Beecher, Henry Ward - IX. Gott vor Allem.

Beecher, Henry Ward - IX. Gott vor Allem.

Text: Matth. 8,19-22.
Und es trat zu ihm ein Schriftgelehrter, der sprach zu ihm: Meister, ich will Dir folgen, wo Du hingehst. Jesus sagte zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Und ein anderer unter seinen Jüngern sprach zu ihm: Herr erlaube mir, dass ich hingehe und zuvor meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Folge du mir nach und lass die Toten ihre Toten begraben.

Nichts ist verkehrter, als zu meinen, dass die Lehrart Jesu eine irgend wie formalistisch-dogmatische gewesen sei. Jenes strenge, buchstabenmäßige Wesen, welches Viele von uns mit dem Begriff der Religion verbinden, fand in ihm keinen Raum. Wie der Wind die Oberfläche des Meeres kräuselt, so bewegten tausend Wellen die Tiefen seines Lebens. Seine Natur, grundlos wie die Tiefe, trat nicht mit der vollen Breite und Majestät des Ozeans an die unsrige heran, sondern sie berührte die Menschheit, wie der Ozean die Ufer des Festlandes berührt - in flach gekrümmten Baien und tief eingeschnittenen Fjorden, hier mit steilen Vorgebirgen und Felsen, dort mit stillen Buchten und flach verlaufendem Strande. Alle Elemente landschaftlicher Schönheit, mögen sie in dunklen Schattentönen oder in hellen Lichtfarben bestehen, finden sich auf dieser Linie, wo sich das Meer dem Lande eint.

Deshalb war die Lehre Christi reich an Paradoxen, sein Wesen und seine Redeweise reich an überraschenden Wendungen. Wenn man den Ausdruck „gemessen“ gebraucht um eine gewisse Art gleichförmiger Würde zu bezeichnen, so passt dieser Ausdruck nicht für Jesus. Seine Redeweise war mannigfaltig, geistreich und glänzend. Man sieht das aus der großen Anziehungskraft, die sie auf das gewöhnliche Volk und auf Kinder ausübte; sie wurden vollständig durch dieselbe bezaubert. Seine Gebote waren manchmal schlicht und einfach, wie der ebene Weg, den er wandelte; oft jedoch dunkel und fast widerspruchsvoll. Jesus war nicht wie ein regelmäßiger Kanal in gerader Linie, von Anfang bis zu Ende in das gleiche einförmige Flussbett eingezwängt. Er glich vielmehr einem wechselvollen Strom, der nicht zwei gleiche Punkte zeigt; welcher hier in ruhiger Tiefe, dort über Steine und Riffe hinwegströmt, und dann wieder in großen Bogen die mannigfaltigen Szenerien an seinen Ufern durchfließt. Bäume Sträucher, Gras, Blumen, begrenzen wechselvoll seinen Uferrand.

Wir dürfen deshalb nicht über die Szene staunen, die in unserem Text verzeichnet ist. Zuerst kommt ein Schriftgelehrter zu Jesu und sagt: „Meister, ich will Dir folgen, wo Du hingehst.“ Wer waren diese Schriftgelehrten? Sie waren die einflussreichsten Männer im jüdischen Volk. Nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft verlor sich immer mehr und mehr der Gebrauch der hebräischen Sprache unter dem Volk. Das Lesen des Wortes Gottes im Hebräischen war daher von geringem Nutzen. Überdies waren auch Veränderungen darin nötig, um es dem Volke und der Zeit anzupassen, und es wurde bestimmten Personen die Autorität erteilt, diese Veränderungen vorzuschreiben. Die Schriftgelehrten nun waren die autorisierten Verwalter des geschriebenen Gesetzes. Sie waren die Ausleger desselben und bewahrten auch alle schon vorhandenen Deutungen davon auf.

Da das Gesetz die Hauptsumme der jüdischen Geschichte, Literatur und Philosophie ausmachte, so waren die Schriftgelehrten die Doktoren, Professoren und Lehrer, und das Volk sah zu ihnen empor, wie wir zu Solchen hinaufsehen, die sich durch hervorragende Begabung auszeichnen, und in derjenigen Wissenschaft glänzen, die in dem betreffenden Zeitalter gerade am populärsten ist. Es wurde unter den Juden Niemand höher in Ehren gehalten, als eben diese Schriftgelehrten.

Auffällig war es daher, als einer dieser hochgelehrten auserlesenen Juden, nachdem er den Lehren Jesu gelauscht, den Wunsch aussprach, Jesu Jünger zu werden. Christus erschien ihm wahrscheinlich wie ein seltener Mensch, wie ein aus dem jüdischen Volk hervorgegangener Prophet, und es drängte ihn, sich in seine Seelsorge und Lehre zu begeben.

