Baur, Gustav Adolph - Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr

Baur, Gustav Adolph - Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr

Am 4. Sonntag nach Trinitatis.

Wir sind Gottes Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, zu welchen Gott uns zuvor bereitet hat, daß wir darinnen wandeln. Denn er erlösete uns von aller Ungerechtigkeit und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigenthum, das fleißig wäre zu guten Werken (Eph. 2, 10. 21. 2, 14). - Amen.

Die evangelischen Abschnitte, welche wir seit dem heiligen Pfingstfeste in diesen Stunden der Andacht mit einander betrachtet haben, drehen sich im wesentlichen alle um denselben Hauptgegenstand. Daß wir heraustreten sollen aus dem Dienste des vergänglichen Wesens und im Glauben an Christum eintreten in den Dienst Gottes und des ewigen Lebens, das ist der gemeinsame Ruf, welchen sie alle an uns richten. Das Gleichniß vom reichen Manne hält uns die Vergänglichkeit der irdischen Güter vor und das Verderben, welchem die ihrem Dienste verfallene Seele entgegengeht. Das Gleichniß vom großen Abendmahl fordert uns auf, durch jene vergänglichen Güter uns nicht abhalten zu lassen, der freundlichen Einladung unseres Gottes zum Genusse der unvergänglichen Schätze zu folgen, welche seine Gnade uns bereitet hat.

Und diese Aufforderung wird durch die beiden Gleichnisse vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen, welche wir heute vor acht Tagen betrachtet haben, noch verstärkt, indem sie uns zeigen, wie freundlich der Erlöser uns fortwährend suchet, und so uns mahnen, uns auch finden zu lassen und in die unzertrennliche Gemeinschaft mit unserem guten Hirten einzugehn. Alle diese Lehren und Ermahnungen aber sollen schließlich dahin führen, daß an uns selbst das Wort des Herrn sich bewähre, welches gleich das Evangelium am Trinitatissonntage uns zu Gemüthe geführt hat, daß nur, wer wiedergeboren wird zum neuen Leben, der Seligkeit des Himmelreiches theilhaftig werden kann. Wie unsere christlichen Hauptfeste die großen Thaten uns verkündigt haben, welche Gottes Gnade für uns gethan hat; so predigen uns also alle diese evangelischen Abschnitte, welche wir seither betrachtet haben, die eine, große That des menschlichen Herzens, welche geschehen muß, wenn diese Gnade an uns nicht vergeblich sein soll, daß wir nämlich in aufrichtiger und gründlicher Buße dem Leben der Sünde entsagen, in lebendigem Glauben die Gnade Gottes ergreifen und so zu dem neuen Leben der Gotteskindschaft und rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit wiedergeboren, werden. - Wer sich nun aber beklagen wollte, daß es doch ermüdend sei, immer und immer wieder dasselbe zu hören, und daß eine solche Einförmigkeit auch nicht praktisch sein könne, da das praktische Leben in so gar mannichfaltige Verhältnisse uns führe, in welchen allen unsre christliche Gesinnung sich bewähren soll: nun, meine geliebten Freunde, dem würden wir doch erwidern können, daß jene Einförmigkeit in der Natur der Sache liege. Denn in der That ist der wesentliche Inhalt des Evangeliums ein sehr einfacher. Er läßt sich zusammenfassen in die Wahrheit, daß wir nicht anders von dem Verderben der Sünde erlöst werden und zum Heil und wahren Leben gelangen können, als durch den Glauben an den, welchen uns Gott zur Erlösung und zur Versöhnung gemacht hat. Und weiter würden wir erwidern können, daß diese einfache Wahrheit doch zugleich die allerpraktischste Wahrheit ist. Denn wer nur erst durch den lebendigen Glauben zum neuen Leben des kindlichen Gehorsams gegen Gott und der Gemeinschaft mit ihm wiedergeboren ist, bei dem kann es gar nicht fehlen, daß er überall das Richtige zu thun weiß, und daß die Kraft dieses neuen Lebens in den mannichfaltigsten Verhältnissen sich sicher bewährt. Aber dennoch, meine Lieben, zeigt sich auch hier die Freundlichkeit unseres himmlischen Vaters, womit er gerne den Bedürfnissen seiner Kinder entgegenkommt und in seinem Worte auf alle für unser Seelenheil wichtigen Fragen uns deutliche Antwort gibt. In dem Worte Christi und seiner Apostel finden sich neben den immer wiederkehrenden großen Grundgedanken des Evangeliums auch die eingehendsten Anweisungen über die Art und Weise, wie dieselben in den mannigfaltigen Verhältnissen des menschlichen Lebens sich wirksam erweisen sollen. Das werden wir auch heute mit Gottes Hülfe gründlich erfahren. Denn nachdem an den bisherigen Sonntagen das Wort unseres Herrn uns von verschiedenen Seiten immer wieder auf jene Grundgedanken zurückgeführt hat, läßt er in den Worten unseres heutigen Textes ihr Licht hinausstrahlen in das wirkliche Leben und gibt uns die Regel an, nach welcher in diesem der Glaube in werkthätiger Liebe sich bewähren soll. Möge er denn jetzt bei uns sein mit seinem Geist, damit sein heiliges Wort in unser aller Leben sich fruchtbar erweise!

