meinung führt, Himmelreich und Himmel seien gleichbedeutende Begriffe. Der Herr hat deutlich gesagt: „Ich werde dir die Schlüssel des Reiches der Himmel geben„, offenbar zu dem Zweck, um dieses Reich aufzuschließen, denn das ist die Bestimmung eines Schlüssels. Daß Petrus nicht die Macht empfangen hat, für irgend jemand den Himmel aufzuschließen, braucht nicht gesagt zu werden. Der ihm gewordene Auftrag bezog sich — und konnte sich nur beziehen — auf diese Erde, und wir finden die Erfüllung desselben in der Apostelgeschichte. Im 2. Kapitel schließt Petrus den Juden, die durch die Verwerfung ihres Messias alle Anrechte an das Reich verloren hatten, die Tür ins Reich wieder auf, und im 10. Kapitel werden in dem Hauptmann Kornelius und seinen Verwandten und Freunden die Heiden durch ihn in das Reich eingeführt. Zwei Schlüssel, den einen für Israel, den anderen für die Nationen, hatte der Herr in die Hände seines Jüngers gelegt, und beide sind von Petrus gebraucht worden.

Der zweite Teil der Worte des Herrn hat in einem Sinne mit dem ersten gar nichts gemein; er führt einen ganz neuen Gedanken ein. Mit Schlüsseln öffnet und schließt man, aber binden und lösen hat ebenso wenig mit Schlüsseln zu tun wie das vorhergenannte Bauen der Gemeinde. Von einer „Schlüsselgewalt“, von der der Mensch redet, weiß das Wort Gottes gar nichts. Die letzte Hälfte unserer Stelle spricht allerdings von einer Gewalt oder Autorität, aber diese steht in Verbindung mit der Verwaltung des Reiches hienieden. Ein ernstes Beispiel von dieser Gewalt und ihrer Ausübung liefert uns die Geschichte von Ananias und Sapphira in Apostelgeschichte 5. Kraft der ihm verliehenen Autorität band der Apostel die Sünde der beiden unglücklichen Eheleute auf sie, und im Himmel fand seine Handlung unmittelbare Anerkennung. Beide traf der Tod.

Von der Übertragung dieser Gewalt auf die Versammlung (Gemeinde) redet der Herr in Matthäus 18,18. Sie wird dort den Zweien oder Dreien, die „zu seinem Namen hin versammelt sind„, verliehen. „Mit der Kraft des Herrn Jesus Christus“ in ihrer Mitte vermögen auch sie, auf der Erde zu binden oder zu lösen, und ihre Handlungen, die selbstverständlich nur für diese Erde Geltung haben, sollen im Himmel Anerkennung finden. Ja, sie sind verantwortlich, „den Bösen von sich selbst hinauszutun„. (1 Korinther 5,4; 1 Korinther 5,14).

Hier sei noch ein kurzes Wort über Matthäus eingeschaltet. Das erste Gleichnis in diesem wunderbaren Kapitel zeigt uns, wie der Messias, der umsonst Frucht in seinem Weinberg gesucht hatte, sich gleichsam in den Sohn des Menschen umwandelt (er war das selbstverständlich immer) und nun als Säemann in die ganze Welt ausgeht, um den guten Samen des Wortes Gottes auszustreuen. Die natürlichen Beziehungen zu Israel, dem „bösen Geschlecht“, das immer mehr der Gewalt unreiner Geister anheimfällt, sind abgebrochen. (Vergl. Matthäus 12,43-50). Gott sendet jetzt sein Wort der ganzen Welt. Im Anschluß daran geben uns die übrigen sechs Gleichnisse ein Gesamtbild von dem Reiche der Himmel, wie es sich fortan gestalten sollte — wir könnten auch sagen: ein Bild der Geschichte der Christenheit. Die drei ersten Gleichnisse (Unkraut, Senfkorn und Sauerteig) beschreiben seine äußere Entwicklung, wie sie von den Augen der Menschen beobachtet werden kann, die drei letzten (Schatz im Acker, Perle, Netz) reden von seinem Kern oder Inhalt, von seinem inneren Wert, wie Gottes Auge diesen sieht. Darum spricht der Herr bei den ersten drei zu Seinen Jüngern und der Volksmenge, bei den letzten drei nur zu seinen Jüngern; denn ihnen „war es gegeben, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu wissen„, die Volksmenge hatte dafür kein Verständnis.