Noch auffallender aber ist die Art und Weise, wie Jesus diesem Begehren begegnet. Jemand der gekommen wäre, eine weltliche Philosophie zu verbreiten, oder eine Partei zu gründen; mit anderen Worten, Jemand, der danach getrachtet hätte, ein irdisches Reich aufzurichten, der würde eine Gelegenheit nicht haben vorüber gehen lassen, die wie die obige geeignet gewesen wäre, ihm einflussreichen Anhang, seiner Lehre Würde und Nachdruck zu verleihen. Unser Heiland aber stieß ihn zurück; er sagte zu ihm „die Füchse haben Gruben rc.“ Jene allgemeinen Feinde, die durch eine allseitige Feindschaft verfolgt sind, und daher in gewissem Sinn die missachtetesten Tiere der Schöpfung repräsentierend - die ärmsten und am meisten verfolgten unter allen Geschöpfen - die Füchse haben Gruben. Sie haben ein Obdach, das ihrer Natur und ihren Bedürfnissen entspricht. Und wenn es Geschöpfe gibt, die vergleichsweise unnütz und von geringer Bedeutung in der Welt sind, so sind es die Vögel, die in den Wäldern und Feldern umherschwärmen um ihr kleines Leben zu fristen, unbeachtet von den Menschen. Ja, die Vögel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. Es ist, als ob er gesagt hätte: „Ich bin obdachlos, ich bin niedriger als das geringste dieser Geschöpfe.“ Das war seine Antwort. Mit anderen Worten: er sagte zu dem Jüngling: „Du hast mich völlig missverstanden; das Königreich, das ich zu gründen kam, hat nicht die Zukunft, die Du davon erwartest. Die Entwicklung meines Königreichs bietet Dir keinen hohen Rang noch Titel, sie verschafft Dir keinen Einfluss noch Reichtum. Ich bin geringer als die geringsten Kreaturen, und mein Leben nach außen hin wird dem ihrigen an Armut gleichen. Wenn Du mir folgen willst, musst Du Deine Erwartungen höher erheben, als Du bisher getan.“ So wies er ihn ab.

Der nächste Fall ist noch bemerkenswerter. Die Art, mit welcher der Heiland die verschiedenen Bittenden behandelte war die seltsamste, die man ausdenken konnte, um Jünger zu versammeln. Lukas teilt uns mit, dass Jesus den Jüngling sah und ihm befahl, ihm nachzufolgen. Nach Matthäus scheint es mehr, als ob der Jüngling freiwillig sich dem Herrn zur Nachfolge dargeboten hätte. „Ein anderer unter seinen Jüngern“ (unter „Jünger“ sind schlechtweg jene gemeint, die dem Herrn seiner Lehre wegen folgten - Jünger und Schüler sind gleichbedeutend) „Ein anderer unter seinen Jüngern sprach zu ihm: Herr erlaube mir, dass ich hingehe und zuvor meinen Vater begrabe.“ Oder nach dem Evangelium Lukas: „Christus sprach: Folge mir nach. Der Jüngling sagte aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe.“ Aber Jesus sprach zu ihm: „Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben.“

Dieser Jüngling hatte augenscheinlich die Macht der Lehre Jesu, die Schönheit eines heiligen Lebenswandels lebendig empfunden. In seinem Herzen hatte er ein ungewisses und doch heftiges Verlangen nach einem anderen besseren Leben gefühlt. Als er durch den Heiland auserwählt und berufen wurde, sein dauernder Anhänger zu werden, da stellte er nur eine einzige Bedingung, eine Bedingung, wie man sie nicht besser auszudenken vermöchte, um seine Forderung zu rechtfertigen. „Mein Vater ist gestorben, lass mich gehen ihn zu begraben, dann will ich wiederkehren und Dein Jünger werden.“ Was schuldet nicht ein Sohn seinem Vater oder seiner Mutter? Wenn es eine Zeit in unserem Leben gibt, wo ein Stillstand in der Arbeit oder in dem Vergnügen gerechtfertigt, ja geboten ist, ist es nicht die Stunde, in welcher wir den letzten Beweis unserer Liebe und Verehrung denen weihen, die ihre Jahre und ihre Lebenskraft dazu verwandten, uns zu Männern zu erziehen?

Unterschätzte nun Jesus das Verhältnis zwischen Vater und Sohn? Sprach er verächtlich von dem Kummer eines trauernden Kindes, von den heiligen Pflichten, die es seinem toten Vater schuldet? Ist es wohl möglich, dass wir mit unserem Bewusstsein von der Liebe, Leutseligkeit und Zartheit des Geistes Jesu, mit unserer Verehrung für ihn, nur einen Augenblick voraussetzen können, er habe je so hartherzig gehandelt, wie es hier seinen Worten nach, mit denen er den Jüngling zurückweist, den Anschein hat? Anstatt ihm eint teilnehmendes Wort zu sagen, anstatt nach seinem Vater zu fragen, anstatt ihn zu trösten und ihm die Kraft Gottes zu einem eben so edlen als natürlichen und gerechten Gange zu wünschen, sagt Jesus zu ihm: „Lass die Toten ihre Toten begraben, folge Du mir nach.“ Die Sache an und für sich erscheint schon hart, die Sprache dabei aber noch viel strenger und härter.

Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass nicht die ganze vollständige Unterhaltung mit allen ihren Beziehungen durch den Evangelisten wiedergegen ist. Kein Mensch vermag das, was im Leben vorgeht, auf das Papier zu übertragen. Die Miene, die Haltung, der Ausdruck des Menschen, die Sprache seiner Augen, die Bewegung seiner Hand, alles was vorangegangen, alles was gegenwärtig war, kurz das wirkliche Leben - kann nie durch eine Beschreibung reproduziert werden. Dies bewahrheitet sich vornehmlich bei den Gleichnissen des Herrn, deren eine große Zahl, dicht auf einen Faden gereiht, ebenso von den sie umgebenden Beziehungen losgerissen ist, wie eine Perle von der Schale, der sie entwuchs.

Wir müssen uns oft ausmalen, welche Episode der Geschichte Jesu durch das Gleichnis beleuchtet wird; die Nebenumstände vieler dieser historischen Momente sind fortgelassen, und das bloße Gerippe der Handlung, wenn ich so sagen darf, ist uns überliefert. So dürftig der vorliegende Fall uns nun auch erzählt ist, so bietet er doch genügenden Stoff zu einer genaueren Erwägung und erscheint nicht so schroff wie auf den ersten Anblick, wenn wir die inneren Bewegründe dabei beachten.