Jesu, treuster Freund, vereine Deine dir geweihte Schaar,
Daß sie's so von Herzen meine,
Wie's dein letzter Wille war.
Jeder reize stets den Andern,
Helfe gern mit Rath und That,
Dir, o Heiland, nachzuwandern
Auf der Liebe sel'gem Pfad.

Text: Luc. 6, 31-42.
Und wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen: also thut ihnen gleich auch ihr. Und so ihr liebet, die euch lieben; was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder lieben auch ihre Liebhaber. Und wenn ihr euren Wohlthätern wohl thut; was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder thun dasselbige auch. Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen; was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wieder nehmen. Doch aber liebet eure Feinde; thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet: so wird euer Lohn groß sein, und werdet Kinder des Allerhöchsten sein. Denn Er ist gütig über die Undankbaren und Boshaftigen. Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maaß wird man in euren Schooß geben; denn eben mit dem Maaß, da ihr mit messet, wird man euch wieder messen. Und er sagte ihnen ein Gleichniß: Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger ist nicht über seinen Meister, wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. Was siehest du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: „Halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen;“ und du siehest selbst nicht den Balken in deinem Auge. Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge! und besiehe dann, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.

Den ganzen Reichthum dieses Textes in Einer Predigt auch nur einigermaßen darzulegen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ein jeder von seinen zwölf Versen würde reichlichen Stoff für eine ganze Predigt darbieten. Im Ganzen aber zerfällt er deutlich in zwei Haupttheile. Der erste beginnt mit dem Worte: „Wir ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr;“ der zweite mit dem Worte: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet!“ Jenes Wort sagt uns, was wir im Verhältnisse zu unserem Nächsten thun, dieses, was wir lassen sollen. Als ich vor vier Jahren zum erstenmale über diesen Text predigte, da habe ich mich an dieses letzte Wort gehalten, an die Warnung unseres Herrn: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.“ Laßt mich denn, meine liebe Gemeinde, heute eure andächtige Aufmerksamkeit auf jenes erste Wort hinlenken, auf die Mahnung unseres Herrn: „Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr.“ Im Einzelnen aber werden wir uns zu überzeugen haben erstens, daß wir diese Regel nicht im Sinne unserer Selbstsucht mißbrauchen dürfen, zweitens, daß sie vielmehr die uneigennützigste Liebe von uns fordert, und drittens, daß gerade, wenn wir sie, fern von aller Lohnsucht, befolgen, der herrlichste Lohn uns gewiß ist.

l.