„Reich der Himmel“ und „Christenheit„ sind zwei Begriffe, die sich in mehrfacher Hinsicht decken. „Reich der Himmel“ und „Versammlung„ oder „Gemeinde“ sind aber niemals gleichbedeutend, können es nicht sein, weil jenes Reich immer in Verbindung steht mit dieser Erde, die Versammlung immer mit dem Himmel. Das Reich der Himmel umschließt Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte, Weizen und Unkraut; die Braut oder Versammlung dagegen besteht ausschließlich aus wahren Gläubigen, Gliedern des Leibes Christi. Die Braut wird in den Himmel entrückt, ehe Christus sichtbarlich erscheint. Das Reich der Himmel wartet auf die allen sichtbare Erscheinung des Sohnes des Menschen und wandelt sich dann, nach Vollziehung des Gerichtes über das Unkraut, um in jenes Friedensreich, von dem die Propheten des Alten Bundes so Vieles und Herrliches geredet haben, und das aus einem irdischen und himmlischen Teile bestehen wird. Hören wir, was der Herr selbst hierüber in Matthäus 13,40-43 sagt: „In der Vollendung des Zeitalters wird der Sohn des Menschen seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reiche (dem Reiche des Sohnes des Menschen, d. h. dem irdischen Teil des Reiches) alle Ärgernisse zusammenlesen und die das Gesetzlose tun; und sie werden sie in den Feuerofen werfen. . . Dann werden die Gerechten (die himmlischen Heiligen) leuchten wie die Sonne in dem Reiche ihres Vaters (dem himmlischen Teil des Reiches).„ Das Reich der Himmel als solches hat dann aufgehört zu bestehen; es ist, wie gesagt, übergegangen in das

Reich des Sohnes des Menschen und das Reich des Vaters (der Gerechten).

Der Traum Jakobs (1 Mose 28,12-14) ist dann in Erfüllung gegangen: Himmel und Erde sind miteinander verbunden, und die Himmelsbewohner dienen als Segenskanäle den Angehörigen des Reiches hienieden.

Der Weizen (die Gerechten) ist eingesammelt in die Scheune des Herrn, das Unkraut (die Gesetzlosen) ist in das Feuer geworfen, das weite Feld des christlichen Bekenntnisses ist geerntet, alle Ärgernisse sind aus dem Reiche entfernt, und dieses kann sich in der ganzen Macht und Herrlichkeit entfalten, wovon die Psalmen und die Propheten so viel geredet haben. Dann „wird Wahrheit sprossen aus der Erde, und Gerechtigkeit Herniederschauen vom Himmel“, und „viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham und Isaak und Jakob zu Tische liegen in dem Reiche der Himmel„.

Dann ist auch das in Offenbarung11,15 angekündigte „Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus geworden“. Es wird nicht mehr vom Himmel her regiert. Der König selbst ist da und hat seine Herrschaft angetreten. „Siehe, ein König wird regieren in Gerechtigkeit, und die Fürsten, sie werden nach Recht herrschen.„ (Jesaja 32,1). „Es werden dem Volke Frieden tragen die Berge und die Hügel durch Gerechtigkeit.“ (Psalm 72,3). Der Wille Gottes geschieht, wie im Himmel also auch auf Erden.

Zum Schluß noch ein Wort über eine vielumstrittene Stelle in 1 Korinther 15. Der Apostel Paulus sagt dort (1 Korinther 15,25)(ff): „er (Christus) muß herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. Der letzte Feind, der weggetan wird, ist der Tod.„

Unser hochgelobter Herr muß und wird herrschen in Gerechtigkeit und Friede, wie nie ein König geherrscht hat und herrschen konnte, zur Verherrlichung Gottes. So wie er den Vater verherrlicht hat in der Zeit seiner Erniedrigung, so wird er ihn vollkommen verherrlichen in der Zeit seiner Erhöhung. Dann wird die Herrschaft auf seiner starken Schulter ruhen, und „die Mehrung der Herrschaft und der Friede werden kein Ende haben“, d. h. solang diese Schöpfung nach Gottes Willen währt, oder, wie die Schrift es ausdrückt, solang Sonne und Mond bestehen. (Psalm 72,7; Psalm 72,17; Psalm 89,29; Psalm 89,36-37; Daniel 2,44; Daniel 7,14; Lukas 1,32-33). Tausend Jahre wird „Sein Tag„ währen; und wenn dann die Jahre seiner Herrschaft vorüber sind und „das Ende“ kommt, mit anderen Worten, wenn Himmel und Erde vergehen und der „ewige Zustand„ anhebt, dann „wird er das Reich dem Gott und Vater übergeben“. Der auch in dieser Beziehung als vollkommen Erwiesene wird seine Herrschaft niederlegen, um dann schließlich wiederum (als Mensch) „Dem unterworfen zu sein, der ihm alles unterworfen hat, auf daß Gott alles in allem sei„ — Vater, Sohn und Heiliger Geist. Alle Herrschaft, Gewalt und Macht, soweit sie mit dieser Schöpfung in Verbindung steht, wird weggetan sein. Aus den Händen des vollkommenen Menschen, in welche Gott sie gelegt hatte auf Grund seines Gehorsams bis in den Tod am Kreuze, wird sie nach tadelloser, vollkommener Verwaltung in die Hände Gottes zurückgelegt werden.