Man könnte fragen: Stehen die Neigungen und Pflichten, die dem häuslichen Leben entspringen, mit der Religion im Widerspruch? Widerstreiten sie derselben so sehr, dass ein Mensch sie gänzlich bei Seite lassen muss, um ein Christ nach der göttlichen Idee der Religion zu werden? Wir müssen zur Beantwortung dieser Fragen auf einen Unterschied aufmerksam machen. Es kommt darauf an, ob die Erfüllung dieser Pflichten gleichsam als ein Kanal dient, in welchen das religiöse Leben hineingeleitet wird, oder ob sie als Ersatz für das letztere dienen soll, durch welchen die Religion verdrängt wird. Wenn wir uns damit begnügen, unsere ganze Lebenstätigkeit in die Erfüllung der kindlichen Pflichten gegen die Eltern zu legen, ohne Hinblick auf höhere Pflichten, wenn wir diese an Stelle der Pflichten gegen Gott setzen, dann gereichen sie uns zum Schaden, sie werden für uns zu Fallstricken. Sehen wir sie aber als Mittel an, ein höheres Leben zu erstreben, so werden sie harmonisch und heilbringend.

Wenn nun Christus wirklich erkannte, dass die angegebene Verpflichtung des Jünglings diesem selbst vielleicht unbewusst eine Ausrede war (wir belügen uns täglich selbst, wir sagen uns fortwährend von Pflichten los durch die Ausrede mit anderen Pflichten, ohne es selbst zu wissen); wenn unser Heiland sah, dass diese natürlichste aller Ausreden doch nur ein Vorwand war, die Überzeugung des Gewissens zu betäuben, das neue Feuer des Verlangens nach dem Herrn auszulöschen, so ist das Verfahren des Herrn völlig gerechtfertigt.

Während der Jüngling in der Nähe des Heilandes weilte, leuchtete ihm ein Leben in der Pflicht gegen Gott, ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott unzweifelhaft auf das glänzendste entgegen. Alle Triebe seiner Natur strebten der rechten Richtung zu. Es war ein Augenblick der Entscheidung, der nicht vernachlässigt werden durfte. Der Jüngling stand auf der Grenze des Überganges zu einer höheren und edleren Geistesrichtung. Wäre er schon stark, wäre er in seinem Glaubensleben schon bewährt gewesen, dann hätte er zu dem Begräbnis seines Vaters gehen können und würde zurückgekehrt sein, eben so wie die Jünger ans Galiläische Meer zu ihren Netzen gingen, und ihre früheren Beschäftigungen wieder aufnahmen, bis Christus sie aufs Neue berief, und sie alles wieder verließen, um ihm nachzufolgen. Wenn nun aber der Jüngling leichten Sinnes, wenn er veränderlich in seinen Neigungen, sein Gemüt leicht erregbar war, wenn die aufregende Zerstreuung eines orientalischen Begräbnisses den Funken, die eben in seinem Innern entzündete Flamme verlöscht hätte, und er, seines Meisters vergessend, sein altes Leben wieder begonnen und des ewigen Reiches verlustig gegangen wäre - dann gab es nichts heilsameres für ihn als gerade das Verfahren des Heilandes.

So haben wir es hier also mit einem Menschen zu tun, der, wie Jesus wohl erkannt haben mochte, Gefahr lief, einer häuslichen Pflicht wegen der höchsten Lebensziele verlustig zu gehen. Wenn wir von außen her, nach konventioneller Anschauungsweise urteilen, so war das Verfahren des Heilandes hart zu nennen. Sehen wir aber auf das Innere, auf die listigen und trügerischen Neigungen der menschlichen Seele, dann war es milde. Der Herr nahm Partei für den inneren Menschen in dem Jünglinge; er war mehr für des Jünglings Vorteil bedacht, als dieser selbst. Er sagte ihm nur: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.“ Dies ist das Erste. Alles andere kommt dann von selbst.

Ich bezweifle nicht, wenn der Jüngling zum Herrn gesagt hätte: „Mein Vater ist gestorben, aber ich will meinen Angehörigen daheim das Begräbnis überlassen, denn meine Seele hängt an Dir und Deinen Wegen, Dir allein will ich folgen,“ dass der Herr bei einer so festen Richtung der Seele auf ein höheres Leben, zu dem jungen Mann gesagt haben würde: „Kehre heim in Deines Vaters Haus, ihn zu begraben, und dann komme wieder und folge mir.“ Hier im umgekehrten Fall aber, wo der Herr sah, dass im Beginn einer edlen Neigung und Sehnsucht der Jüngling gerade auf dem Punkt war, sich selbst unbewusst, der entscheidenden Hinwendung seines Herzens zu ihm doch wieder sich zu entziehen; als der Herr sah, dass jene natürliche Pflicht nur eine Entschuldigung für das Verlassen der edlen Laufbahn war, da sagte er zu ihm: „Überlass denen, die nichts nach einem geistigen Leben fragen, die daheim sind und versunken in das Wesen der Welt, denen, die geistig tot sind, überlass diesen, die Toten zu begraben. Du aber, dem zum ersten Mal dieser neue Gedanke, diese herrliche Erleuchtung, dieser geöffnete Himmel erschienen ist, der Du den rechten Lehrer erkannt hast, Du, in dessen Seele die Keime des neuen herrlichen Lebens hervorbrechen, befestige Dich in dieser Richtung ohne Verzug, und lass Dich durch nichts von ihr entfernen.“

Der Herr war darin also nicht im Widerspruch mit sich selbst. Es lag hier die einfache Frage vor, ob ein Mensch natürliche Neigungen und Pflichten als Vorwand gebrauchen darf, um höheren Anforderungen zu entgehen.