Es stehen, meine geliebten Freunde, in unserem Texte mehrere Aussprüche, welche dem natürlichen Menschen als eine harte Rede erscheinen müssen und gegen welche sein selbstsüchtiges Gemüth sich sträubt. So die Forderung des Herrn, daß wir auch geben und leihen sollen, wo wir nichts dafür hoffen, und vor Allem das Gebot, daß wir auch unsere Feinde lieben sollen. Anders aber ist es mit der Regel: „Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr.“ Diesem Ausspruche beizustimmen, ist auch das Herz des natürlichen Menschen geneigt, wie er denn im Volksmund zu den geläufigen Sprüchwörtern umgestaltet worden ist: „Was dem Einen recht ist, das ist dem andern billig“, und: „Was du nicht willst, daß man dir thu, das füg' auch keinem Andern zu.“ Aber eben dieser Umstand, daß auch Solche, welche von der bekehrenden und heiligenden Kraft des Geistes Christi noch nichts an ihrem Herzen erfahren haben, jener Regel zufallen, muß uns doch behutsam machen. Er muß uns auf den Gedanken bringen, daß sie von Solchen am Ende in einem Sinne gebraucht werde, welcher von dem Sinne des Erlösers selbst weit entfernt ist. Er muß uns vor allen Dingen die Warnung an das Herz legen, daß wir diese Regel nicht im Sinne unserer eignen Selbstsucht mißbrauchen. -

Allerdings führen uns die Worte des Herrn, auch wenn sie nur oberflächlich aufgefaßt werden, über den Standpunkt jener äußerlichen Wiedervergeltung hinaus, welche die harte Strenge des alttestamentlichem Gesetzes fordert in den Worten (2. Mos. 21, 24): „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ An der Stelle des Gesetzes dieser äußerlichen Gerechtigkeit, welche, folgerecht durchgeführt, zur ungerechtesten Härte ausarten müßte, setzen die Worte des Herrn das Gesetz der Billigkeit, welche auch einmal mehr leistet, als wozu wir rechtlich verpflichtet sind, und weniger fordert, als wir rechtlich verlangen können, weil wir von unserem Nächsten gleicher Bereitwilligkeit und Nachsicht uns versehen. Und eben damit hebt uns jene Regel auch aus der rohen Selbstsucht heraus, in welcher der Mensch nur auf den eignen Nutzen und auf das eigne Behagen sieht und um Andere sich gar nicht bekümmert, sondern denkt: Mögen sie mich in Ruhe lassen mit ihren Ansprüchen; ich verlange ja auch nichts von ihnen. Die Worte des Herrn erinnern doch auch einen Menschen von solcher äußerlichen und selbstsüchtigen Gesinnung daran, daß, wenn auch heute unser Glücksstand von der Art ist, daß wir der Hülfe Andern vollständig glauben entbehren zu können, dieses doch morgen schon anders sein kann; daß überhaupt in dem menschlichen Leben Einer auf den Andern angewiesen ist; daß wir darum schon um unseres eigenen Wohlseins willen auch die gerechten Ansprüche anderer ans Wohlsein zu achten und ihre Erfüllung zu fördern haben; und daß ohne eine solche Gegenseitigkeit der Rücksichten und Leistungen die menschliche Gesellschaft gar nicht würde bestehen können, sondern in einem Kampfe Aller gegen Alle untergehen müßte. -

