Bengel, Johann Albrecht - Von der Macht und den Grenzen der menschlichen Vernunft

Bengel, Johann Albrecht - Von der Macht und den Grenzen der menschlichen Vernunft

Die Vernunft ist eine edle, vortreffliche, unschätzbare Seelenkraft, womit der Mensch göttliche und natürliche Dinge in und außer sich »vernimmt«; sie ist aber mir jämmerlicher Verderbnis behaftet und durchdrungen und nicht nur sehr großer Unwissenheit, sondern auch manchem Zweifel und Irrtum unterworfen. Trotz solcher Verderbnis behält der Mensch dennoch einen großen Vorzug, und wegen der Vernunft ist er doch kein Roß oder Maultier, sondern ein Mensch, so daß ihm das, was ihm zu vernehmen zukommt, nicht unbekannt ist oder bleibt.

Die Dinge, welche die Vernunft vernimmt, sind viel und vielerlei. Es stellt sich ihr dar (und kann von ihr erkannt werden):

  1. Der unsichtbare Gott, seine hohen Eigenschaften, seine Werke und Wohltaten an allen Geschöpfen, die dankbare Verehrung, die der Mensch ihm deswegen schuldig ist,
  2. Geister, die unter Gott stehen, gute und böse,
  3. Die Seele und ihre Verbindung mit dem Leibe,
  4. Die Vernunftlehre selbst, mit deren Hilfe die Vernunft es in der Untersuchung und Verteidigung ihrer Erkenntnis immer weitertreibt, ebenso die Sprachen und die Disziplinen (Lehrfächer), die zu einem geschickten Vortrag dienen,
  5. Die natürlichen sichtbaren Dinge samt und sonders mit ihrer Bewandtnis, Zahl, Maß, Gewicht, Bewegung, Wirkung usw., wovon die Mathematik, Physik, Medizin und unzählbare Künste handeln,
  6. Der Unterschied dessen, was ehrlich oder schändlich ist, es sei zu tun oder schon getan, wie auch die Unterscheidung dessen, was für einzelne Menschen oder kleine und große Gesellschaften nützlich oder schädlich ist,
  7. Allerlei Geschichten,
  8. Die Zeugnisse der Heiligen Schrift von der Heiligen Dreieinigkeit, von dem Mittler, von der Heilsordnung, von den Sakramenten, von den letzten Dingen, von vielen Geheimnissen, die den klügsten Heiden nicht bekannt sind.

Etliches hiervon vernimmt die Vernunft von selbst, wozu auch das gehört, was ein Heide aus der Heiligen Schrift nähme, wenn er sie nicht für ein göttliches, sondern für ein menschliches gutes Buch ansähe; etliches aber vernimmt sie aus der Heiligen Schrift durch den Glauben. Bei diesem zweiten ist die Vernunft nur das Werkzeug, bei jenem ersten aber der Grund, das heißt das zweite wird nur durch die Vernunft, das erste aber auch aus der Vernunft erkannt. Manches vernimmt sie einigermaßen von selbst, aber auch dieses viel mehr aus der Heiligen Schrift, und da ist sie viel mehr Werkzeug als Grund. Hierher gehört, was oben Satz 1 bis 3 angeführt ist. Wie weit es in diesem Fall die Vernunft für sich allein bringen kann, ist bei dem größeren Licht der Heiligen Schrift nicht festzustellen, wie man bei hellem Sonnenschein nicht ermessen kann, wie weit eine Laterne leuchtet.

In der Untersuchung der natürlichen, materiellen Dinge kann die menschliche Vernunft, die Klugheit, die Emsigkeit und die Erfahrung weit kommen; und daraus entsteht im gemeinen Leben viel Nutzen, aber auch durch den Mißbrauch nicht wenig Schaden. Der höchste Nutzen, den man aus der Vernunft schöpfen kann, ist die Erkenntnis von dem Schöpfer aller Dinge und von seiner Vorsehung. Auch liegt von Natur einige Unterscheidung des Guten und Bösen in dem Herzen und Gewissen des Menschen.

In den Stücken, da die Vernunft selbst Grund der Erkenntnis ist wie in der Mathematik, der Natur- und Vernunftlehre, soll man der sogenannten neuen Philosophie, um die so stark gestritten wird, all ihren Vorzug lassen; aber in anderen Stücken muß die rechte Weise mit göttlichen Dingen umzugehen mit aller Sorgfalt gewahrt werden, und wenn man die Vernunft da, wo sie nur Werkzeug sein kann, zum Grund oder zur Richtschnur macht, da ist man auf dem Abwege, von dem wir reden.

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