Ich bemerke dazu erstlich: Menschen mögen durch die Früchte der Religion angezogen werden, aber beim Anblick der Anstrengung und Arbeit, deren es bedarf, um dieser Früchte teilhaftig zu werden, geschieht es oft, dass sie das Streben danach dennoch aufgeben. Der Schriftgelehrte, welcher zum Herrn mit dem Worten kam: „Meister ich will Dir folgen, wohin Du gehst,“ erhielt die Antwort: „Nein, Du hältst das Herrliche in mir und meiner Lehre für so hochbegehrenswert, Du wünschst mein Jünger zu werden, weil Du meinst, diese Jüngerschaft werde in ihrer Folge Reichtum und Vermehrung des Ruhmes haben; dem ist aber nicht so. Alles was Du in mir erkennst, erscheint Dir hervorragend gut zu sein, aber von dem Augenblick an, wo Du auf die Probe gestellt und genötigt werden wirst, mir durch Armut, Verfolgung und Selbstverleugnung zu folgen, wirst Du kaum fähig sein, dies Leben um den Preis zu verfolgen, den es Dich kosten wird.“

Eine ähnliche Begebenheit ist die, wo die Mutter der Kinder Zebedäi ihre Söhne zu Christus bringt und zu ihm sagt: „Lass diese meine zwei Söhne sitzen in Deinem Reich, einen zu Deiner Rechten, und den anderen zu Deiner Linken.“ Jesus antwortete: „Könnt Ihr den Kelch trinken, den Ich trinken werde, und Euch taufen lassen mit der Taufe, da ich mit getauft werde? Ihr wollt zu Ehren kommen in meinem Reich, könnt Ihr den Preis dieser Erhöhung zahlen?“ Sie verstanden ihn nicht einmal.

Der Schriftgelehrte wünschte, ein Nachfolger Jesus zu werden, im Hinblick auf weltlichen Glanz: Er setzte irdischen Vorteil voraus. Christus sagte ihm: „Mein Reich ist im Innern. Es ist die Heiligkeit des Herzens. Es ist ein Überströmen selbstverleugnender Liebe, wahrhaftiger Herzensgüte. Bei dem Versuche, mir zu folgen, wirst Du schon auf der Schwelle straucheln und fehl treten, Du wirst nicht im Stande sein können, den Preis für solche Frucht der Heiligkeit herzugeben, die Du jetzt wohl bewunderst, und die Dich anzieht.“

Ein Städter geht im Hochsommer auf den Markt und sieht alle Buden mit verlockenden Gemüsen und lachenden Früchten überladen. Sie umgeben ihn von allen Seiten, ihr Wohlgeruch erfüllt die Luft. Er freut sich ihrer und sagt zu sich selbst: „Wie herrlich! Die Gärtnerei ist die angenehmste Beschäftigung des menschlichen Lebens; ich bin entschlossen, alles was ich in der Stadt besitze, zu verkaufen, und auf das Land überzusiedeln und mir einen Garten anzuschaffen. Seht nur diese Gemüse und Früchte!“ Er geht hin, verkauft sein Grundstück und siedelt sich auf dem Lande an. Und der Sommer kommt, und die Hitze. Der Mann nimmt seinen Spaten, die Harke und Hacke, und geht in seinen Garten, um die Beete für seine Gemüse umzuarbeiten. Doch bevor er eine Woche so geschafft hat, fühlt er, dass am Ende Gemüse nicht so wichtig für das menschliche Leben sind. Die Gemüse, welche auf dem Markt angesammelt und aufgebaut werden, sind erfreulich anzuschauen, aber Gemüse im eigenen Garten, um die man Wochen, Monate, den ganzen Sommer lang arbeiten und sich quälen muss, kosten, denkt der Mann, mehr als sie einbringen. Ihr werdet oft von Menschen, die auf das Land gingen und dort kurze Zeit wirtschafteten, erzählen hören, dass ihnen von ihren Kartoffeln das Stück auf einen Taler zu stehen kam.

Ein anderer Mann ist begeistert von der Idee, Obst zu ziehen; er geht auf das Land und legt seinen Obstgarten mit den kühnsten Erwartungen auf Erfolg an. Aber kaum sind die Bäume gut emporgewachsen, als die ganze Natur sich gegen ihn zu verbunden scheint. Der Frost vernichtet die Blüte, der Wurm benagt die Wurzeln, die Insekten verletzen beides, Blüte und Wurzeln. Und wenn er Jahr auf Jahr sich gequält und seine Bäume endlich in solchen Zustand gebracht hat, dass er glaubt, nun ein Übermaß von herrlichen Früchten zu ernten, da ergreifen vernichtende Krankheiten seine Kirschen und Pflaumenbäume, der harte Winterfrost tötet seine Birnenbäume, seine Apfelbäume setzen überhaupt nicht an - kurz er ist endlich überdrüssig, Obst zu ziehen. Er kehrt zur Stadt heim und sagt: „Ich ziehe es vor, dass Andere für mich Obst ziehen, ich habe genug von der Gärtnerei.“