Aber, meine geliebten Freunde, wenn wir nun auch auf solche Weise die gröbste und roheste Selbstsucht verlassen; so halten wir darum doch gar häufig eine feinere Selbstsucht noch fest. Ja ich darf sagen: es ist oft nur diese feinere Selbstsucht, was uns treibt, die übertriebenen und plumpen Ansprüche der groben Selbstsucht aufzugeben. Diese feinere Selbstsucht ist klug genug, um einzusehen, daß wir mit solchen Ansprüchen nicht durchkommen, daß wir durch sie die Andern nur veranlassen würden, ihre eignen Ansprüche an uns zu steigern, in der. Erfüllung unserer Ansprüche an sie dagegen lässig zu werden. Und so geben wir diese Ansprüche am Ende doch nur aus Selbstsucht auf, um, wenn wir denn nicht Alles, was wir gerne möchten, erreichen können, doch ein möglichst großes Maß von Befriedigung unserer selbstsüchtigen Gelüste uns zu sichern. Und diese feinere Selbstsucht verleitet uns denn auch, die Regel, daß, wie wir wollen, daß uns die Leute thun, also auch wir ihnen thun sollen, auf eine Weise zu mißbrauchen, welche dem Sinne desjenigen, welcher sie uns gegeben hat, geradezu widerspricht. Wir üben Nachsicht mit den Schwächen und Sünden Anderer und machen Uns ein Geschäft daraus, diese Nachsicht Allen zu predigen. Aber es geschieht nicht im Geiste desjenigen, welcher allerdings nicht gekommen ist, daß er die Welt richte, wohl aber, daß die Welt durch ihn selig werde; denn sonst gienge unsere Nachsicht von der heiligen Liebe aus. welche sich zwar hütet, den gefallenen Bruder zu verdammen, zugleich aber darnach trachtet, wie uns selbst, so auch ihn emporzuheben und aus dem Verderben der Sünde hineinzureiten in das neue Leben des Glaubens und des Gehorsams gegen den heiligen Willen Gottes. Statt dessen lassen wir vielmehr Andere gewähren, damit sie auch uns in unseren Schwächen und Sünden und selbstsüchtigen Gelüsten gewähren lassen, und thun so das Unsere, um die Gemeinde des Herrn, die heilig und unsträflich und deren Wandel im Himmel sein soll, in eine gegenseitige Versicherungsgesellschaft auf ungestörtes Eichgehenlassen und Beharren in einem nichtigen, äußerlichen und sündigen Weltleben zu verwandeln. Oder wir zeigen uns Andern zur Hülfe bereit. Aber es geschieht nicht im Geiste desjenigen, welcher sein Leben gelassen hat für seine Freunde, sondern mit der klugen Berechnung, daß auch wir in den Fall kommen können, ihrer Hülfe zu bedürfen, ja es geschieht in der Aussicht, daß das Opfer, welches wir gebracht haben, uns größere Vortheile einbringen werde; und diese schnöde Lohnsucht nimmt unserer Unterstützung jeden wahren Werth. Es bedarf wohl keines Beweises, meine geliebten Freunde, daß eine solche Anwendung der Regel unseres Herrn, daß wir Anderen thun sollen, wie wir wollen, daß sie uns thun, nichts Anderes ist, als ein gefährlicher und strafbarer Mißbrauch seines heiligen Wortes.

2.

Der Herr selbst hat denn auch nicht unterlassen, seinen Ausspruch mit mancherlei Warnungszeichen zu umstellen, um uns vor dem Mißbrauch desselben zu behüten, und um uns zu zeigen, daß jene Regel uns vielmehr zur uneigennützigsten Liebe auffordern soll. -