In der gegenwärtigen Zeit ist unserem hochgelobten Herrn wohl schon „alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben“, aber er hat seine Herrschaft noch nicht angetreten, das Erbe noch nicht übernommen. Der Besitz ist „erworben„, aber noch nicht „eingelöst“. (Epheser 1,14). Ihn, den geheimnisvollen Menschen der Ratschlüsse Gottes, den einigen Sohn, durch den und für den alle Dinge geschaffen sind, ihn, der als der abhängige und gehorsame Mensch die Erlösung vollbracht und sich als Erbe aller Dinge zur Rechten der Majestät droben gesetzt hat — ihn hat Gott hoch erhoben und ihm heute schon einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist. „Noch über ein gar Kleines„, und wir werden ihn kommen und alle Gewalt und Macht und Herrschaft in seinen mächtigen Händen glorreich vereinigt sehen, und dann „wird in dem Namen Jesu jedes Knie sich beugen, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge wird bekennen, daß Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“. (Philipper 2,9-11).

Zur Vervollständigung des Bildes bleibt uns noch übrig, einen Blick zu werfen auf

das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus.

Es ist wiederum der Apostel Petrus, dessen Person in Verbindung mit diesem Ausdruck vor unsere Blicke tritt. Er, der die Schlüssel des Reiches der Himmel von dem Herrn empfing, betrachtet in seinen Briefen den Gläubigen nicht, wie Paulus es tut, als auferstanden mit Christo oder gar als in ihm mitversetzt in die himmlischen Örter, sondern als einen Fremdling auf dieser Erde, der wiedergezeugt ist zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi aus den Toten zu einem unverweslichen und unbefleckten Erbteil, das für ihn droben aufbewahrt wird, und der nun auf den Herrn wartet, daß er ihn in den Vollgenuß der verheißenen Segnungen einführe. Als solcher wird er ermahnt, mit umgürteten Lenden seiner Gesinnung völlig auf die Gnade zu hoffen, die ihm bei der Offenbarung Jesu Christi gebracht werden wird (1 Petrus 1,13), oder in seinem Glauben alle jene kostbaren Tugenden darzureichen, die den himmlischen Fremdling hienieden zieren sollen, und so seine Berufung und Erwählung in seinem Herzen fest zu machen. Wenn er dieses tut, wird er nicht nur vor Straucheln und Fallen bewahrt bleiben, sondern es wird ihm auch „der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus reichlich dargereicht werden„. (2 Petrus 1,5-11).

Mit anderen Worten: Das Auge eines solchen Gläubigen, des „Christen“, wie bekanntlich nur Petrus in Kap. 4,16 (1 Petrus 4,16) seines ersten Briefes ihn nennt1), ist klar, Herz und Gewissen sind unbeschwert, und der Eingang in das ewige Reich des Herrn, dessen „Miterbe„ er geworden ist, liegt offen vor ihm. Die zukünftige Herrlichkeit erfüllt gleichsam schon mit ihren Strahlen seine glückliche Seele, erhebt sie über all das gegenwärtige Leid und läßt sie zugleich den wahren Charakter alles dessen erkennen, wodurch Satan das Auge zu blenden und das Herz abzulenken sucht. Das Reich wird hier das „ewige“ Reich unseres Herrn und Heilandes genannt. Der Ausdruck geht also wohl über das hinaus, was uns bisher beschäftigt hat; nicht so, daß die vorübergehende Entfaltung der Herrlichkeit des Reiches, wie sie in der tausendjährigen Dauer der Regierung des Sohnes des Menschen gesehen werden wird, ausgeschlossen wäre, aber der Blick wird über das Zeitliche hinaus in die Ewigkeit gelenkt, auf das gerichtet, was unveränderlich und unvergänglich ist.

Ähnlich wird in Offenbarung 22,3-5 gesagt, daß „seine Knechte ihm dienen, sein Angesicht sehen und herrschen werden von Ewigkeit zu Ewigkeit„. Und in Hebräer 12,27-28, wo von der „Erschütterung und Verwandlung“ alles Erschaffenen geredet wird, lesen wir: „auf daß die Dinge, welche nicht erschüttert werden, bleiben„, und werden ermahnt, „da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, Gnade zu haben, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mögen mit Frömmigkeit und Furcht“.

Es gibt noch eine Anzahl anderer Stellen, wo von dem Reiche Christi oder Gottes, von dem „Reiche des Sohnes seiner Liebe„ usw. die Rede ist; aber sie gehören nicht in den Rahmen unserer Betrachtung. Es wird dem Leser bei aufmerksamer Beachtung des Inhalts und Zusammenhangs der betreffenden Stellen auch kaum schwer fallen, die jeweilige Bedeutung des Wortes „Reich“ zu verstehen. R. B.

1)
Andere haben den Gläubigen diesen Namen schon früher beigelegt (Apostelgeschichte 11,26), aber nur an obiger Stelle wird er von dem Heiligen Geiste gebraucht und damit anerkannt.
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