Menschen gehen in Gottes Haus, und hören das Singen und Spielen, und hören das Lesen aus Gottes Wort, und sehen die friedlichen Gesichter der Anbetenden, und lauschen der feierlichen Stimme, die von dem höheren Leben spricht, und sie fühlen einen Zug nach diesem höheren Leben in sich und sagen: „Ich will dem Herrn nachfolgen, ich will mein Leben der Religion weihen!“ Aber am nächsten Tag, wenn sie versuchen Jesu nachzufolgen, da kommt der Konflikt mit der Selbstsucht - und noch dazu in der gewöhnlichsten und herausforderndsten Art; der Kampf mit dem Stolz in der unangenehmsten Weise; der Kampf mit dem Temperament in der boshaftesten Laune; Konflikte jeder Art mit der menschlichen Gesellschaft. Es erscheint den Menschen, als ob sie sich in eine Dornenhecke geworfen hätten; sie sagen: „Das ist mehr, als ich erwartete; ich verlangte Religion, aber nicht diese Dinge!“ Ja, Ihr wolltet Religion haben, gerade wie Naemann Heilung wollte. Er sagte: „Ich meinte, er sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des Herrn seines Gottes anrufen, und mit seiner Hand über die Stätte fahren und den Aussatz also abtun. Sind nicht die Wasser Amana und Pharphar zu Damaskus besser, denn alle Wasser in Israel, dass ich mich darinnen wüsche und rein würde?“ Tausende von Menschen fühlen sich zur Religion hingezogen durch ihre poetische Schönheit, Macht und Herrlichkeit, sie sind dadurch zum Enthusiasmus entflammt und sehnen sich danach, sie in der eigenen Erfahrung zu verwirklichen; aber die Arbeit, das Joch, die Bürde, das Kreuz verabscheuen sie. Diese nehmen sie nicht in ihren Begriff von der Religion mit auf.

Man kann von der Befolgung eines religiösen Lebens durch Dinge zurückgehalten und abgeleitet werden, die an und für sich recht und unschuldig sind, ja die sogar als unabweisbare Pflicht und Humanität uns erscheinen. Ist demnach ein, religiöses Leben unvereinbar mit weltlichen Pflichten? Nein. Mit häuslichen Pflichten? Nein! Mit bürgerlichen Pflichten? Wiederum nein. Das industrielle, das häusliche, das soziale, das bürgerliche Leben sind in der Tat Institutionen der geistigen Kultur. Durch sie und in ihnen können wir uns zu einem höheren religiösen Standpunkt entwickeln. Und dennoch ist es wahr, dass ein Mensch durch diese unabweisbaren weltlichen Pflichten von einem geistigen Leben eben auch zurückgehalten werden kann. Das kommt daher, weil es notwendig ist, die weltlichen Dinge den himmlischen unterzuordnen und harmonisch mit ihnen zu vereinen. Es genügt nicht, dass der Mensch einfach das Rechte tut, er muss es auch in dem richtigen Verhältnis und zur passenden Zeit tun.

Eine gute Seele, die kinderlos ist, adoptiert eine Anzahl Kinder und nimmt sich vor, sie zu erziehen und gute Bürger aus ihnen zu machen. Aber sie ist außerordentlich häuslich und verwendet ihre Kräfte allein auf die körperlichen Bedürfnisse der Kinder. Sie steht früh auf und legt sich spät nieder und sorgt dafür, dass sie rein am Körper und im Anzuge seien. Ihre fleißigen Finger bewegen unaufhörlich die immer bereite Nadel. Die Kinder sind vorzüglich ernährt und sorgsam behütet. Sie widmet sich so vollständig der Sorge für ihre Kleidung und Nahrung, der Pflege ihres Körpers, dass ihre Kräfte, völlig erschöpft, nicht ausreichen, auch in anderer Weise sich ihnen zu weihen. So geht es heute, morgen, jeden Tag, und immer fort. Sie bekleidet, speist, reinigt die Kinder, legt sie zur Ruhe und weckt sie wieder. Sie denkt wohl fortwährend: „Die Kinder müssen erzogen, ihr Geist muss entwickelt werden,“ aber sie findet keine Zeit, sie zu unterrichten. Ihre ganze Zeit wird von den niederen Bedürfnissen ausgefüllt.

Nun frage ich, ob diese Sorge für das physische Wohl und Gedeihen der Kinder etwas Höheres, Edleres in diesem Fall verdrängt hat? Obgleich diese Dinge getan werden müssen, müssten andere nicht auch bedacht werden? Hätte die ganze Erziehung nicht von vornherein in Bezug auf Zeiteinteilung usw. nach der Lehre unseres Heilandes eingerichtet werden müssen? Er spricht: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit.“ Dies „am Ersten“ will man nicht verstehen; man hält es für verkehrt, man hat keinen Glauben daran. Man will zuerst festen Fuß in dieser Welt fassen, man will ein Geschäft anlegen, ein Haus gründen, dann erst, wenn man es darin zu etwas gebracht hat, will man „religiös“ werden. Der Meister belehrt uns, dass dies allerdings die Ordnung des natürlichen Lebens ist, dass es in dem irdischen Wesen allerdings begründet ist, so zu denken, und dass die Kräfte, die von der Erde entspringen, gar gewaltige und ungestüme sind. Aber in Jesu Königreich herrscht das Gesetz: Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, - nach den geistigen Dingen, als den edelsten und höchsten, nach der Gerechtigkeit und ihren zahllosen Bedingungen. In Jesu Königreich gilt die Regel: „Gott vor Allem! Suche zuerst Gott, den unsichtbaren Gott, und was zu Gott führt: Liebe, Glaube, Hoffnung, Gehorsam - dann wird Dir alles andere zufallen, es wird die natürliche Folge Deines Trachtens sein. Der, welcher nach dem Höchsten strebt, berührt auf seinem Weg alles, was darunter steht; wer aber an dem niederen haften bleibt, berührt nicht die Dinge über ihm. In der Vorsehung Gottes sind die Dinge so in einander verwebt, dass die höheren Elemente die niederen tragen, während die niederen nicht fähig sind, die höheren in sich zu schließen.