Der Ausspruch Christi, welcher jetzt unsere Andacht beschäftigt, kehrt fast mit denselben Worten in der Bergpredigt des Herrn wieder, wie diese im Evangelium des Matthäus verzeichnet ist. Dort heißt es nämlich (7, 12): „Alles, das ihr wollet, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen; das ist das Gesetz und die Propheten.“ Dieser Zusatz nun, welcher in unserem heutigen Texte fehlt: „Das ist das Gesetz und die Propheten“, erinnert uns an einen anderen Ausspruch des Herrn, in welchem er gleichfalls vorkommt, an die Antwort nämlich, welche er jenem Pharisäer auf seine Frage gab, welches das vornehmste Gebot im Gesetze sei. Damals sprach Jesus (Matth. 22, 37-40): „Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe. Das ist das vornehmste und größeste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst. In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ Wenn nun hier Jesus sagt, daß von dem einen Gebote der Liebe Alles zusammengefaßt werde, was Gesetz und Propheten vorschreiben und lehren, und wenn er in seiner Bergpredigt dasselbe sagt von der Regel, daß, was wir wollen, daß uns die Leute thun, wir auch ihnen thun sollen: so geht ja daraus offenbar hervor, meine Lieben, daß er mit dieser Vorschrift nicht eine Regel selbstsüchtiger Klugheit, oder auch einer nur äußerlichen Billigkeit geben will, sondern nichts anderes, als eine Anweisung zur Erfüllung des Gebotes wahrer, rechtschaffener Liebe. Zum Wesen der wahren Liebe gehört es aber, daß sie uneigennützig ist, und ihre innerste Natur kann nicht bündiger und treffender bezeichnet werden, als mit dem Worte des Apostels Paulus (l. Kor. 13, 5): „Die Liebe suchet nicht das Ihre.“ Und diese Uneigennützigkeit fordert denn auch der Herr, wenn er in unserem Texte an jene Regel sofort die Worte anknüpft: „Denn so ihr liebet, die euch lieben, was Danks habt ihr davon?“ Aber wie kommen wir nun zu solcher uneigennützigen Liebe? Denn das müssen wir uns ja gestehen: aus eigner Kraft vermögen wir nicht die böse Selbstsucht unseres Herzens zu überwinden und ihre bösen Früchte, den Haß und Neid, die Mißgunst und Schadenfreude, auszutilgen. Das Heidenthum hat nichts gewußt und weiß noch nichts von solcher uneigennützigen, demüthigen, selbstverläugnenden Liebe, und selbst das Volk des alten Bundes hat aus dem ihm geoffenbarten Gesetze nur das Gebot herausgelesen (Matth. 5. 43): „Du sollst deinen Nächsten lieben, und deinen Feind hassen.“ Also noch einmal, Geliebte, wie kommen wir zu dieser uneigennützigen Liebe? Die Antwort auf diese Frage deutet Christus in unserem Texte uns an in den Warten: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Ja, das ist es! Wir müssen erst im Wandel an den Sohn im innersten Grunde unseres beseligten Herzens deß gewiß geworden sein, daß wir einen barmherzigen Vater im Himmel haben; dann thut sich das Herz, das sich so hoch begnadigt weiß, dem Walten der heiligen, uneigennützigen Liebe auf. Dann lernen wir verstehen und erfüllen das Wort des Apostels der Liebe (1. Joh. 14, 16): „Ihr Lieben, hat uns Gott also geliebet, so sollen wir uns auch unter einander lieben“, und das Wort des Erlösers selbst (Joh. 13, 34 ff.): „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet. Dabei wird Jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habet.“ Dann ist der Grund gefunden, auf welchem eine mißbräuchliche Anwendung der Vorschrift: „Was ihr wollt, daß euch die Leute thun, das thut ihr ihnen auch,“ nicht mehr möglich ist. -

Denn eine Liebe, welche die Liebe, womit der barmherzige Gott uns zuerst geliebt hat, sich zum Vorbilde genommen hat, die kann auch keinem andern Zweck dienen wollen, als dem, welcher durch die Liebe Gottes gegen uns und durch ihren höchsten Beweis, die Sendung seines eingeborenen Sohnes, erreicht werden soll. Und dieser Zweck liegt darin, daß wir von dem Verderben der Sünde erlöst werden und in der Gemeinschaft mit Gott unser Heil und wahres Leben finden sollen. Diesem höchsten Zweck muß ein Jeder dienen, dessen Herz von der Liebe Gottes lebendig ergriffen ist. Er verlangt von Andern nicht Nachsicht, damit er in seiner Schwachheit und Sünde ungestört beharren könne, vielmehr ist sein vornehmstes Trachten darauf gerichtet, daß er selbst in der Heiligung wachse, und sein herzlichstes Verlangen in seinem Verhältnisse zu Andern ist, daß er auch von ihnen, im geselligen Umgange und in der Arbeit des Berufes, in diesem Trachten nicht gehindert, sondern gefördert werde. Und diese Förderung auch ihnen wiederum zu Theil werden zu lassen, das ist die eigentliche Aufgabe der wahren Liebe gegen den Nächsten. Die Gaben der Liebe, welche wir ihnen darreichen, die Hülfe, welche wir ihnen leisten, die brüderliche Nachsicht, welche wir gegen sie üben, die liebevolle Ermahnung, Warnung und Rüge, welche wir gegen sie aussprechen, das Alles muß dem letzten Zwecke dienen, sie in der Erfüllung des von Gott ihnen angewiesenen Berufes zu fördern, damit die zerstreuten und abgestorbenen Glieder der Menschheit je mehr und mehr gesammelt werden zu einem lebendigen Leibe, welcher durchdrungen und geweiht ist vom heiligen Geiste des lebendigen Gottes. Und eine Liebe, welche sich also bethätiget, die sieht auch nicht auf äußerlichen Lohn. Sie ist ja bei der Liebe des barmherzigen Vaters im Himmel in die Schule gegangen, der da gibt einfältiglich Jedermann und rücket es Niemand auf (Jac. l, 3), und es ist ihr Lohns genug, daß nur das Reich Gottes wachse und eine Seele mehr unter die Zahl seiner Bürger aufgenommen werde. -