Es gibt Menschen, die sich unaufhörlich mit unabweisbaren Pflichten, mit einem Übermaß von Geschäften vor sich selbst entschuldigen. Mancher hat keine Zeit zur Religion, weil die häuslichen Pflichten so drückend sind. Als ob die Religion nicht gerade das Element wäre, welches sie erhebt und trägt, wie die See das Boot trägt, das auf ihr schwimmt. Als ob jemand, der ein himmlisches Leben in sich trägt, und der voll freudiger Hoffnung auf ein Jenseits über ihm blickt, nicht fähig wäre, zu arbeiten und gegen die Armut anzukämpfen! Als ob nicht gerade der Mensch, dem sich ein höheres Reich geistiger Tatkraft erschließt, unendlich viel mehr befähigt würde, die Sorge zu überwinden, als jener, der in einer niederen geistigen Sphäre lebt. Und doch legen die Menschen fortwährend die niederen Pflichten ihrer geistigen Entwicklung in den Weg! Das „erlaube mir erst“ ist ein Hindernis, stark genug, um die Menschen während ihres ganzen Lebens von der Nachfolge Christi zurückzuhalten. Nicht darin liegt es, dass Ihr das Unrechte tut, dass Ihr das Rechttun unterlasst; nein, Ihr sagt: „Erlaube mir, erst das Niedere zu tun, dann will ich mich zum Höheren vorbereiten. Lass mich erst für mich selbst sorgen, lass mich erst mein Haus ordnen, mein Geschäft in den Gang bringen, für meine Umgebung sorgen. Erlaube mir erst dies Unternehmen zu beginnen, und dann -“. Nein! Dies fortwährende Herabziehen des Höheren, um es dem Niederen unterzuordnen, dies immerwährende Bevorzugen des Niederen dem Höheren gegenüber bringt schließlich Demoralisation hervor. Es ist nicht nötig, dass ein Mensch die Bibel fortwirft, oder seinen Gott verleugnet, oder seine Seele freiwillig dem Bösen verkauft. Er braucht nur zu sagen: „Lass mich erst gehen und diese geringeren Dinge tun.“ Sind diese beendet, so werden sich sofort neue finden, deren Vollbringung erst folgen muss. Und so setzen wir diese niederen Pflichten an die Stelle der höheren, und verbringen in ihnen unser Leben, und gehen schließlich unter. Was es auch sei, nichts sollte im Leben eine so hohe Stelle in Eurer Gesinnung einnehmen, als Eure eigene geistige Wiedergeburt, als Euer Glaube an Christus, Eure Pflichten gegen Gott, Euer Heimatsrecht im Lande der Unsterblichkeit. Die höchsten Dinge müssen Euch die ersten sein; es ist ein vernichtender Brand für Eure höheren Pflichten, wenn Ihr die niederen an ihre Stelle setzt. Es ist eine Übertretung des wahrhaftigen Gesetzes der geistigen Natur.

Es genügt nicht, dass wir das Rechte, Wahre und Religiöse gut heißen, bewundern und wünschen. Wir müssen unser Verlangen danach vor alle anderen Wünsche setzen; es muss unser sehnlichster, größter Wunsch sein. Ich gebe zu, dass es keinen Menschen in der Welt gibt, der nicht Sehnsucht nach dem Besseren hätte. Aber Ihr wisst, dass es nur Wenige gibt, deren Verlangen danach größer als alles andere ist. Der träge Mann hat Verlangen nach den Früchten der Industrie; die Arbeit, sie zu erwerben, schreckt ihn jedoch zurück; es gibt hier noch andere Sachen, die er mehr wünscht und die leichter zu erlangen sind. Ein fauler Schüler wünscht auch belehrt zu werden, aber ach, er wünscht nicht zu lernen. Er möchte seine arithmetischen Aufgaben auswendig wissen; mehr aber noch wünscht er zu wissen, was in dem Neste jenes blauen Vögleins in jenem Baum sich findet. Darum verlässt er sich in Bezug auf seine Schulaufgabe lieber auf den Zufall. Nach beiden Seiten zieht es ihn hin, aber der Zug nach der einen Seite ist stärker als der nach der anderen. Ein Mensch wünscht tugendhaft zu sein; es ist dies nur so schwer! Ein anderer will fest an der Moral halten, aber die tausend kleinen verführerischen Schritte, die ihn zum Nachgeben geneigt machen, sind stärker als sein Wunsch, ein edler und reiner Mensch zu werden. Ich glaube, dass sogar selbstsüchtige und habgierige Menschen sich manchmal danach sehnen, wohltätig zu sein. Wenn man ihnen die Wohltätigkeit wie ein Kleid überwerfen könnte, so würden sie es sich gefallen lassen. Es würde ihnen angenehm sein, wenn man ihnen ihren Geiz und ihre Selbstsucht hinwegnehme; sie sind sich oft genug ihrer Knechtschaft bewusst. Sie wünschen es, ihr selbstsüchtiges Herz mit einem wohlwollenden Herzen zu vertauschen, aber andere Wünsche treten bei ihnen in den Vordergrund. Es ist weder was Zeit noch Kraft anlangt ihr erster Wunsch. Er tritt den anderen nicht voran und ist nicht von hervorragender Stärke. Wir sehen die Menschen mit größerem Eifer die niederen Laufbahnen verfolgen, als dass sie dem Höheren nachjagen!

Die Menschen sagen wohl: „Ich bin nicht so schlecht, ich erkenne das Rechte und heiße es gut. Ich glaube an die Bibel, an den Tag des Herrn, an gute Menschen. Meine Mutter war eine gute fromme Christin; ich habe oft gewünscht, dass ich ihr gleichen möge, und ich beabsichtige auch, dies später zu tun. Ich gedenke nicht immer das zu bleiben, was ich jetzt bin. Glaubt nicht, dass ich nicht über die Religion nachdenke: Ich sage Euch, ich habe manche ernste Stunden. Ich sehne mich wirklich danach, ein Christ zu sein.“ Ich weiß es, aber im Grunde willst Du doch nichts weiter sein, als was Du eben jetzt bist. Du willst ein Christ im Allgemeinen sein, aber im einzelnen besonderen Fall willst Du es nicht. Der wahre Christ erfüllt jede der täglich wiederkehrenden Pflichten treu und gewissenhaft; der ist kein rechter Christ, der sie vernachlässigt. Und Ihr vernachlässigt sie mit Vorliebe. Ihr denkt nur an Euch selbst. Ihr legt Euch Euer Leben so zurecht, dass es Eure Genusssucht befriedige, und so verletzt Ihr das Gesetz der Liebe. Ihr zieht es vor, dem Zeitgeist gemäß weltlich und selbstsüchtig zu leben. Euer Streben geht darauf hinaus, Euch selbst alles zu gewähren. Mancher hält sich in seiner Einbildung für einen frommen Menschen, der in der Wirklichkeit doch weit davon entfernt ist.

O, was für Bilder würden entstehen, wenn ich mir nur die Mühe nehme, die Dinge malen zu lernen, die in meiner Phantasie entstehen! Was für Gemälde! Was für herrliche Abdrücke herrlicher Szenen! Was für Portraits! Meine Einbildungskraft ist fruchtbar genug, aber ihre Fruchtbarkeit ist ohne Mittel und ohne Kraft; sie gibt sich nie nach außen kund, und erstirbt in dem Nest, wo sie entstand. Mir fallen Dinge ein, ich denke und denke über sie nach und kleide sie in Bilder - aber ich vergesse sie, und mache von neuem Bilder und vergesse sie wieder. Ich bin eben kein Künstler. Bei einem Künstler gehen die Gedanken vom Kopf in die Hand. Er ist im Stande zu schaffen, was er zu schaffen wünscht. Er ist im Stande, zu fixieren, was sonst als Rauch oder Wolke verdunsten würde. Träumerische Menschen gleichen den Wolken, die niemals regnen. Menschen der Tat schütten Entschlüsse gleich Regentropfen hernieder, und Erfolge wachsen daraus hervor.

Es genügt nicht, dass ein Mensch sagt: „Ich bewundere den Charakter Christi; ich staune über die Vorschriften der Religion; ich bewundere jeden Christen, der nach dem Geist der Religion lebt. Ich kann nie solche Menschen sehen, ohne den Wunsch in mir zu fühlen, dass ich ihnen gleich sein möchte.“

Auch unter uns hier finden sich Menschen, die diese Sehnsucht im Herzen tragen. Kennt Ihr neugierige Vögel? Geht, ohne Geräusch zu machen, in den Wald, und setzt Euch dort behutsam, mit kleinen Vögelchen in der Hand, nieder, bald werdet Ihr aus dem Dickicht alle Vögel herankommen und immer näher fliegen sehen, sie wollen sehen und beobachten, was geschieht. Ich habe hier, jenen Vögeln gleich, Menschen gesehen, die an Kommunionstagen von den Chören herniederschauen, aus den Betstühlen sich hervorbeugen, um zu sehen, was am Abendmahlstisch geschieht. Viele von ihnen denken an ernste Dinge. Viele denken, wenn sie dort sitzen und herabblicken, an Vater und Mutter; sie glauben sie aus der Höhe zu sich sprechen zu hören: O Du irrendes Kind, Du solltest mit dort unten am Tische des Herrn sitzen!“ Viele denken daran, wie ihre Mutter starb, und wie sie ihr versprechen mussten, ein Christ zu werden; sie aber taten es nicht. Manche Menschen finden förmlich Geschmack daran, Bußtränen zu weinen, ihr Gewissen sieht darin eine Art Sühne. Männer und Frauen wohnen einer Versammlung wie der heutigen bei, und sehen in ihr den Akt heiliger Anbetung und Weihe. Und die erhabene Heiligkeit erscheint ihnen in der Tat schön und herrlich. Sie gehen hinweg mit niedergeschlagenem Antlitz und sympathisch berührtem Herzen; und wenn sie daheim anlangen, sagen sie: „Ich versichere Euch, die Predigt heute erquickte mich; ich freue mich, dass ich zur Kirche ging.“ Ja. wohl, aber die Predigt wird bei Euch wie Wasser sein, das man auf Sand gießt. Es wird ihn befeuchten und hinwegspülen, und morgen werden weder Gras noch Blumen erkennen lassen, wohin die Tropfen fielen. Es hilft zu nichts. Ihr gabt der Predigt Euren Beifall; sie berührte Euch angenehm; Ihr wünscht Euch das, was sie verkündete; Ihr sehnt Euch danach; aber nach anderen Dingen sehnt Ihr Euch noch viel mehr.