Ja wenn sie auch bei ihrem treuen Wirken auf feindseligen Widerstand stößt, so läßt sie sich dadurch in ihrem Eifer nicht irre machen und erkälten. Denn wenn wir erst lebendig verstanden und erfahren haben, was das heißt, daß Gott uns geliebt hat, da wir noch seine Feinde waren, und daß sein eingeborener Sohn für seine Feinde am Kreuze gestorben ist; so ist auch unserem Herzen sein Gebot: Liebet eure Feinde!„ keine harte Rede mehr. Und was ist es denn auch im Grunde mit der Feindschaft, über welche wir uns glauben beklagen zu müssen? Es steht, genauer besehen, damit wahrlich so schlimm nicht, als es bei oberflächlicher Betrachtung wohl scheinen mag. Und ich bin gewiß, meine geliebten Freunde: wenn wir alle, die wir hier versammelt sind, uns einmal daran gäben, unsere wirklichen Feinde zusammenzuzählen, wir würden nur eine sehr kleine Anzahl zusammenbringen. Es gibt ja freilich in einer jeden größeren, bürgerlichen wie kirchlichen Gemeinschaft, verschiedene Meinungen und Richtungen. Aber wenn nur die Andersdenkenden die ewige Wahrheit und das wahre Leben in Gott ernstlich suchen, so laßt uns doch mit dem Namen „Feinde“ nicht zu freigebig sein, damit wir nicht dadurch erst selbst die verschiedenen Meinungen und Richtungen zu feindseligen Parteien machen und eine unübersteigliche Kluft zwischen ihnen befestigen. Laßt uns vielmehr den anders denkenden Brüdern zugestehen, was wir auch uns von ihnen zugestanden wissen wollen, daß sie eine ehrliche Ueberzeugung vertreten, und laßt uns versuchen, ob es uns nicht gelingt, sie vom Irrthum ihres Weges zu bekehren, oder zum Vortheil des Ganzen eine brüderliche Verständigung herbeizuführen. Und wenn wir leider auch das nicht läugnen können, daß gar manche, in den Dienst des vergänglichen Wesens versunken, der Wahrheit des Evangeliums selbst und der ernst mahnenden Stimme des lebendigen Gottes in ihrem Gewissen einen feindseligen Widerstand entgegensetzen: nun, Geliebte, so wissen wir ja, daß auch wir nicht durch unser Verdienst, sondern durch Gottes Gnade von solchem Verderben erlöst worden sind, und das mag uns antreiben, den verdammenden Urteilsspruch zurückzuhalten und lieber bei dem Kreuze auf Golgatha uns mit der heiligen Kraft selbst verläugnender und bis in den Tod ausharrender Liebe auszurüsten, welche als das sicherste Mittel, das Böse durch das Gute zu überwinden, so herrlich sich bewährt hat. So wird im Geiste des Herrn sein Wort erfüllt: „Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr“ und die verheißungsvolle Mahnung seines Apostels: „Lasset uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an den, der das Haupt ist, Christus. Aus welchem der ganze Leib zusammengefüget und ein Glied an dem andern hängt durch alle Gelenke, dadurch ein Glied dem andern Handreichung thut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seiner Maße und machet, daß der Leib wächset zu seiner selbst Besserung, und das Alles in der Liebe.“

3.

Ich habe zum Schlusse noch von dem Lohn der Liebe zu reden, welche, was sie von andern verlangt, auch diesen gerne zu leisten bereit ist. Und ich werde mich in dieser Beziehung kurz fassen können; denn das gehört ja zum Wesen der wahren Liebe, daß sie keinen Lohn sucht. Das sagt uns auch der Herr ausdrücklich in unserem Texte: „So ihr liebet, so spricht er, die euch lieben, was Dankes habt ihr davon? Denn die Sünder lieben auch ihre Liebhaber. Und wenn ihr euren Wohlthätern wohlthuet, was Dankes habt ihr davon? Denn die Sünder thun dasselbige auch. Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen, was Dankes habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wieder nehmen.“ Dann aber fährt der Heiland fort: „Doch aber liebet eure Feinde, thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet; so wird euer Lohn groß sein und werdet Kinder des Allerhöchsten sein.“ Die wahre Liebe also soll keinen Lohn suchen, aber sie soll doch ihren Lohn finden. Von ihr gilt das Wort, daß gerade der findet, welcher nicht sucht. Gerade dann, wenn wir, frei von aller Lohnsucht, ihr Gebot befolgen, soll uns der herrlichste Lohn gewiß sein. Und herrlich muß ja gewiß der Lohn solcher uneigennützigen und selbstverläugnenden Liebe sein; denn er besteht, wie der Herr uns verheißt, darin, daß wir dann Kinder des Allerhöchsten sein sollen. Der Allerhöchste ist gütig auch gegen die Undankbaren und Boshaften. Und wer bei ihm die Liebe lernt, welche auf keinen Dank rechnet und keinen Lohn sucht und durch keinen Widerstand der Friede sich irre machen und ermüden läßt; der tritt in die Gemeinschaft ein mit unserm Vater im Himmel. Je mehr er sein Herz von aller Selbstsucht reinigt, desto fester und inniger wird die Verbindung, welche das Kind mit dem Vater verknüpft. Je mehr er auf allen äußern Lohn verzichten lernt, desto reichlicher wird ihm in dem Bewußtsein dieser seligen Gemeinschaft ein Lohn zu Theil, welcher Alles, was Menschen ihm geben können, weit übertrifft. Unter allen Entbehrungen und einzelnen Täuschungen begleitet ihn das Bewußtsein, daß er in ihr ein Gut besitzt, welches kein Mensch der Welt ihm entreißen kann. Bei allem Widerstande, den er findet, getröstet er sich der allmächtigen Hülfe, welche das angefangene gute Werk nicht untergehen lassen, sondern es seiner Vollendung sicher entgegenführen wird. Und durch alle Bedrängnisse und Stürme dieser Zeit leuchtet ihm aus der seligen Ewigkeit das Ziel entgegen, welches Niemand ihm verrücken kann; denn wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. Meine liebe Gemeinde! - Ach, Geliebte, es ist mir immer, als ob ich von der Kanzel nicht herabsteigen dürfte, ohne meine theuren Zuhörer noch einmal zusammengefaßt zu haben unter dem Namen meiner lieben Gemeinde; als ob ich dadurch in uns allen das Bewußtsein beleben und kräftigen müßte, daß wir zusammengehören als Glieder Eines Leibes, daran Jesus Christus das Haupt ist; daß wir darum einander unterstützen, halten und tragen müssen, damit der ganze Leib je mehr und mehr wachse zu seiner selbst Besserung und Christus in seiner Gemeinde je mehr und mehr eine Gestalt gewinne. Möge insbesondere heute dazu uns eine kräftige und fruchtbare Mahnung werden das im Geiste unseres Herrn und Meisters wohlverstandene Wort: „Wie ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, also thut ihnen gleich auch ihr.“ - Amen.

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