Ich sehe Solche hier gegenwärtig, die seit Jahren unter uns weilen. Sie sind begabte, intelligente Menschen, und nach dem weltlichen Begriff voll Vorzüglichkeit, Menschen voll trefflicher häuslicher Eigenschaften. Sie meinten stets, besser als Andere zu sein. Sie haben sich das höhere Leben zurechtgemodelt. Sie haben Sehnsucht nach dem Glauben an Jesum Christum gehabt. Sie hielten dies höhere Leben, das sie teils durch Lehren, teils an lebenden Beispielen erkannten, hoch, und trugen Verlangen danach. Sie meinten es zu besitzen, und lebten weiter, und gewöhnten sich daran, so fort und fort zu leben; und es scheint, als ob sie es so bis an ihr Lebensende treiben werden. Sie verbringen ihr Leben in dem Wunsch, Christus nachzufolgen, in der Tat aber folgen sie ihm nie. Sie sagen immerwährend: „Erlaube mir erst zu gehen und für den Montag zu sorgen, dann will ich Dir folgen.“ Dann kommt der Dienstag, der Mittwoch, die ganze Woche. Und Woche auf Woche, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr vergeht, und sie kehren nicht wieder um, dem Herrn zu folgen. In der Zeit der Sorge heißt es: „Wenn dies vorbei ist, will ich Dir dienen,“ und in der Zeit der Freude sagen sie: „Wenn sie vorüber, will ich beginnen.“ Wenn die Arbeit drückt, heißt es: „Ich will mir eine freie Stunde reservieren und sie der Ausübung der Religion weihen.“ Ist die freie Stunde da, so sagen sie wieder: „Ich bin so müde und abgespannt, dass es nicht die richtige Zeit zum Beginnen wäre.“ - Die Menschen finden stets einen Grund, um Pflichten, die ihnen die Stimme des Gewissens vorschreibt, aufzuschieben, zu umgehen, oder unerfüllt zu lassen. Das wirkliche Ergreifen des Herrn Jesu Christi durch den Glauben, ist die Pflicht, die nie erfüllt wird.

Es gibt nicht einen einzigen Teil Deines äußerlich so erfolgreichen Lebens, der nicht im Widerspruch mit Deinem christlichen Leben stände. Nichts wurde je im irdischen Leben vollbracht, wo nicht einem bestimmten Verlangen der Vorzug gegeben und aus dem Vorzug der Entschluss gereift wäre. Wenn Du in irgend etwas Irdischem Erfolg hattest, so geschah es, weil Du Deinen Entschluss ausführtest, und Deine Kräfte auf den wünschenswerten Gegenstand konzentriertest, bis Du ihn erlangt. Aber wer legte solche Hand an das göttliche Leben, wie die Menschen Hand ans irdische legen, und verfolgte es mit solcher Beharrlichkeit, wie diese es zu tun pflegen, dass er durch vermehrtes Wissen und fortgesetztes Vorwärtsschreiten zu dem Reich des Geistes und der Religion hindurchgedrungen wäre!

Die Menschen brauchen ihre Phantasie nicht zu unterdrücken, sie brauchen ihre irdische Tätigkeit nicht zu verlassen, aber ihre heftigste Liebe, die höchste Anspannung ihrer Tatkraft sollte sich darauf richten, das Niedere der höheren Entfaltung der Seele unterzuordnen, sie sollten sagen: „Ich will zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten.“ Ich bin dessen gewiss, dass dem Menschen, der so handelt, alle erwünschten Dinge zufallen werden.

Ich flehe Euch an, Ihr Säumigen, Ihr Zögernden, Ihr, die Ihr die süßen, blumigen Gefilde des Christentums erblickt habt, Ihr, die Ihr herein geschaut habt in den Garten des Herrn, und die Ihr von den Wohlgerüchen berührt wurdet, welche einem gottseligen Leben entströmen, schaut nicht länger darauf hin mit dem bloßen Sehnen danach. Wenn der Herr Gott ist, und Euer Gott, so dient ihm. Wählt doch! Lasst endlich die Zeit dieser geistlosen Gedanken, dieses gestaltlosen unfruchtbaren Sehnens aufhören. Legt keinen Wert auf diese Empfindungen. Belügt Euch nicht damit, dass Ihr Euch vorredet, sie seien, wenn auch nicht gänzlich, so doch beinah Religion. Das ist ein religiöses Leben, welches einen festen Knochenbau hat, und Muskeln an den Knochen, und Haut, die Muskeln zu umkleiden. Das religiöse Leben hat eine lebendige Seele in sich, welche die höchsten und edelsten Dinge ersehnt, allem Anderen voranstellt und sich für sie entscheidet. Und wenn Ihr Gott vor Allem als Euer Teil erwählt habt, und das Leben des wahren geistigen Gehorsams als edelste Gestalt des Lebens, dann wird diese Entscheidung allem Anderen vorangehen. Dann werdet Ihr in der Tat in ein neues Leben eingetreten sein.

Gebe Gott, dass einige von Euch, die bisher gesagt: „Herr erlaube mir erst, dass ich gehe und meinen Vater begrabe,“ nun sagen möchten: „Ich will Dir folgen, obgleich mein Vater und meine Mutter gestorben sind, oder im Sterben liegen, obgleich mein Haus in Flammen steht, obgleich sich meine Freunde mir entfremden, obgleich meine Habseligkeiten zerstreut werden. Du bist der erste unter zehn tausend, und ganz und gar der Liebe wert.“ Das ist der natürliche Ausdruck der Liebe, wenn sie in ihrem Höhepunkt steht. Nichts auf Erden gibt es, was Du dem vergleichen könntest, das Du liebst, dem Du die ganze Begeisterung und die volle Kraft der Seele widmest. Und wenn die Liebe himmlisch und heilig ist, und sich an die Majestät und Wohlgestalt und unendliche Herrlichkeit Gottes hält, so wird sie über Alles hinweggetragen werden, und Gott vor Allem huldigen, und dann werden alle anderen Pflichten in milder durchsichtiger Schönheit, in ihrer Reihenfolge und Größe an den rechten Platz treten. Gott helfe Euch, dass Ihr Euch dafür entscheidet.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/b/beecher/beecher-gott_vor_allem.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain